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- 04.08.2001
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Gefangen im Wunderland
Ich habe diese leeren Blätter hier gefunden und an mich genommen. Ich habe Gerd gefragt und er hat mir einen Stift gegeben. Dann hat er mir die Wange getätschelt und mir erlaubt, das Papier zu behalten.
Also werde ich von jetzt an so oft es geht hier in dieser Kammer sitzen und an meinem Tagebuch schreiben. Ich freue mich, denn jetzt habe ich endlich jemanden zum Reden.
Mit Vater kann ich nicht reden, er hat sich sehr verändert in den letzten Monaten. Und seitdem wir hier sind, ist er noch mürrischer geworden.
Mit Gerd mag ich nicht reden, er nennt mich immer Schätzchen und wenn er die Gelegenheit dazu hat, dann tatscht er mich an. Er ist eklig, aber wir sind nun einmal in seiner Wohnung. Als ich Vater davon erzählte, meinte er nur: „Stell dich nicht so an, er meint es nicht so!“
Aber ich weiß, dass er es sehr wohl so meint. Er steht auf kleine Mädchen und ich bin mir nicht sicher, was ihn unterscheidet von denen da draußen.
Zu Anfang, als wir uns noch fremd waren, da war ich mir wirklich nicht sicher, wegen seines Verhaltens. Er ist so fett und hat so sehr mir sich selbst zu tun, dass ich ihm diese Gedanken nicht zutraute. Ich zweifelte wirklich nicht an seinen Motiven. Immerhin hat er uns aufgenommen in höchster Not, er teilt seine Vorräte mit uns und wenn nicht bald Rettung eintrifft, dann sind diese Vorräte aufgebraucht und er stirbt zusammen mit uns.
Ich ließ beim Staubwischen achtlos den Lappen zu Boden fallen, als ich ihn in der Nähe wusste. Ich tat dies vor der Schrankwand mit Glasteil.
Vater hat keine Schwierigkeiten mit der Kleidung, er trägt Sachen von Gerd. Das sieht zwar albern aus, aber er hat wenigstens etwas, um seine Sachen zu wechseln. Kindersachen gibt es in diesem Haushalt nicht, ich muss mich mit Notbehelfen zufrieden geben, wenn meine in der Wäsche sind.
Und so stand ich mit einem Laken um den Oberkörper geschlungen und einem Handtuch um die Hüften und bückte mich, um das Tuch vom Boden aufzuheben. Ich sah Gerds feistes Gesicht im Glas und ich sah, welchen Ausdruck es annahm, als ich mich bückte. Ich schaffte es eben, mich aufzurichten, als Gerd schon wie zufällig neben mir stand.
Wenn wir nicht von ihm abhängig wären, hätte ich ihn geohrfeigt.
Die Stadt ist so leer. Die Straßen sind verwaist, bis auf diese...Dinger, die umherlaufen. Gerd sagt, sie sind eine Strafe Gottes, aber Vater scheint sich nur über sie zu amüsieren. Was ist nur aus meiner Stadt geworden.
Mein Name ist Alice. Ich heiße so nach dem Mädchen im Wunderland. Den Namen hat Mama ausgesucht. Sie hat es mir erzählt, Mama...
In den letzten Tagen fühle ich mich wie im Wunderland, doch es ist ein perverses, höllisches Wunderland.
Mama ist wahrscheinlich tot, oder schlimmer noch, sie ist zu einem von diesen Bestien geworden. Ebenso Diana, meine kleine Schwester. Ich werde beide wahrscheinlich nie wieder sehen, aber ich weine nicht mehr so oft, nur noch nachts, ganz leise. Wenn Gerd mich hört, will er mich trösten.
Vater macht es nichts aus; ich glaube, ihm macht gar nichts mehr aus. Die beiden Männer unterhalten sich viel, aber ich habe den Eindruck, dass Vater vollkommen egal ist, warum sich die Menschen verändern. Es interessiert ihn nicht und es ist ihm auch gleich, dass dieses ganze Unglück über uns gekommen ist. Er ist gleichgültig geworden seit Mama sich von ihm getrennt hat.
Wenn ich überlege, dass einzig und allein der Wochentag Schuld ist, dass ich noch lebe; ein zweiwöchentliches Ritual hat mir das Leben gerettet. Und mich getrennt von denen, die ich liebe.
*
Siebzehn Uhr, die Türklingel. Ein Blick von Mama: „Kind.“ Sie nennt mich Kind, obgleich ich fast vierzehn bin. Diana hat einen Schulausflug, sonst sind wir beide bereit. An der Tür – Vater, schweigend, den Blick nach unten auf die Erde gerichtet.
So oft habe ich mir vorgenommen, es sei das letzte Mal. Das nächste Mal würde ich nicht mitgehen zu seinem Ausflug, zu seiner Alibitour. Nur dieses eine Mal; dieses Mal noch. Und dann sag ich’s ihm.
Eine flüchtige Umarmung von Mama, sie beachtet Vater nicht. Ganz kurz sehe ich, wie er aufblickt und Mama anschaut, etwas Seltsames in den Augen. Doch sofort wendet er den Blick wieder ab. Wir gehen hinunter. Unten die Frage. Der Moment, vor dem ich mich fürchte, den ich hasse, der immer wieder kehrt. Er merkt nicht, wie mich diese Frage aufregt: „Was wollen wir tun?“
Wir werden – wie immer – Eis essen gehen, weil er denkt, dass das so sein muss. Man erwartet das!
Also gehen wir in das Café, unser Stammcafé sozusagen. Ich nutze wie immer die Gelegenheit und bestelle das größte und teuerste Eis, das sie hier im Angebot haben. Normalerweise macht Diana es mir nach, doch sie fehlt heute.
Wir essen beide unser Eis und schweigen. Der Tag ist schön und da dies hier das einzige Eiscafé in unserem Städtchen ist, herrscht reger Betrieb und der Kellner, der riesige Schweißflecken unter den Achseln hat, kommt kaum hinterher mit den Bestellungen.
Ich schließe die Augen und recke die Nase in den Sommerwind. Dabei bemerke ich einen leichten
Schwefelgeruch, der mich unruhig macht.
Vater zahlt, dabei lässt er sich das Wechselgeld bis auf den letzten Cent zurückgeben. Der arme Kellner tut mir Leid.
Wir stehen auf und machen Platz für die nächsten Gäste. Wir schlendern ohne Ziel durch die Straßen, Vater stellt mir dann und wann einsilbige Fragen und er merkt nicht, wie die Menschen auf den Bürgersteigen immer weniger werden.
Bis wir plötzlich ganz allein sind, in einer Straße mit niedrigen, grauen Reihenhäusern. Kein Auto hier, keine Menschen.
Doch dann, halt! Ein Mann kommt uns entgegengelaufen. Trotz des Wetters hat er einen Mantel an und einen Hut auf dem Kopf. Er hastet auf uns zu, sein feistes Gesicht ist puterrot.
Als wir uns fast gegenüberstehen, lupft er artig seinen Hut und sagt atemlos: „Kommen Sie mit in meine Wohnung, um Gottes Willen! Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, kommen Sie!“
Und schon zerrt er einen Schlüsselbund hervor und öffnet die Haustüre zu unserer Linken. Als er drinnen steht, ruft er noch einmal: „Nun machen Sie schon, es ist losgegangen.“
*
Den meisten Teil des Tages verbringe ich vor dem Fernseher. Was sonst soll ich auch machen? Wir können nicht nach draußen, das wäre unser Ende. Wir sitzen nun schon fast eine Woche hier fest. Eine Woche Hölle in der Stadt, doch nichts davon im Fernsehen. Keine Meldung darüber, keine Sondersendungen, kein Brennpunkt.
Vater und Gerd hatten zu Anfang den Fernseher in Beschlag genommen; sie saßen davor und zappten von einem Nachrichtenkanal zum anderen, doch nirgends wurde unsere kleine Stadt erwähnt. Sie müssen einfach noch nicht bemerkt haben, was hier vor sich gegangen ist.
Auch im Radio keine Meldung, es ist, als wäre alles normal. In den Medien hat es den Anschein, als gehe alles seinen Gang, als gingen die Leute tagsüber einkaufen und abends aus. Sie gehen aber nicht einkaufen, sie rennen ziellos umher.
Vater macht sich Vorwürfe, dass er sein Handy zu Haus hat liegen lassen. Er ging schon immer sorglos damit um. Gerd hat noch nie eines besessen. Ich habe Mama vor einigen Monaten gefragt, ob sie mir gestatte, ein Funktelefon zu kaufen, doch sie war strikt dagegen. Kein Bedarf, meinte sie nur knapp, und viel zu teuer.
Gerd hat einen Festnetzanschluss, doch das Telefon ist tot. Gleich nachdem es losging blieb die Leitung stumm und wir waren abgeschnitten von der Außenwelt.
*
Wir schlüpfen in den dunklen, muffigen Hausflur. Vater schiebt mich hinein, folgt mir nach und schließt die Tür.
Der Dicke hängt seinen Mantel und den Hut an einen Garderobenhaken und scheint dabei fast fröhlich. Vater und ich, wir beide stehen ein wenig hilflos im Halbdunkel, bis der Fremde eine Tür öffnet und uns mit einer freundlichen Geste auffordert, einzutreten.
Es ist ein kleines, schäbiges Wohnzimmer. Ein Sofa vor einer Wand mit vergilbten Tapeten, gegenüber ein alter Fernseher, in der Mitte ein Tisch mit zwei abgewetzten Sesseln darum und schließlich vor dem Fenster schwere graue Gardinen.
Der Dicke schiebt den Vorhang beiseite und was wir draußen auf der Straße, auf der wir uns eben noch befanden, sehen, ist so schockierend, dass selbst Vater eine Regung erkennen lässt. Scharf zieht er die Luft ein.
Die Menschen, die das Areal vor dem Haus bevölkern, sind wohl Menschen, doch verhalten sie sich seltsam. Sie laufen ziellos hin und her, durcheinander, ohne Sinn und Verstand, solange, bis sie auf ein Hindernis stoßen. Es ist ein Gewusel wie im Ameisenhaufen.
Wir sind unfähig den Blick abzuwenden. Vater fragt tonlos: „Was ist das, zum Teufel?“ und erhält keine Antwort.
Offensichtlich sind diese Menschen dort draußen zu etwas mutiert, was sie von uns vollkommen unterscheidet. Aber wie...? Eben noch saßen wir im Café und alles schien normal.
Der Besitzer der Wohnung scheint amüsiert. „Achtung!“, meint er und lacht leise vor sich hin. „Das ist noch nicht alles.“
Ein Mensch kommt plötzlich aus einer Seitenstraße hervor. Ein Mensch, einem gehetzten Tier gleich. Panisch und mit großen Augen kommt er auf die Straße und mit einem Male haben die Bewegungen der menschlichen Monster eine Richtung – die Person, die sich so sehr von ihnen unterscheidet.
Die Monster, wie Puppen an Bändern, streben alle zu dem Mann, dessen Kleidung jetzt schon zerfetzt, dessen Körper schon blutig ist. Voll Schrecken versucht er umzukehren, zu fliehen in die Richtung, aus der er kam, doch dieser Weg wird ihm versperrt von einer Meute, ebenso hungrig und genauso zielstrebig wie diese hier.
Er macht noch einen Versuch, durch die Menge zu stürmen, doch derer sind zu viele, er hat keine Chance. Alle, alle streben zu diesem einen Punkt, sie bilden einen Pulk, eine undurchdringliche Mauer. Man kann nicht sehen, was die Monster mit ihm machen, doch ich meine ganz leise seine kläglichen Schreie zu hören.
Und dann, urplötzlich, ist alles vorbei. Die Kreaturen wenden sich ab von ihrem Opfer, setzen ihre planlosen Wanderungen fort und stolpern unbeholfen durch die Straße.
Und der Mann? Ich kann ihn sehen, er lebt! Doch sein Gang ist hölzern geworden, seine Bewegungen eckig. Er hat sich verändert, sie haben ihn zu einem der ihren gemacht.
*
So gut ich es kann koche ich für uns. Ich lerne dazu, und die Vorräte scheinen niemals auszugehen. Gerd hat uns erzählt, dass er in seinem Keller allerhand Konserven aufbewahrt, viele tiefgefrorenen Sachen und jede Menge anderer haltbarer Lebensmittel. Aber ich habe mitbekommen, wie er sich mit Vater in sorgenvollem Ton unterhielt, dass wir uns einschränken müssten, weil wir nicht wüssten, wie lange wir gezwungen seien hier drinnen zu bleiben. Wir müssen sparsam sein, doch bis jetzt habe ich nichts mitbekommen davon.
Der Fernseher läuft ununterbrochen, damit wir sofort mitbekommen, wenn es eine Meldung gibt über unsere Stadt.
Ich habe heute zum wiederholten Male gesehen, wie Gerd sich in den Raum am Ende des Flures stahl. Er sah sich um und meinte, niemand sähe ihn. Doch wenn ich vor dem Fernsehapparat sitze und die Tür geöffnet ist, dann kann ich im Glasteil der Schrankwand schemenhaft erkennen, was auf der Diele vor sich geht.
Gerd ist hier zu Haus, er wohnt schon lange hier. Eigentlich müsste er den Trick kennen.
Er ging hinein und machte sofort die Tür hinter sich zu. Nach zehn Minuten etwa kam er wieder heraus und schloss sie sorgfältig ab. Wie gesagt ist dies nicht das erste Mal, wie ich ihn dabei beobachtet habe. Ich habe sogar die Vermutung, dass er fast jeden Tag hinein geht.
Ich habe den ganzen Tag vor dem Fenster verbracht. Ich war traurig. Ich sah die Kreaturen an, die da auf der Straße ihre unermüdlichen Runden zogen, das Treiben, als sei Leben in der Menge.
Dann und wann sieht man Individuen, die sich zurückziehen in eine Ecke, die weniger belebt ist. Dort stehen sie dann, glotzen vor sich hin und bewegen sich nicht. Sie scheinen zu ruhen, vielleicht schlafen sie.
Doch wovon sie sich ernähren, das weiß ich nicht. Sie müssen doch essen, ihre Energiereserven müssen doch irgendwann erschöpft sein. Aber soweit wir hier es vom Fenster aus beobachten können, nehmen sie nichts zu sich. Vielleicht in anderen teilen der Stadt, es ist ein ständiges Kommen und Gehen hier. Doch ich habe noch keines dieser Dinger da draußen etwas anderes machen sehen als laufen. Sie rennen hin und her und stoßen gegeneinander und rennen weiter. Selbst in der Nacht. Man sollte meinen, sie wären harmlos.
Bisher zweimal haben wir es beobachten können, dass zwei Menschen – zwei gesunde Menschen – hier vorbeikamen. Das erste Mal ganz zu Anfang und der zweite arme Teufel verirrte sich am Tag darauf hierher. Sofort war die Meute mit einer Zielstrebigkeit bei ihm, die an Alligatoren denken ließ. Sie umringten ihn, als wären sie Klassenkameraden auf dem Schulhof und nach kurzer Zeit ließen sie ab von ihm. Er war einer von ihnen geworden.
Heute wieder dasselbe Bild auf der Straße wie die vergangenen Tage. Ich saß am Fenster und weinte. Meine Tränen liefen und ich wischte sie nicht weg. Die armen Leute dort draußen! Was hatte sie so gemacht? Weshalb bestand ihr einziger Lebenszweck nur daraus, wie ein blinder Hyperaktiver kreuz und quer zu rennen und jeden gesunden Artgenossen in das zu verwandeln, das aus ihnen geworden war. Hier schienen wir sicher vor ihnen, doch wie lange?
Vater setzte sich neben mich und sah mit mir zusammen stumm hinaus. Er hatte getrunken. Ich mag ihn so nicht. Zwar ist er ehrlich, aber er wird wehmütig und manchmal überschwänglich durch den Alkohol.
Sein Körper fühlte sich warm an und ich hatte das Bedürfnis, mich an ihn zu schmiegen. Doch ich unterließ es; Vater mag so etwas nicht.
„Sind das Menschen da draußen?“, fragte ich leise.
Er erwiderte: „Das ist das Ende der Welt.“
„Aber die Nachrichten, das Fernsehen! Niemand berichtet davon, es scheint sich nur hier bei uns abzuspielen.“
„Es wird sich ausbreiten.“ Hier schaute er mich an. „Das Unheil geht von hier aus und überschwemmt die ganze Welt, glaube mir. Was du hier siehst, Kind, ist der Anfang vom Jüngsten Gericht.“
Mich fröstelte. „Hat Gerd das gesagt?“
Er schwieg. Ich weiß, dass beide sich oft darüber unterhalten, wenn sie nachts zusammensitzen.
„Vater, warum weiß Gerd soviel über die da?“ Ich flüsterte jetzt. „Er hat zu Anfang gesagt: Es ist losgegangen. Das hörte sich an, als hätte er dieses Unglück hier erwartet, als hätte er vorher davon gewusst.“
Er sah wieder hinaus zu den Kreaturen. Nach einer Weile sagte er mit trockener Kehle: „Ich weiß nicht , was er ist. Er scheint in manchen Dingen so sicher zu sein, es ist mir nicht klar, woher er diese Sicherheit nimmt.“
Plötzlich hatte ich tausend Fragen im Kopf, ich wollte sie alle stellen, wollte soviel wissen.
„Wie lange wird es dauern, bis wir hier rauskönnen?“
Da war er plötzlich wieder der Alte: „Was hast du hier gegen die Unterkunft einzuwenden? Es geht uns doch blendend.“
Als ich erwiderte: „Ich will Mama wiedersehen!“ versteinerte seine Miene.
„und Diana.“
Dann kam Gerd. Er stellte sich hinter uns und legte die Arme über unsere Schultern. „Na Kinder“, fragte er aufgeräumt. „Schaut ihr euch wieder mal unsere Freakshow an?“
Wie konnte er nur so gutgelaunt sein? Er war richtig tatendurstig.
Als eine der Kreaturen sich ungeschickter verhielt als sonst, als ein Mann mittleren Alters in vornehmer Aufmachung mit einer Frau zusammenlief, hinfiel und wieder aufstand, da war Gerd der einzige, der lachen musste. Vater und ich schauten weiter hinaus.
„So was“, meinte Gerd, als der Mann, der Ähnlichkeit mit meinem Schuldirektor hatte, sich wieder aufgerappelt und seinen Weg durch die Menge fortgesetzt hatte. „Das hier ist besser als Fernsehen, was Schätzchen?“
Die beiden Männer lösen sich gegenseitig ab in der Überprüfung der Medien. Fernsehen, Radio, alles wird systematisch abgehört, um sofort den kleinsten Hinweis darauf zu entdecken, dass man zur Kenntnis genommen hat von unserem Unglück.
Vater fragte, wie um abzulenken: „Irgendetwas Neues im Fernsehen?“
Gerd nahm die Arme herunter und zwängte sich zwischen uns aufs Fensterbrett.
„Nichts“, meinte er nur und stierte nach draußen. Nach draußen auf das ewiggleiche Gewusel, das Gegeneinanderstoßen, dieses völlig sinnlose Umherlaufen dieser...Dinger da!
„Was meinst du, wie lange wird es dauern, bis sie auf uns aufmerksam werden?“, fragte Vater und Gerd antwortet, ohne sich abzuwenden: „Weiß nicht, es kann nicht mehr lange dauern. Irgendwann müssen sie etwas bemerken.“ Er sagte es wegen mir.
„Warum?“; entfuhr es mir. „Warum dauert es so lange? Es muss doch auffallen, irgendjemandem! Irgendwer muss doch merken, dass hier etwas nicht stimmet.“
Es begann zu regnen. Die Natur jedenfalls nahm noch immer ungestört ihren Lauf, stoisch und ohne auf solch armselige Wichte, wie die Menschen zu achten, zog die Erde ihre Bahn und das würde auch noch dann so sein, wenn die Menschheit ausgelöscht wäre.
Die Kreaturen kümmerten sich nicht um den Regen. Sie wurden nass, bei einigen sah es aus, als liefen Tränen ihre Wangen hinab.
„Ich hätte nicht übel Lust, mir einen zu schnappen“, murmelte Gerd. Vater reagierte nicht, doch ich fuhr erschrocken zusammen.
Gerd schaute mich an und meinte dann entschuldigend: „Nur so, zum Spaß. Ich meine, sie spüren doch sowieso nichts mehr.“
Die beiden Männer unterhalten sich immer öfter über die Vorräte. Sie gehen zu Ende.
Ich saugte Staub, als sie vor dem Fernseher saßen, unserem Fenster zu Welt. Die Nachrichten flimmerten, und wieder nichts über unsere Lage. Vater saß mit sorgenvollem Gesicht da und Gerd flüsterte auf ihn ein. Sie sahen zu mir herüber und ich tat, als merkte ich nichts.
Wir drei haben uns von Anfang an darauf verlassen, dass man uns rechtzeitig finden und retten würde. Die Vorräte würden reichen, da waren wir uns sicher. Und nun gehen sie zu Ende. Wir müssen etwas tun!
Ich fragte Gerd, doch er beschwichtigte. Doch ich glaube, er hat vor, hinauszugehen. Einerseits ist das Wahnsinn, denn die dort draußen machen jeden gnadenlos zu eine von ihnen. Auf der anderen Seite muss es anderswo in dieser Stadt auch Überlebende geben, denen dasselbe Schicksal droht wie uns. Ich weiß nicht, ob ich versuchen soll, ihn aufzuhalten oder ob ich ihn ermuntern soll.
Nach unserem Gespräch sah ich, wie er in das Zimmer am Ende des Flures ging.
Als ich heute Mittag von den paar Vorräten, die uns geblieben sind, eine Mahlzeit zu kochen versuchte, hörte ich Vaters Schrei aus dem Wohnzimmer. Ich ließ den Eintopf stehen und lief hinüber und kam zugleich mit Gerd an. Vater saß am Fenster und deutete hinaus.
Ich ging näher und erwartete etwas Besonderes, etwas Außergewöhnliches zu erkennen. Doch es ging mir wie Gerd. Ich sah nur das Übliche, die Kreaturen stolperten durcheinander und liefen sich gegenseitig um. Doch Vater zeigte in die Menge hinein.
Dann sah ich ihn auch. Ein junger Mann stand hilflos inmitten seiner Kameraden. Er musste in seinem früheren Leben Automechaniker gewesen sein. Er machte einen sympathischen Eindruck.
Und genau das war es, was Vater aufgefallen war. Er machte einen menschlichen Eindruck. Mit Schrecken im Gesicht sah er sich um und all die Monster um ihn herum machten ihm offensichtlich Angst. Er fürchtete sich und er versuchte einen Ausweg zu finden.
Doch die Kreaturen kümmerten sich gar nicht um ihn. Sie liefen, ohne ihn zu beachten, vorbei; dann und wann stieß einer gegen ihn, doch sofort nahm der eine Richtungsänderung vor und lief dann unbeirrt weiter.
Es war etwas vor sich gegangen. Etwas war anders. Die Zombies da draußen kümmerten sich nicht um diesen Menschen.
Vater gab ein Geräusch von sich und auch Gerd, als sie sich klar wurden, was das bedeutete.
Der junge Mann blickte hilflos in unsere Richtung. Als er mehrere Sekunden zu unserem Fenster gestarrt hatte, konnte ich Verstehen in seinem Blick erkennen. Er hatte uns entdeckt. Sofort setzte er sich in Bewegung und kam direkt auf unsere Haustür zu.
„Ich werde ihm öffnen“, rief ich und machte mich auf den Weg.
„Das wirst du unterlassen, junges Fräulein“, knurrte Gerd und plötzlich herrschte Totenstille im Haus. Ich blieb stehen und sah ihn ungläubig an.
„Aber er braucht Hilfe!“
Ich war fassungslos und ich sah, dass es Vater nicht anders ging. Gerd schob sich vom Fensterbrett hoch und ging fröhlich in die Küche, nachdem er in meine Richtung gebellt hatte: „Kümmere dich um das Essen!“
Ich lief ihm hinterher.
„Das können wir nicht tun!“ Gerd steckte seine Nase in den Topf.
„Was können wir nicht tun?“
„Wir müssen ihn hereinlassen, er ist vielleicht verletzt.“
„Was ist das, Bohneneintopf?“
„Er hat vielleicht Hunger und Durst!“
„Ah, unsere Alice. Die reinste Wunderköchin. So, wie sie im Buche steht.“
„Er ist ein Mensch, wir müssen ihm helfen!“
„Macht immer noch einen schmackhaften Eintopf, auch wenn kaum noch Vorräte im Haus sind. Und wie das duftet.“
„Wir müssen teilen mit ihm, wir müssen ihm abgeben!“
„WOVON?!!“, donnerte er mich plötzlich an. Sein Doppelkinn zitterte vor Erregung. Wovon sollen wir etwas abgeben?“
Ich sah blanken Hass in seinen Augen, er war tatsächlich der Meinung , er handelte richtig. Wir standen uns beide gegenüber wie zwei Hähne und ich hatte Mühe, den Reflex zu unterdrücken, nach hinten zurückzuweichen.
Ich sah mich nach Vater um, der uns eben in die Küche folgte. Unsere Blicke trafen sich, er senkte die Augen und schaute nach unten.
Ich ging hinüber zum Herd und rührte die Bohnen, es wurde höchste Zeit.
Gerd atmete hörbar aus, drehte sich zum Schrank um und nahm Teller heraus.
Der Rest des Tages verging in sehr gespannter Atmosphäre. Der Mann draußen war offiziell kein Thema mehr, niemand kümmerte sich um ihn. Doch ich bekam mit, dass Vater und auch Gerd so oft es ging heimliche Blicke aus dem Fenster warfen.
Ich gab mir keine Mühe, mein Interesse zu verbergen.
Der arme Kerl kauert direkt vor der Haustür, völlig entkräftet und kaum fähig zu rufen. Dann und wann klopf er kläglich an das Holz, doch die Versuche werden schwächer und sind kaum mehr zu hören.
Ich sitze hier jetzt neben meinem Bett im Licht einer Kerze, es ist Nacht und in der Wohnung ist es still.
Ich war in dem Zimmer, in dem verbotenen. Und mir kommt es jetzt schon vor wie ein Traum – ein Traum in einem Albtraum. Vielleicht war es ein Traum?
Ich machte mir Sorgen, viele Gedanken. Und als ich zur Ruhe kam, wurde es nur schlimmer. Was soll ich tun? Es muss etwas geben, was uns von den Monstern da draußen unterscheidet!
Ich irrte durch die finstere Wohnung. Zwar ist sie eng und bedrückend, doch keineswegs klein. Gerd und Vater haben jeder ein eigenes Zimmer, ich habe meine kleine Kammer. Jeder kann sich zurückziehen, wenn es ihm passt. Und auch wieder nicht.
Alles war ruhig, ich glaube, sie hatten wieder getrunken. Mit Macht zog es mich in den Flur, zur Haustüre, hinter welcher der Fremde kauert. Und friert und Angst hat.
Ich fuhr mit meinen Fingerspitzen den Maserungen des Holzes folgend herunter. Es war warm, ich meinte zu spüren, wie es pulsierte. Einmal hörte ich leises Atmen auf der anderen Seite – spürte der Mann mich ebenso wie ich ihn? Ich war mir fast sicher.
Ich lehnte mich gegen die Tür und langsam glitt ich zu Boden, so dass ich schließlich in eben solcher Stellung saß wie der Fremde auf der anderen Seite.
„Wag’ nicht mal dran zu denken, Prinzessin!“
Was ich an Gerd bewundere, ist seine Fähigkeit, in nahezu jeder Situation einen kühlen Kopf und eine ruhige Stimme zu bewahren. Ich konnte ihn nicht sehen, er musste aus dem verbotenen Zimmer auf den Flur getreten sein. Nun stand er wohl in der Dunkelheit und konnte mich beobachten, weil das Mondlicht durch die Wohnzimmertür auf mich fiel.
„Er ist da draußen und friert“, sagte ich, und als er nicht antwortete, setzte ich hinzu: „Er ist ein Mensch!“
Seine Gestalt löste sich aus dem Dunkel und kam zu mir herüber. Er hockte sich vor mich und antwortete mit sanfter Stimme: „Das ist nicht sicher, Schätzchen.“
„Aber es könnte sein! Es besteht die Möglichkeit, dass er fühlt wie wir, dass er nicht infiziert ist und dass er Hilfe benötigt.“
„Ja, das stimmt. Es könnte tatsächlich möglich sein. Aber findest du nicht auch, dass das zu vage ist? Unsere Vorräte gehen zu Ende, wir haben selbst kaum zu essen, wir werden selbst bald am Hungertuch nagen, da können wir uns einen zusätzlichen Esser nicht leisten.“
„Aber wie können wir ihn draußen liegen und sterben lassen?“
„Das Boot ist voll“, meinte er in abschließendem Ton und stand unter Ächzen auf. „Geh’ ins Bett, kleine Prinzessin, und mach’ dir nicht zu unnütze Gedanken!“
So ging er davon, verschwand durch das Wohnzimmer in sein eigenes Zimmer und ließ mich im Flur kauernd zurück. Ich begann leise zu weinen.
Ich fühlte mich so allein. Mama, Diana, Vater. Niemand, der mir helfen konnte. Als ich langsam aufstand, bemerkte ich, dass der Haustürschlüssel von innen steckte. Es hätte nicht viel bedurft, ihn herumzudrehen und die Tür zu öffnen.
Und ich hasste Gerd in diesem Moment wegen seiner verdammten Selbstsicherheit. Und ich hasste mich selbst, weil ich so feige und so leicht zu beeinflussen war.
Als ich schließlich zurückgehen wollte in meine Kammer, fiel mir der schwache Lichtschein auf, der unter der verbotenen Tür fiel. Gerd hatte vergessen, sie zuzumachen und abzuschließen. Ich hielt den Atem an.
Gerd dürfte schlafen, dachte ich mir. Es war genügen Zeit vergangen, seit er mich verlassen hatte. Ich wusste von Anfang an, dass ich nicht dagegen an konnte.
Vorsichtig stieß ich die Tür an und sah zu, wie sie langsam aufschwang.
Das Mondlicht fiel direkt in eine kleine, enge Stube. Ich sah von hier aus einen schweren Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand, umringt von fünf ebenso klobigen Stühlen. Eine Anrichte, welche alt wirkte, ein Bett, das frisch gemacht und unberührt war und schließlich, am Fenster, ein schwerer Lehnsessel, in dem eine alte Frau saß. Sie starrte mich mit wachen Augen an.
Ich war weder erschreckt noch erstaunt, ich hatte lediglich den Gedanken, dass sie ein klein bisschen wie eine Schildkröte wirkte.
Mit brüchiger Stimme sagte sie. „Komm näher!“ Und wie hypnotisiert folgte ich ihrer Aufforderung. „Schließe die Tür!“
Dann stand ich vor ihr und sie musterte mich mit gutmütigem Blick.
„Wohnen Sie hier?“, fragte ich und wurde mir im selben Moment der Naivität meiner Frage bewusst.
„Seit 76 Jahren“, antwortete sie schlicht. Ich war kaum fähig, mich zu rühren und so ließ ich ihre Musterung wie ein Zuchtpferd über mich ergehen.
Dann plötzlich sagte sie scharf: „Nimm dich vor meinem Sohn in Acht! Du wirst seine Komplimente vielleicht mögen, aber glaube mir, er spielt nur mit dir! Wichtig ist ihm nur sein eigenes Vergnügen.“
„Ist Gerd Ihr Sohn?“
„Ja, und trotz allem ist er mir ein guter Sohn.“
„Er pflegt Sie?“
„Ja, das tut er.“
„Warum hat er nichts von Ihnen erzählt? Wir haben nie etwas von Ihnen erfahren.“
„Ich habe ihn darum gebeten und er hat sich daran gehalten.“
„Ist das der Grund, weshalb er uns bei sich aufgenommen hat, zu seinem Vergnügen?“
„Ich bin mir nicht sicher.“ Das erste Mal, dass die Alte unschlüssig schien. „Er war schon als Kind ein wenig eigenartig. Er war gern allein und wenn er doch einmal mit anderen zusammen spielte, kam es garantiert so, dass er die anderen hereinlegte. Er hatte einen Heidenspaß daran, wenn er andere manipulieren konnte.“
„Das ist abscheulich“, erwiderte ich.
„Das macht jeder, Kindchen. Der Mensch ist so angelegt, die Umwelt zu seinen Gunsten zu verändern, das macht seinen Erfolg aus. Wenn du das nicht willst, dann wirst du zu einem von denen da draußen.“
„Was sind die da draußen?“ Ich hatte den Eindruck, die alte Frau wüsste es. Es schien, als ob sie eine ganze Menge wüsste.
„Was scheint es denn für dich zu sein?“, fragte sie mich und lauerte auf eine Antwort.
„Sie scheinen seelenlose Maschinen zu sein, Marionetten, denen die Fäden durchtrennt wurden. Sie sehen aus wie Menschen, sie sind aber nur leere Hüllen, die sich zufällig bewegen können.“
Sie antwortete nicht, sondern sah mich nur an mit ihren blassblauen Augen, die mich an Mama erinnerten.
„Aber wo kommen sie her?“, fragte ich weiter.
Sie schien ungeduldig. „Wo kommen sie her, wo kommen sie her? Wo kommt die Sonne her, wo kommt ein Wirbelsturm her? Du könntest genauso gut fragen, woher da AIDS-Virus stammt. Sie sind da und wichtig ist, was du in ihnen siehst.“
„Werden sie jemals verschwinden?“
„Was, die Marionetten?“ Sie lachte auf. „Natürlich, sicher. Doch es werden andere Prüfungen kommen, neue Plagen.“
Warum wird nichts im Fernsehen davon gebracht? Niemand nimmt Notiz von unserem Elend.“
„Warts ab“, sagte sie nur und drehte sich weg von mir. „Ich bin müde, möchte schlafen!“
„Darf ich Sie wieder besuchen? Wieder herkommen?“
Sie murmelte etwas in die andere Richtung, das sich nach „Dazu wird es nicht kommen.“ anhörte und blieb dann stumm.
Ich schlich rückwärts aus dem Zimmer und den Flur entlang. Schließlich in meine Kammer, immer bemüht, so leise zu sein wie ein Windhauch.
Und nun sitze ich hier seit einigen Stunden im matten Schein der Kerze und grübele nach. An Schlaf ist nicht zu denken, ich bin viel zu aufgewühlt.
Ich sehe die alte Frau, die Mutter von Gerd, die ihr Dasein in dem einen Zimmer fristet und die von ihrem eigenen Sohn vor der Welt versteckt wird.
Mir kommt der Junge in den Sinn, der ausgesperrt in der Nacht liegt, er wird Hunger haben und Durst, ihm wird kalt sein und einsam wird er sich fühlen. Was soll ich nur machen?
Obgleich ich mich in den letzten Tagen sosehr erwachsen fühlte, vermisse ich doch in diesem Moment nichts sosehr wie den Rat meiner Mutter.
Solch ein ereignisreicher Tag!
Ich sitze hier am Fenster und warte auf unsere Rettung. Doch die Retter können gleichzeitig unser Untergang sein. Es kann das Verderben sein, dessen ich hier harre.
In der Früh erwartete ich Vater und Gerd mit dem gedeckten Tisch. Und einem Gast, der daran saß.
Am frühen Morgen hatte ich mir endlich ein Herz gefasst, war eilig in den Flur gelaufen und hatte, ohne noch einmal darüber nachzudenken, die Haustüre aufgeschlossen.
Er war hineingefallen, als die Tür nach innen schwang. Erschöpft und schwach war er zusammengesunken und lag nun zu meinen Füßen.
Doch es gelang mir, ihn hereinzuziehen. Zitternd half ich ihm ins Wohnzimmer, er war bei Bewusstsein, konnte sich aber nur mit Mühe aufrecht halten.
Das änderte sich, als er sich gestärkt hatte. Er aß und trank, dass ich meinte, er wolle überhaupt nicht mehr aufhören. Doch mir war es gleich, ob er alle unsere Vorräte vertilgte, ich freute mich. Und ich sah die Kräfte in seinen Körper zurückströmen. Als er gesättigt war, schob er seinen Teller nach oben und lächelte zu mir auf. Wie ein kleiner Junge. Dabei war er doch mindestens zehn Jahre älter als ich.
Wir hatten noch kein Wort miteinander gewechselt und ich hielt es an der Zeit, mich vorzustellen: „Meine Name ist Alice.“ Er lächelte noch strahlender.
Es war schon eine seltsame Szenerie: Der Tisch appetitlich gedeckt, so wie er nicht mehr lange gedeckt sein würde, der Fremde davor, gestärkt und fast fröhlich. Dazu draußen diese Horde Wahnsinniger, die nicht ablassen konnte, durch die Gegend zu stolpern und ich mittendrin im Wunderland, als wäre ich bewusste Alice. Allerdings war ich nervös. Ich hatte eine Konfrontation mit Gerd vor mir und ich war mir nicht sicher, ob er nicht handgreiflich werden würde.
Der Fremde schwieg und ich ließ ihn. Ich setzte mich ihm gegenüber und lächelte zurück.
Nach einer gewissen Zeit wurde unter Gepolter die Tür aufgerissen und Gerd stürmte herein.
„Prinzessin, gute Neu...“, begann er, doch dann hatte er unseren Gast entdeckt. Er stutzte nur kurz und dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder mir zu . „Darüber reden wir noch“, sagte er mit einem Lächeln, gleichzeitig aber ein einem Ton, der mich erstarren ließ.
Dann drehte er sich um, als er wieder hinausging, rief er noch: „Sie haben uns entdeckt, Prinzessin, die Warterei hat ein Ende.“
Ich sprang auf und lief ihm hinterher. Vater saß vor dem Fernseher im Wohnzimmer und beachtete mich kaum, Gerd setzte sich neben ihn und den Grund für ihre Aufregung sah ich auf dem Bildschirm.
„Schau dir das an“, lachte Vater und zappte mit der Fernbedienung durch die Programme. Auf jedem Sender liefen Berichte zu der mysteriösen Lage in unserem Städtchen. Konferenzen mit Wissenschaftlern, Interviews mit Leuten, die Verwandte hier hatten, Kommentatoren, die mit roten Augen über die Zustände berichteten. Wir waren endlich in aller Munde.
Ich spürte, wie erst allmählich die Erleichterung kam, wie ich langsam begriff. Rettung, wir würden vermutlich weiter leben können. In wenigen Stunden würden wir befreit werden und unser enges Gefängnis hier verlassen können. Ich bemerkte, dass draußen die Sonne schien.
Mit einer kindlichen Freude durchschalteten wir die Fernsehkanäle und freuten uns über jeden Bericht, den wir erblickten. Endlich sahen wir auch ein wenig klarer, was unsere Lage anging.
Man hatte entdeckt, dass niemand sich meldete aus unserer Stadt, kein Lebenszeichen. Das war wohl irgendjemandem nach einer gewissen Zeit nicht mehr geheuer gewesen, so dass man jemanden losgeschickt hatte. Als die Späher nicht zurückkamen, wurde man stutzig. Als aber der nächste Trupp nicht mehr zurückkehrte, begann man zu handeln. Von offizieller Seite wurden zwei Abteilungen der Örtlichen Polizei beauftragt, die Lage zu überprüfen. Die zogen bewaffnet und aufmunitioniert los und als sie in einem kleineren Scharmützel drei von diesen beängstigend stupiden Wesen niedergestreckt hatten, zogen sie sich wieder zurück.
Damit hatte man den Ernst der Lage erkannt. Eilig wurde ein Beraterstab zusammengerufen, unterstützt von einer wissenschaftlichen Kommission.
Atemlos saßen wir in dem kleinen Zimmer und lauschten den Ergebnissen, die ein glatzköpfiger, ständig zwinkernder Herr in weißem Kittel kundtat.
„...sehen wir uns gezwungen, die Stadt militärisch einzunehmen, sie zu besetzen und alle Infizierten, das heißt, aller Vermutung nach sämtliche Einwohner der Stadt zu eliminieren. Es gibt keinen anderen Weg.“ – als er dies sagte, unterließ er jedes Zucken der Augen – „Die Gefahr, dass das Virus überspringt, ist enorm groß, eine Ausbreitung, schließlich eine Pandemie ist anzunehmen. Gerät man als Gesunder an einen Infizierten, gibt es keine Rettung, man ist dazu verdammt, mit dieser tumben Masse mitzumarschieren. Die Übertragungswege sind noch unklar, fieberhaft arbeiten die besten Wissenschaftler...“
Gerd stellte den Ton leiser. Mit finsterem Blick schaute er zu uns herüber. Mir war nicht klar, weshalb er nicht froh war, warum er sich nicht freute, so wie ich.
Plötzlich ließ sich unser Gast vernehmen, der neben mir stand. Mit brüchiger Stimme sagte er: „Es ist nicht wahr, was er sagt.“
Vater, Gerd und auch ich starrten ihn verblüfft an. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er sich so schnell mitteilen würde. Er hatte den Eindruck gemacht, dass er verstört war und sehr misstrauisch.
„Du solltest gar nicht hier drinnen sein, Kumpel“, maulte Gerd und ich hätte ihn dafür umbringen können. „Wie meinst du das?“
Der Fremde blickte ihn an und wir drei meinten, er hätte die Frage nicht verstanden, doch dann erkannte ich, dass er Gerd nicht antwortete, weil er ihn verabscheute.
Bevor ich etwas sagen konnte, knurrte Gerd: „Wir können dich auch wieder raus befördern, Freundchen! Also antworte einfach auf meine Frage! Was meintest du damit, als du sagtest, es sei nicht wahr?“
„Hat der Mann im Fernsehen gelogen?“, fragte ich, so sanft es ging. Der Fremde schaute mich dankbar an und nickte leicht.
„Warum?“
„Es stimmt nicht, dass es keine Rettung gibt“, erwiderte er leise.
„Wie meinst du das?“, fuhr Gerd dazwischen, doch wir beide beachteten ihn nicht.
„Heißt das“, fuhr ich fort und schaute ihm dabei in die Augen, „dass man geheilt werden kann?“
Er nickte.
„Man ist nicht dazu verdammt, für immer...so zu bleiben?“ Ich vermochte kaum, meine Stimme im Zaum zu halten. „Man kann wieder ein Mensch werden?“
„Ich war so ein...Ding“, sagte er plötzlich mit fester Stimme in Gerds Richtung. „Ich kann mich dunkel erinnern, dass ich, angetrieben nur vom Drang, warmes, menschliches Fleisch zu finden, durch die Straßen lief. Ich hatte keine Gedanken, keine Empfindungen, bis auf den Trieb, ehemalige Artgenossen zu finden und zu umarmen. War ein Mensch in der Nähe, liefen wir auf ihn zu und umringten ihn, wir nahmen ihn in die Mitte und legten unsere Arme um ihn, bis wir merkten, dass er einer von uns geworden war.“
Schweigen, im Hintergrund erzählte noch immer der Glatzkopf von den Maßnahmen, die ergriffen wurden.
„Und dann schwand mir plötzlich das Bewusstsein...oder das, was davon übrig geblieben war.“ Er lächelte zaghaft.
Gerd bellte: „Wie lange warst du so ein Zombie?“
„Schwer zu sagen, ich weiß nicht. Ich denke, mindestens eine Woche.“
„Warst du einer der ersten?“
„Ich weiß nicht.“
„Wie hast du dich infiziert? Hast du dich angesteckt, wie alle anderen? Bist du umarmt worden von solch einem Zombie?“
„Nein.“ Er dachte angestrengt nach. „Nein, ich kann mich nicht genau erinnern, ich weiß noch, dass mir schwindelig wurde, als ich Rasen mähte im Vorgarten. Es wurde finster um mich herum, nebelig.“
„Es wurde nebelig?“
„Ja, ich glaube. Und es herrschte ein penetranter Gestank.“
„Wonach?“
Der Junge zog die Stirn kraus. „Schwefel, denke ich. Oder eine Verbindung damit.“
„Schwefel ist gut“, murmelte Gerd. Es schien, als hätte er sich wegen meines Verhaltens beruhigt. Doch weshalb war er so verärgert über die Meldung im Fernsehen gewesen?
„Und woran bist du gesundet? Was hat diese Wandlung bewirkt?“ Gemessen an der Eminenz seiner Frage, war der Ton in dem er sie vorgetragen hatte, sehr beiläufig.
Der Junge zuckte mit den Schultern und wir drei ließen gleichzeitig die Atemluft ausströmen. „Nichts“, sagte er dann mit unschuldiger Stimme. „Es ist gegangen wie es gekommen ist. Mir wurde schwindelig, ich fiel in Ohnmacht und als ich aufwachte, hatte ich Hunger und mir war kalt.“
„Ha!“ Gerd klatschte in die Hände und Vater, an seiner Seite, zuckte zusammen. „Dann ist diese Se...Krankheit nur ein vorübergehender Zustand? Etwa wie Kopfschmerzen, die bald wieder vergehen? Ein zwischenzeitliches Unwohlsein?“ Und obwohl er sich doch freuen sollte darüber, war sein Ausdruck ernst und verkniffen.
Im Hintergrund fielen Schüsse. Gerd griff zur Fernbedienung und schaltete den Ton lauter. Ein Live-Bericht über die Maßnahmen in unserer Stadt. Schwerbewaffnete und geschützte Männer zogen durch die Straßen und schossen auf alles, was sich bewegte. Beim geringsten Hauch riss einer der Männer die Maschinenpistole herum und feuerte auf die Ursache.
„Die Kämpfer haben Angst“, beschwor eine Stimme aus dem Off. „Zu viele Kameraden haben sie verloren, als dass sie jetzt noch das kleinste Risiko eingehen würden.“
Die Bilder machten mir Angst. Ich weiß nicht zu sagen, ob ich jetzt Hoffnung haben oder verzweifelt sein soll. Sie bringen alles um, was sich ihnen in den Weg stellt; sie töten, was sie nicht genau zuordnen können. Was werden sie mit uns tun? Werden sie uns als Menschen erkennen?
Ich sitze seit Stunden hier am Fenster, schaue dem fortdauernden Gewusel auf der Straße zu, höre leise das Grummeln der Maschinengewehre und warte. Irgendwann müssen sie um die Ecke kommen, irgendwann sind sie vorgedrungen bis hierher.
Vater kam vorhin zu mir und umarmte mich stumm; ich sah Tränen in seinem Gesicht. Gerd läuft unruhig durch die Wohnung wie ein gefangener Tiger.
Wenn wir überleben, wenn wir tatsächlich verschont werden von den Truppen, was nützt es mir? Werde ich Mama wiedersehen und Diana?
Obwohl die Rettung naht, muss ich schon wieder weinen.