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Gratwanderung

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11.05.2002
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Gratwanderung

Gratwanderung

Der Rucksack drückte schwer auf den Rücken. Die Luft im Barranco hatte sich etwas erwärmt, man konnte es aber noch nicht als Hitze bezeichnen. Ab und zu wehte ein kühler Passatwind durch das Tal. An der nächsten Biegung legte Sylvia eine Rast ein. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Mineralwasserflasche. Den Rucksack stellte sie hinter sich auf den Felsen ab. Über den postkartenblauen Himmel zogen ab und zu ein paar Passatwolken in Richtung Gebirge. In der Ferne konnte man das Meer sehen und die milchig dunstige Umrisse der Insel Teneriffa erahnen. Ein traumhafter Ausblick war das, vorausgesetzt man war schwindelfrei. Dies wäre wirklich nichts für ..., nein!!! An diese Person wollte sie jetzt wirklich nicht denken. Ab dem Zeitpunkt, als sie die Fähre in San Sebastian verließ, hatte sie beschlossen, Deutschland, ihre gescheiterte Ehe und andere Miseren in weite Ferne zu rücken.

Sylvia ging rasch zwei Schritte zurück. Ein kanarischer Bauer, bekleidet mit einem schmuddeligen, braunkarierten Baumwollhemd, zerrissener brauner Hose und einem Strohhut führte seinen bepackten Esel auf dem schmalen Weg an ihr vorbei. Auf Sylvias Gruß reagierte er so gut wie gar nicht, beäugte aber dafür ihre Kamera, die über ihrer Schulter hing, misstrauisch. Nicht, dass ihr das etwas ausmachte, ganz im Gegenteil. Die Reserviertheit der kanarischen Bevölkerung kam ihr ganz entgegen. Auch war es gut, dass kein bekanntes Gesicht zu sehen war. Und niemand, der sie neugierig ausfragte, wie es ihr jetzt erginge, wie es nun weiterginge, ob ihr Exmann glücklich mit seiner neuen Frau wäre und ähnliches. Dies war jetzt genauso weit weg wie Deutschland, wie Hessen, wie Frankfurt, wie die Birkenweg 12 - Schluss!!! Nur nicht mehr daran denken.
Sylvias Ehe blieb kinderlos. Im Nachhinein konnte sie nicht sagen, ob sich ihr Ehemann Michael mit dieser Tatsache nicht abfinden konnte, als er damals diese zehn Jahre jüngere Frau kennenlernte oder ob Sylvia ihm vielleicht mit der Zeit überdrüssig geworden war. Es war sehr demütigend, von Seiten der Verwandtschaft letztendlich zu erfahren, dass Michaels Geliebte hochschwanger war. Gesehen hatte sie diese Frau übrigens nie. Hatte sie jemals das Bedürfnis gehabt, sie kennenzulernen? Nach ihrer schnellen Scheidung von Michael zog sie zu ihrer Cousine, die eine wahre Powerfrau war und eine Kinderkrabbelgruppe mit viel Spaß leitete. So verletzt, deprimiert und zu keiner eigenen Entscheidung mehr fähig, war sie froh, bei ihrer Cousine als Co-Tagesmutter unterzukommen. Am Anfang ging noch alles gut. Sylvia konnte schon tüchtig mit anpacken, wenn sie wollte und besaß auch einen kleinen Funken Organisationstalent. Aber auf die Dauer ging das nicht gut. Letztendlich war ihre Unfruchtbarkeit mithin ein Grund für das Scheitern ihrer Ehe. Es war Gift für sie, Tag für Tag mit einer fröhlich lärmenden Kinderschar konfrontiert zu werden. Ihr Körper rächte sich. Sie bekam Herzrhythmusstörungen, die sich im Nachhinein als Panikattacken herausstellten. Klammheimlich setzte ihre Cousine darauf hin eine Anzeige: "Stellvertretende Tagesmutter gesucht" in die Tageszeitung und kündigte Sylvias Mitarbeit. Sylvias Hausarzt riet ihr dann, wegen den vegetativen Herzstörungen, mal allen Trubel hinter sich zu lassen und an einem ruhigen Ort mit gesundem Klima auszuspannen. Die Kanaren "die Inseln des ewigen Frühlings" waren dafür genau das Richtige. Sie hätte die Ruhe der Kanaren noch viel besser genießen können, hätte sie anstatt auf La Gomera, ihren Urlaub auf El Hiero oder La Palma gebucht. Aber es musste La Gomera sein. Sie hatte durch ihre geschwätzige Verwandtschaft erfahren, dass Michael mit seiner neuen Frau und kleinen Tochter im Frühjahr zwei Urlaubswochen im Valle Gran Rey auf La Gomera verbringen will. Dann kam ihr zu Ohr, dass die junge Familie in den Osterferien ihren Urlaub gebucht hatte. Zum Schluss kannte sie sogar den genauen Abflugtermin. Tags darauf saß Sylvia in einem Flugzeug Richtung Teneriffa und kam mit der Fähre am frühen Nachmittag auf La Gomera an.

"Okay, es ist im Prinzip Zufall, wenn mir Michael und Anhang über den Weg laufen sollten. Ich will es einfach mal darauf ankommen lassen", dachte sie, während sie sich mit einem Glas Sekt auf ihrem Balkon bequem machte.
Am zweiten Abend, bei ihrem Schlummertrunk auf dem Hotelbalkon mit Strandblick, kam ihr ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters, sehr bekannt vor. Er war in Begleitung eines kleinen Mädchen mit blonden Rattenschwänzchenhaar das fröhlich über den Strand tollte. Die Konturen der Personen verschwammen in dem dämmrigen Licht des Sonnenunterganges. Doch mit viel Fantasie, meinte sie, Michael zu erkennen. Sie hatte ihn zwar seit einem Jahr nicht mehr gesehen, aber alleine wie er sich bewegte, die Gestik, mit der er den Ball auffing und ihn mit einem sportlichen Stoß Richtung Wellen schmiss. Seine ganze Art und Weise überhaupt, wie er lachte als das kleine Mädchen ängstlich vor den Wellen zurückwich - das war einem doch vertraut, wenn man mit diesem Mann acht Jahre lang Tisch und Bett geteilt hatte.
Das 'Gespenst' Michael war für sie von nun an allgegenwärtig. Gestern zum Beispiel wollte sie mal über den "Kirchenpfad", durch den Lorbeerwald in ein Gebirgsdorf wandern. Sie wusste aus ihrem Reiseführer, dass es dort eine urige Töpferei mit schönem Keramik gab. Zurück würde sie dann mit dem Bus aus dem kühlen Gebirge an die sonnige Küste fahren. Hinter der Kirche begann an diesem warmen, trockenen Tag eine wahre Völkerwanderung. Auf der Hälfte des Weges machte sie wieder kehrt. Im nachhinein dachte sie, als sie bei einer kühlen Cola auf der nahegelegenen Eselranch eine Pause einlegte, waren es nicht nur die vielen Leute, die ihr die Tour vermiesten. Wieder einmal entdeckte sie - weit entfernt - diesen großgewachsenen Mann mit den kurzen, schwarzen Haaren. In dessen Begleitung war abermals das kleine Mädchen mit den blonden Zöpfchen. Den Abschluss bildete eine große, blonde Frau in einem altrosa gebänderten Folkloresommerkleid, die heftig gestikulierend auf Vater und Tochter einredete. Die neue Frau ihres Exmannes, das wusste sie von ihrer Cousine, die sich rühmte noch immer Kontakt zu Michael zu haben, war nicht schwindelfrei. Hastig leerte sie ihre Cola. Wenn ihre Vermutung richtig war, würde die Gruppe nach wenigen Metern auf dem "Kirchenpfad" kehrt machen und zurück Richtung Tal laufen.
Ein großer, dunkelhaariger Mann stand bei den Ställen mit den Araberpferden und redete mit der Besitzerin der Eselranch. Sylvia konnte ihn nur von hinten sehen. Das Herz klopfte in kurzen, harten Stößen, die Hände wurden schweißnass. Der dunkelhaarige Mann schwang sich lässig in den Sattel. Jetzt sah sie ihn im Profil. Er hatte einen schwarzen Vollbart und ein rötliches Gesicht. Er war auf keinen Fall der Vater des kleinen Mädchens mit dem Rattenschwänzchen; er war nicht Michael!
Glücklich und mit sich zufrieden, dass sie diesen einsamen Barranco für den heutigen Tag zum Wandern ausgewählt hatte, packte Sylvia ihre Plätzchen aus. Die Kekse waren leider etwas krümelig durch den Transport im Rucksack, aber sie schmeckten lecker süß und schokoladig. Sie könnte sich in der letzten Zeit nur noch von Süßem ernähren.
Außer Summen von Bienen und dem weitentfernten Blöken einer Ziege, war in diesem Barranco nichts zu hören. Stille und das Nichtvorhandensein von Menschen, konnte doch etwas Erholsames sein.
Eine Wandergruppe bewegte sich langsam den steilen Weg hinauf. Es waren sportliche, junge Leute. Sie waren gut drauf und lachten viel. Ab und zu ließen sie sich von dem blonden Mann, der die Gruppe anführte, etwas über die Pflanzen am Wegesrand erklären. Von diesen Leuten wurde Sylvia, im Gegensatz zum kanarischen Bauern, freundlich gegrüßt. Als die Gruppe hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden war, hörte sie noch Wortfetzen wie:

"Es ist eigentlich nicht so ohne, auf eigene Faust und ganz alleine durch diesen Barranco zu wandern." - "Was sich manchmal so auf den ersten Blick als Weg zeigt, entpuppt sich nach einem Kilometer als Sackgasse." - "Ein Barranco ist schließlich ein erloschener Vulkankrater und kein Freizeitpark."
Angst hatte Sylvia keine. Den Weg zurück ins Tal, wo sie ihren Leihwagen geparkt hatte, fand sie notfalls noch.
Ein Schiff fuhr in den Hafen von San Sebastian ein. Nein, dies war nicht die Fähre, sondern dieses weiße Clubschiff mit dem roten Kussmund. Warum hatte sie nur wieder dieses Herzklopfen. Klar, das war der plötzliche Gedanke an die Rückkehr, als dieses große Schiff aufgetaucht ist. Nicht jeder Urlauber packt freudestrahlend die Koffer für den Heimweg. Manche verdrängen auch die Rückkehr, sehen den Urlaub als eine Art Ausstieg auf Zeit. Was aber erwartete sie zurück in der Heimat? Vor was hatte sie Angst bekommen?
Das große Haus ihrer Cousine. Die moderne Haussklavin kehrt zurück. Sie ist zwar arbeitsunfähig geworden, doch Cousinchen lässt sie hier noch wohnen und gewährt ihr das Gnadenbrot.
Erst die Ehe mit Michael, die im Rückblick, nicht immer so rosig war. Einige Probleme waren schon vor Michaels Seitensprung da. Dann zur Cousine ins Asyl. Sylvia war damals sozusagen von einer Abhängigkeit in die nächste gerutscht.
Was sollte sie nun tun? Aussteigen und den Rest ihres Lebens in der "Schweinebucht" bei der Hippie-Kommune verbringen? Nein, das wäre der nächste Einstieg in eine Abhängigkeit.
In Frankfurt und Umgebung gibt es jede Menge erschwingliche Wohnungen. Sylvia war noch nie besonders anspruchsvoll gewesen. Dann müsste sie sich dringend nach einer Stelle in ihrem alten Beruf als Apothekengehilfin umsehen. Seit ihrer Heirat mit Michael und dem Umzug aus ihrer Heimatstadt nach Frankfurt hatte sie aufgehört zu arbeiten.
Ihre Gedanken wurden von dem lauten Geplapper eines kleinen Mädchens unterbrochen:

"Aber morgen gehen wir doch endlich aufs Schiff. Ich will die Delfine sehen."
Die Leute mussten sich einen Weg unterhalb Sylvias Rastplatz befinden.

"Nein Jenny, das Wetter ist zur Zeit zu stürmisch um Schiffchen zu fahren. Du willst doch nicht, dass dir schlecht wird und du dann die Fische fütterst, ha, ha, ha. - Dieser Weg hat es doch ganz schön in sich. Möchtest du nicht auf meinen Schultern reiten, Jenny?"
Vor einem Jahr: Sylvia stand in ihrer Küche, hatte das Radio eingeschaltet und erledigte ihren Abwasch. Es lief gerade das Wunschkonzert und sie spielte mit dem Gedanken, den Sender zu wechseln. Das ganze SWR 3-Land schien nur so von "Allerliebsten Schätzchen" und "Geliebten Schnuckelchen" zu wimmeln. Dann kam diese Ansage:

"Den Titel "Thank You, For Loving Me" von "Bonjovi" wünsche ich mir für meinen allerliebsten Schatz, daheim. Es tut mir leid, mein Liebling, dass ich an unserem Hochzeitstag nicht bei dir sein kann. Ich werde dich immer lieb haben, dein Michael."
Ihr hübsches Milchkännchen, aus Meißner Porzellan, lag zerbrochen auf dem Boden.
Da war sie wieder, Michaels Stimme. Unzweifelhaft! Michael und sein kleiner 'Ableger' namens Jenny.
Hastig sprang Sylvia auf die Füße und griff nach ihrem Rucksack. Sie wollte ihn schnell aufsetzen, was ihr nicht gelang. Die Stacheln der Kakteen hinter dem Felsblock hatten sich in den Stoff verhakt.
Wenn es so etwas wie einen symbolischen Fingerzeig gibt, war dies hier einer. Warum immer wegrennen und sich nie den Tatsachen stellen?
Ja, sie hatte Angst, Michael Auge in Auge gegenüberzutreten. Warum? Weil ganz tief drinnen noch Gefühle da waren, die eigentlich längst hätten weg sein sollen.
Ja, sie will auch nicht Michaels Frau und Tochter gegenübertreten. Sie möchte nicht mit einer Familienidylle konfrontiert werden, die ihr verwehrt blieb. Andererseits was hat diese Frau, was Sylvia nicht hatte, von ihrer Fruchtbarkeit mal abgesehen?

"Ich will aber den 'Flipper' im Meer sehen!" Sylvia ging die nörgelnde Stimme auf die Nerven, weil sie Jenny gehörte. Dies war ja die Tochter von Michaels vergötterten Ehefrau. Sylvia hatte er damals einfach mal so entsorgt, wie man ein gebrauchtes Taschentuch wegwirft.

"Geht's da auch nicht zu tief runter?" fragte seine neue Gattin mit zittriger Stimme.

"Nein Marianne, die Wege sind hier alle ausreichend gesichert, soweit mir bekannt ist."
Marianne hieß sie also, Sylvias Nachfolgerin.

"Solche Steilwände, wie in den Alpen, kommen auf La Gomera selten vor. Und wenn man doch mal ins Rutschen kommen sollte, wird man rechtzeitig von den Kakteen aufgefangen, ha, ha, ha."
Bei Sylvia stellten sich in diesem Augenblick alle Nackenhaare auf. Dies war Michaels eigene, unsensible Art, die Schwächen seiner Mitmenschen ins Lächerliche zu ziehen. Diese Unsensibilität war mithin auch ein Punkt gewesen, warum sie sich nicht immer so gut verstanden haben. Sie fühlte ein leichtes Triumphgefühl:

"Er verfährt jetzt mit Marianne genauso, wie früher mit mir!"
Ein kleines, blondes Mädchen rannte um die Wegbiegung, während Sylvia noch bemüht war, ihren Rucksack den Stacheln zu entreißen. Das blondbezopfte Mädchen guckte Sylvia mit seinen runden, blauen Augen an und rannte dann wieder zu Mama und Papa zurück.

"Mami, warum guckt die doofe Tante denn, mich so komisch an?"
In Sylvias Ohren rauschte es. Wie aus weiter Ferne hörte sie das ermahnende Gemurmel von beiden Elternteilen. Das Herz hämmerte nun so laut, als ob es aus der Brust heraus wollte. Ein Schwächeanfall ließ ihre Beine weich wie Gummi werden. Schweratmend stützte sie sich kurz auf dem Felsen hinter ihr ab. Während Sylvia noch gegen ihre Panikattacke ankämpfte, trat Michael in seiner ganzen Größe und Herrlichkeit in ihr Blickfeld:

"Was für ein Ausblick! Das ist ja eine Aussicht für die Götter! Marianne, komm schnell mal her, man kann von hier aus sogar den Vulkan 'Teide' sehen!"
Michael hatte Sylvia bis jetzt noch nicht entdeckt. Aber zum Weglaufen war es nun zu spät.

"Paps, kann ich hier endlich mal den 'Flipper' sehen?" quengelte die Kleinmädchenstimme.

"Ja, hartnäckig ist die Jenny", hörte Sylvia jetzt Marianne kichern, "das hat sie von mir."

"Wenn du mein Fernglas nimmst, dann siehst du auch den 'Flipper'. Aber jetzt komm her, nimm meine Hand, hier geht's tief runter oder..." Michael wurde unter seiner Sonnenbräune blass:

"Sylvia?!" - Das darf doch nicht wahr sein! War sie das überhaupt? Die hat aber ganz schön zugenommen! Doch das war sie: Diese runden, etwas eng zusammenstehenden braunen Augen hinter der hell eingefassten Brille, der blasse, sommersprossige Teint, diese schmale, leicht gebogene Nase, der kleine Mund mit den hellrosa geschminkten Lippen und zuletzt der blonde Pagenkopf mit den langen Ponysträhnen. Ja, dies war unverwechselbar Sylvia! Ihre Frisur hatte sie in all den Jahren, in denen sie sich kannten, nie verändert. Mühsam kämpfte er um sein Gleichgewicht. Er hatte nicht mehr auf den Weg geachtet und war auf eine Schicht loses Geröll getreten.

"Du spionierst mir also nach, stimmt's?", brachte er schließlich zischelnd hervor. Sylvia hatte es nun endlich geschafft ihren Rucksack den Stacheln zu entreißen und aufzusetzen. Sie konterte:

"Es ist wieder mal ganz typisch für dich, dass du jetzt glaubst ich hätte absichtlich meinen Urlaub, nur um dir ein bisschen nachzuspionieren, im Valle Gran Rey gebucht. Und mal Hand aufs Herz, hattest du wirklich nicht gewusst, dass ich hier anzutreffen bin? Hat dir denn kein Vögelchen aus unserem Verwandtenkreis zugeflüstert, wo ich diesmal meinen Urlaub verbringe?"
Michael schaute sie fassungslos an:

"Du bist wohl nicht mehr ganz richtig im Kopf, Sylvia!"
Sylvias Gesichtsfarbe hatte sich von totenblass nun in ein dunkles Zornesrot gewandelt. Sie wischte ihre Ponysträhnen aus der schweißnassen Stirn:

"Du kannst mich mal kreuzweise. Viel Spaß noch beim Wandern mit deiner neuen Kleinfamilie."

"Hab ich so eben den Namen Sylvia vernommen?" hörte sie eine dünne, spitze Stimme von unterhalb des Weges fragen. Und dann:

"Jenny, bist du verrückt, kommst du von dem Abhang zurück!"
Sylvia befand sich nun in einer Art Zwickmühle. Wenn sie ihre Wanderung fortsetzte, traf sie wieder auf Michael, wenn sie umkehrte, lief sie Marianne und Jenny in die Arme. Kerzengerade, den Kopf leicht in den Nacken gehoben, die Augen blickten in die weite Ferne lief sie den Weg zurück. Dann musste sie aber ihren Blick wieder auf den Pfad richten, der alles andere als eben und leicht begehbar war. In der Wegbiegung tauchte unwiderruflich diese großgewachsene, im landläufigen Sinne, schöne Frau auf. Das blonde Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Um die Stirn trug sie ein buntes Stofftuch, das farblich abgestimmt war auf ihre modischen, dreiviertellangen Pumphosen. Auch die Sandalen passten im Farbton zum Outfit - obwohl Sylvias Erachtens Sandalen auf diesen Wegen absolut das untauglichste Schuhwerk sind, das man sich vorstellen kann. Die Stirn hinter ihrer großen Sonnenbrille legte sich in Falten, der Mund wurde schmal. Sie musterte Sylvia abschätzend. Wäre dies ein Blick aus eifersüchtigen Beweggründen gewesen, hätte er Sylvias angeschlagenes Selbstbewusstsein gepuscht. Doch dies war ein Blick, aus dem pure Verachtung sprach. Sie hätte gut sagen können:

"So unattraktiv habe ich mir meine Vorgängerin gar nicht vorgestellt." Stattdessen sagte sie zu Sylvia in schneidendem Tonfall:

"Nun haben Sie es wohl endlich geschafft, uns aufzuspüren."

"Aber hallo, ich hatte nie die Absicht, ich ...."
Marianne fuhr ihr erbarmungslos ins Wort:

"Diese Insel ist zwar klein. Aber sich ausgerechnet auf diesem verlassenen Bergweg zu begegnen, das kann doch kein Zufall sein. Und ich glaube nicht an Zufälle. Weil Sie sich so einsam fühlen und nicht in der Lage sind, eine neue Beziehung aufzubauen, wollen Sie sich nun in unser glückliches Familienleben einmischen."

"So ein Schmarren!"
Marianne musterte kalt Sylvias dickliche, blasse Oberschenkel, um die ihre alten, zu weiten Shorts flatterten:

"Aber glauben Sie, ich habe keine Angst, dass Michael sich wieder Ihnen zuwendet." Sie lachte verächtlich:

"Nie und nimmer!"
Sylvia bebte vor Zorn, war zu gar keinen Worten mehr fähig. Ihr Blick ging zu der kleinen Jenny. Diese stand mit ihrem Fernglas an dem Felsvorsprung. Ihr blau-weiß gepunktetes Sommerkleidchen wehte im Wind, als sie auf den Felsen kletterte, um das Meer genauer nach 'Flipper' absuchen zu können. Vor ihr klaffte ein senkrechter Abhang, ca. 10 Meter tief. Mit einem Satz schnellte Marianne vor. Sie riss ihr Kind von dem Felsen und setzte es unsanft auf den Boden ab. Dieses ganz ungerührt, trottete zu dem an der Wegbiegung auftauchenden Vater und nörgelte:

"Paps, da war gar kein 'Flipper' im Meer. Der 'Flipper' lebt doch in Wirklichkeit in Amerika."
Marianne, die durch die Aktion ins Straucheln gekommen war, rutschte mit ihren Sandalen auf dem losen Geröll Richtung Abgrund. An einem Felsvorsprung hatte sie letztendlich Halt gefunden. Mit kreidebleichem Gesicht starrte sie in die Tiefe. Sie war weder in der Lage auf den sicheren Weg zurückzugehen noch sich überhaupt von der Stelle zu rühren. Vor ihren Augen begannen die Landzunge, das Meer und die Felswände nach links und rechts zu schwanken. Auch der Horizont war kein fixer Anhaltspunkt mehr. Des Gleichgewichts beraubt wimmerte und stöhnte sie. Ihre nasse Hand glitt langsam von dem haltgebenden Felsen ab.

"Was für eine jämmerliche Person", ging es Sylvia durch den Sinn, während sie sich zu Marianne auf dem rutschigen Geröll vortastete. Ihre Hand schnellte nach vorne:

"Hasta la Vista Baby", dachte sie bei sich. Aber anstatt den Stoß weiter auszuführen, spürte sie, dass sich Mariannes lange Fingernägel wie Klauen um ihr Handgelenk krallten. Sylvia, die Angst hatte, selbst im Abgrund zu landen, versuchte sie auf den Weg zurückzuziehen. Sie spürte einen harten Griff an ihrem Oberarm. Michael hatte Sylvia gepackt und beide Frauen vor dem Abgrund gerettet. Hochrot im Gesicht stammelte er unzusammenhängend:

"Verdammt gefährlich ... dieser Barranco. .... Man sollte in Zukunft besser an einer geführten Wanderung teilnehmen. .... Also tschüs Sylvia, wir gehen jetzt nach Hause."
Die drei gingen blass und stumm in Richtung Tal, während Sylvia weiter den Berg hinaufstieg. Die Sonne schien, die letzten Wolken hatten sich verzogen und es würde noch ein schöner Tag oben auf dem Berggipfel werden.

 

Hallo Leia4e!

Du schreibst insgesamt recht flüssig und angenehm zu lesen. Ich fand die Geschichte anfangs auch recht interessant, der Grund des Urlaubs,die Gefähle, die ja irgendwo immer noch verrückt spielen, die Wanderung... dann, zum Ende hin, hat mein Interresse aber ein bisschen nachgelassen. Das liegt hauptsächlich an den Dialogen, die auf mich irgendwie unnatürlich rüberkommen. Aber abgesehen davon finde ich die Geschichte gut erzählt und auch ein bisschen spannend.
Ein paar Sachen sind mir noch aufgefallen:

"vorausgesetzt man war schwindel_frei." das mit den Unterstrichen irritiert einbisschen. Machst Du öfter.

"Nicht dass ihr das etwas ausmachte" Komma vor dass

"Tag für Tag mit einer fröhlich, lärmenden Kinderschar konfrontiert zu werden" entweder: "fröhlichen, lärmenden" oder "fröhlich lärmenden"

"Okay, es ist Prinzip Zufall" im Prinzip?

"warum guckt die doofe Tante denn, mich so komisch an" ohne Komma

Insgesamt durchaus lesenswert, finde ich. :)

schöne Grüße, Anne

 

Im Gegensatz zu Maus, empfand ich eine deutliche Steigerung der Spannung gegen das Ende hin, die sich dann aber leider ein wenig einfach auflöst. Der Weg ist gefährlich, und das wird deutlich. Eine Spannung, die der Geschichte bekommt. Aber ein Abrutschen dann auch eintreten zu lassen, das gefiel mir weniger.

Ich schließe mich Maus an, daß in der Ausgangssituation ein Potential liegt. Die Gedanken der Protagonistin, es einfach darauf ankommen zu lassen, ein Provozieren der Begegnung, ihre Unsicherheit in den Momenten, in denen es dann so weit sein könnte, das gefiel mir, wurde plastisch, real.

Die Formulierungen halte ich an einigen Stellen noch für überarbeitungswürdig. Gerade am Anfang reihen sich einfache Aussagesätze, an einer anderen Stelle heißt es:

Am Anfang ging noch alles gut. [...] Aber auf die Dauer ging das nicht gut.

Die Geschichte kann durch eine Überarbeitung sicherlich noch viel gewinnen.

 
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Hallo Cbrucher,
vielen Dank für deinen Beitrag.
Dies ist eine ältere Storys von mir, eine von meinen 'besseren' Anfangsgeschichten bei KG - einige meiner alten Storys, das muss
ich im nachhinein zugeben - waren ziemlicher Schrott :) :)

Ich hab mir die Geschichte noch mal durchgelesen und finde, da könnte ich noch einiges ändern, insbesondere an der Kommunikation - da muss ich Maus recht geben. Wenn man eine Geschichte nach längerer Zeit wieder liest, kriegt man doch einen ganz anderen Abstand dazu. Ein paar Fehler in der Silbentrennung habe ich auch noch gefunden und verbessert. Für den Rest nehme ich mir mal viel Zeit - aber ich denke, ich ändere vorerst am Schluss nichts ab.

LG
Leia4e

 

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