Geist in der Maschine.
Ein Autofahrer aus Bern war's wohl nicht, der unlängst mit 140 km/h in eine Radarfalle der Schweizer Polizei getappt ist, denn so schnell sind die Berner nicht unterwegs. Aus dem Tessin konnte er auch nicht stammen – dafür schlich er wiederum zu langsam die A1 im Kanton Solothurn entlang. Außerdem wäre er als solcher eindeutig auf dem Polizeifoto zu identifizieren gewesen, weil seine beiden unentwegt gestikulierenden Hände, die gewöhnlich nur beim Starten der macchina und beim Aussteigen kurz mit dem Lenkrad in Berührung kommen, den größten Teil des amtlichen Lichtbildes eingenommen hätten. Auf diesem war aber von einem Fahrzeuglenker absolut nichts auszumachen, nicht etwa, weil er dem Stamme der Liliputaner angehörte, sondern weil ein großvolumiger Aktenordner dessen Stelle in dem Automobil einnahm, das sich wohlgemerkt schneller als die Polizei erlaubt durch die westliche Schweiz bewegt hatte. Da Aktenordner im allgemeinen des Autofahrens nicht mächtig sind, weil sie keinen Führerschein besitzen, hob alsbald ein großes Rätseln an, welche geheimnisvolle Kraft hinter dem Leitz-Ordner das delinquente Kraftfahrzeug rasend, aber bis dato unfallfrei in der Eidgenossenschaft umher steuerte.
Die fantasielose Kantonspolizei geht noch immer stur davon aus, dass ein Wesen aus Fleisch und Blut seine unsichtbaren Finger im Spiel gehabt haben muss, auch wenn sie hilflos ihre Radargeräte nachlädt, weil sie keine Ahnung hat, wie sie seiner habhaft werden soll. Einer der raren Schweizer Scherzbolde glaubt fest daran, dass doch der Aktenordner gefahren sei, weil in ihm die entzogenen Führerscheine diverser Tessiner Raser abgelegt waren. Nur die stets auf der Höhe der Zeit befindliche und mit Zuträgern aus den geheimsten Geheimzirkeln wohl versorgte 'Bild-Zeitung' hält die durchaus realistische Darstellung parat, dass das besagte Automobil zu einer ganzen Flotte ähnlicher Fahrzeuge gehört, die von einer supergeheimen Abteilung des Berliner Finanzministeriums aus, die unter der Leitung des Geheimrates Eichel-Häher steht, über Satellit ferngesteuert wird, um sich gleich hinter der Grenze unauffällig an verdächtige Kraftwagen zu hängen, deren Insassen ihre Notgroschen in Zürich und Genf nachzählen wollen. Die 'Süddeutsche Zeitung' mutmaßt in einem spekulativen 'Streiflicht' gar, dass da ein gestresster Angehöriger des gewerblichen Mittelstandes auf der rasenden Fahrt von einem schikanösen Kunden zum nächsten die Zeit genutzt habe, um seine Steuererklärung anzufertigen. Das ist mit Sicherheit die am wenigsten glaubwürdige Interpretation dieses ungewöhnlichen Vorfalls, weil doch schon jedes Kind weiß, dass dies ohne gleichzeitige Anwesenheit eines Wirtschaftsprüfers, eines Steuerberaters und eines Rechtsanwaltes gar nicht zu bewerkstelligen ist; ganz eindeutig zeigt aber das Beweisfoto, dass der Wagen bis auf den Aktenordner am Steuer vollkommen leer war.
Ins Leere laufen für mich auch all diese Erklärungsversuche. Realist, der ich bin, außerdem strenger Logik verhaftet, erscheint mir nur eine Lösung plausibel: Da war ein Geist in der Maschine, der, um die Polizei zu täuschen, die Gestalt eines Aktenordners angenommen hat, ein allmächtiges Gespenst, das auftritt, wann und wo es will, das überall für Verwirrung sorgt, das doppelt und dreifach gleichzeitig an vielen Orten, in unzähligen Formen erscheint, das sich mal männlich, mal weiblich gibt, das, während es eigene Geschichten verfasst, zugleich andere kritisiert, das sich sowohl kümmert als auch Kummer bereitet, das sogar auf dieser Website mehrfach vorkommt, das schlicht omnipräsent und aus dem Lauf der Welt nicht mehr wegzudenken ist, weil die ohne den Geist in der Maschine, die sie in Bewegung hält, einfach knirschend stehen bliebe.
Wer aus eigener Erfahrung etwas dazu beitragen kann, möge sich hier melden, auch wer anderer Meinung ist, soll diese kundtun oder für immer schweigen.
© 2002 Georg Holzmann