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Guess Who
Wer ist es? Eine bittersüße Kindheitskonserve aus einem kantigen Karton liegt vor mir im Regal. Stich in der Brust, mein Puls rast mir davon und mein Herz rennt träge hinterher. Wer gewinnt den Marathon und wen haut es wohl auf dem Weg um? Die Silhouette schmal, sie lüftet das Konservenglas mit angehobenem Kinn und ich spüre das Kind, das in mir keimt, mit Trotz in den Augen und Rotz um die Nase. Nostalgie, die gedeiht, doch nichtsdestotrotz bleibt mein Körper alt. Lust auf eine Runde Selbstheilkunde mit fast vergessener Spieltafel aus alter Zeit? Der Weg zum Spielziel scheint machbar, aber weit. Los geht’s, ich bin bereit!
Düfte der Vergangenheit vermischt mit Staub zwischen Klappen und Klappen zwischen Staub. Zwei Mal klirrendes Wellenrauschen und zwei Mal richten sich vierundzwanzig Personen auf. Wir haben Augenkontakt und kennen uns schon längst. Ich weiß wie es sich anhört, wenn du fällst, sage ich zu Katrin, Paul und Charles und stoße sie unbedacht ins Verderben. Kinder sind ehrlich. Schon damals fand ich die Gesichtszüge zu erwachsen, zu ernst und irgendwie entbehrlich. Paul war mir zu weiblich, Katrin zu arrogant, Charles zu aggressiv – verrückt welche Ideenfolgen glänzende Glatzen, hochwertige Hüte und buschige Brauen im kindlichen Ich veranlassten. Ich taste weiter, weiche Lukas und Thomas aus, will sie plötzlich doch alle anfassen und fahre mit meinem Finger über das blaue Plastik, bis ich Maria berühre. Maria steht ganz links unten mit dem Malerhut und den frechen roten Haaren. Malerhut-Maria mit den meerblauen Augen. In meiner Vorstellung war ihre Art der meinen ähnlich, denn wir waren irgendwie seelenverwandt. Äußerlich waren wir der Inbegriff von Ambivalenz, doch sie gefiel mir aus mir unbekannten Gründen und heute hat der Grund einen Namen. Ambivalenz, Abwertung und Ideal geben sich die Hand und heute weiß ich zumindest, dass es kein Malerhut ist, und man die grüne Kopfbedeckung auf ihrem kupfernen Schopf eine Baskenmütze nennt. Wenn man mich kennt, dann weiß man, dass Verfremdung es mir leicht macht, mir Nähe zuzugestehen. Ich habe mich total in sie alle verrannt, hatte eine Familie mit Vater Hans, Mama Sophie, Bruder Michael. Mein Bruder heißt Kevin und ich fand den Namen schon blöd, bevor er blöd geworden ist.
Peter und Anne links daneben waren ein Paar, das war mir von Anfang an schon klar, denn beide hatten weißes Haar. Es konnte gar nicht anders sein, damals trog er nie, der Schein – zumindest als Kind konnte ich radikal akzeptieren. Joe war der neugierige Enkel von Anne, den alle mochten außer Daniel. Daniel war heimlich verliebt in Anne und Joe war neugierig, denn er stand zwischen den beiden – früher habe ich mir die Dinge leicht gemacht. Komplizierter wurde es erst ein paar Jahre später, nicht mehr ganz so sehr Kind. Ich malte mir aus, wie Anne und Daniel sich heimlich anfassten und es ihnen gefiel. Sarah bekam es mit und erzählte es ihrem Opa Victor, der mit Peter befreundet war. Das Geschrei war groß und es wurde viel gelästert, viel gelogen und schlussendlich interveniert. Türen flogen trotzdem und auch die vergossenen Tränen kehrten nicht wieder in den Kanal zurück. Ich war erleichtert, dass schlussendlich alles gut lief und alle sich vertrugen, denn auch meine echten Eltern konnten wieder zueinander finden. Endlich vorbei die Zeit des Leugnens und Schweigens, denn meine Augen hielten das Brennen nicht mehr aus, das entstand, wenn man sah, aber nicht verstand. Ich begann zu begreifen, wie gebrechlich Grundvertrauen doch sein kann, waren meine Eltern doch immer für mich da, aber nicht immer füreinander. Für Mama Sophie und Vater Hans sollte es viel besser laufen, dachte ich, denn Betrügen war schlecht, Verletzen scheußlich und Verluste noch schlimmer. Ich war alt genug, um Jungs wieder zu mögen und so kam es, dass auch ich betrog, verletzte und verlor und folglich in Schuld badete.
Eric wurde zu meinem engsten Vertrauten, denn auf ihn konnte ich sicherlich bauen, da er ja nur eine Karte war. Gefühle zeigen fiel zunächst leicht, dann nicht mehr, denn Teenager schreien, weinen, wüten und lachen und jede Emotion trägt einen Stempel mit dem Wort „Selbstfindungsprozess“. Schon werden alle Sachen, die Teens zwangsläufig machen, irgendwie legitimiert und abgetan. Meine Schreie waren zu laut, mein Weinen zu bitterlich, mein Wüten unbezwingbar und mein Lachen gespielt. Ich lernte, dass man das Pubertät nenne und fragte mich, warum es so schrecklich weh tat mich zu finden und wann ich mich denn endlich kenne. Drei harte Jahre gingen vorbei und ich traf Eric wieder, der plötzlich keine Flöße mehr bauen wollte und Haare im Gesicht trug. Mein Körper war klein und gefunden hatte ich nichts, außer Verwüstung und Verachtung für mein halberwachsenes Dasein, ich war irgendwie nichts Ganzes. Eric wollte aufs Ganze und nicht länger auf mich warten und so knickte ich zum ersten Mal ein und ließ lieber Mal die anderen machen und entscheiden. Ich fügte mich und verlangte dafür, dass sie mich formten.
Ich schrecke auf aus den Gedanken und schwanke mit meinem Blick über die restlichen Klappkarten – restlos Männer. Damals fand ich sie noch doof – und das einfach so – heute habe ich Gründe gesammelt. Ironie, die es ist, schüttle ich meinen Kopf über mein dummes, naives Ich und bringe die Gesichter mit einer Bewegung zum Schweigen.
Ich bin allein, niemand nimmt Blickkontakt zu mir auf und mittlerweile ist es Nacht. Kontaktlos schaue ich aus dem Fenster, in dem ich meine nackte Hülle erkenne. Sie ist leicht und leer und sonderbar gemischte Gedanken erdrücken sie, die fünfundzwanzigste Person im Raum. Wenn noch ein Kopf steht, weiß man, wer gewonnen hat. Ich fixiere das Fenster, schaue der Auserwählten in die Augen und fühle mich wie ein Verlierer, wie kann das sein? So viele Geschichten und Charaktere mussten für sie sterben, so viele Fantasien umsonst gedacht. Ein Gewinner bin ich noch lange nicht, denke ich, und blicke in das verängstigte Gesicht der Person, die es mir möglich macht. Ich forme meine tauben Lippen zu Worten und als würde sie mir gehorchen, spielt die einsam Überlebende mein Spiel mit. Ein Hauch von Satz schwingt ihr entgegen und mit reproduzierter Unsicherheit flüstert sie verlegen zu mir zurück: „Wer ist es?“