Halbes Leben
Der Hörsaal ist zur Hälfte mit jungen Studenten gefüllt. Der Professor steht vorn und schreibt in schnellen Zügen das heutige Thema an die Tafel.
»Willkommen meine Damen, Herren und zukünftige Neurochirurgen. Wie Sie sehen, geht es heute Vormittag um Neuroimplantate und Kortikalprothesen der Stufe Zwei: künstliche Hemisphären.
Äh, Paul, würden Sie bitte das Anschauungsobjekt hereinbringen? Danke.«
Der Assistent verlässt den Saal durch den Seiteneingang.
»Ich werde Ihnen gleich den ehemaligen Herbert K. vorstellen, Träger eines solchen Implantates, genauer gesagt des HASS Version 1b von der Firma CySytems. Ich weiß, dass solch ein Anblick für angehende Ärzte noch ein wenig, nun ja, schockierend sein muss, daher warne ich sie schon mal im Voraus.«
Der Assistent kehrt zurück. Er schiebt dabei einen Rollstuhl vor sich her, auf dem starr und ohne jede Regung ein Mann mittleren Alters sitzt.
Licht. Hoch.
Anstelle seiner linken Schädelhälfte hat der Mann nur eine dünne, durchsichtige Plastikkappe, die Einblick ins Innere seines Kopfes gewährt.
Einige Studenten ächzen entsetzt.
»Stöhnen Sie ruhig. Wem übel wird, der darf heute ausnahmsweise den Saal verlassen. Alle anderen können ein Stückchen näher kommen, wenn sie wollen.
Gut so, aber lassen Sie mir noch ein wenig Platz!«
Lärm. Dinge.
»Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, fehlt dem Objekt die komplette linke organische Hemisphäre. Diese musste in einer Notoperation vor einigen Wochen entfernt werden. Ursachen waren eine offene Fraktur der Schädelbasis, Blutungen und übermäßiger Materialverlust aufgrund eines Verkehrsunfalls.
Das Interessante an diesem Fall ist nun, dass das Objekt bereits vorher eine künstliche rechte Hemisphäre besaß, die ihm als einem der ersten überhaupt vor zirka fünf Jahren eingesetzt worden ist. Die Gründe für die damalige Operation sind jedoch für uns nicht weiter von Belang. Glücklicher Weise ist die Syntho-Hemisphäre bei dem Unfall nicht verletzt worden und intakt geblieben.
Lenken Sie ihr Augenmerk nun bitte etwas genauer auf diese künstliche Hirnhälfte. Beachten Sie die kybernetisch-kortikale Verbindung zum Rückenmark und dem Stammhirn. Auch werden künstliche synaptische Bahnen zur Hypophyse geleitet, die ja einen Großteil des Hormonhaushaltes steuert.
Wie ihnen vielleicht auffällt, atmet das Objekt selbstständig. Weiterhin werden der Herzschlag und die niederen Körperfunktionen selbstregelnd kontrolliert. Die kleinen Lichter dort an den Busverbindungen zeigen die unentwegte Tätigkeit an. Es muss lediglich fremdernährt werden über diesen Tubus am Hals, da die Kaumuskulatur nicht mehr aktiviert werden kann.
Aber verwechseln Sie das bitte nicht mit Leben. Das Anschauungsobjekt ist per Definition von 2012 hirntot. Die Angehörigen waren so freundlich, uns den Leichnam zu Studienzwecken zu überlassen,... damit wir den Markt mit noch mehr unerfahrenen Kurpfuschern wie Ihnen überfluten können.«
Er lacht über seinen Witz.
»Scherz beiseite!
Trotz der – wie Ihnen hoffentlich allen bekannt ist – eher als niedrig einzustufenden Anpassungsfähigkeit der momentanen Syntho-Hemisphären, übernehmen sie nach einer gewissen Einarbeitungszeit grundlegende motorische und sensorische Steuerungsfunktionen. Leider ist, wie gesagt, die neuronale Technik noch nicht so weit, um auch höhere Hirnfunktionen zu unterstützen. Daher ist immer eine zweite, vollständig intakte Gehirnhälfte von Nöten.
Nichts desto trotz ist das Objekt hier, dank des medizinischen Fortschritts, selbst über den Tod der Person hinaus zu gewissen physischen Reaktionen fähig.
Ich demonstriere es Ihnen mal, wie es geht: Stellen Sie sich davor. Schauen Sie ihm direkt ins Auge. Und geben Sie einen möglichst einfachen Befehl. Etwa... Aufstehen!«
Die Pupillen des Anschauungsobjekts weiten sich.
Aufstehen.
Unter leisem Knarren und Ächzen des Rollstuhls erhebt sich Herbert K.
»Setzen!«
Setzen.
Das Anschauungsobjekt fällt zurück in den Rollstuhl.
»So jetzt habe ich aber genug geredet. Wenn Sie wollen, dürfen Sie sich nun selbst mal daran probieren, aber bitte seien Sie vorsichtig und machen mir mein Modell nicht kaputt. Andere Studenten nach Ihnen wollen es vielleicht auch noch sehen!«
Er lacht wieder und tritt zur Seite. Schnell drängeln sich einige Studenten davor. Andere schauen neugierig über ihre Schultern. Sie befehlen dem Objekt immer wieder aufzustehen und sich hinzusetzen. Nach einer Weile schlägt einer vor, doch mal den Arm heben zu lassen.
Auf einem Bein stehen!
Hüpfen!
Tanzen!... Herbert reagiert nicht mehr.
»Diese Tätigkeit ist direkt mit höheren kognitiven Fähigkeiten verbunden, und daher außerhalb der Möglichkeiten des Objekts.
Ich denke, dass sollte jetzt ohnehin genügen. Die Vorlesungsstunde ist vorüber. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihr Interesse und sehe Sie dann morgen wieder zum zweiten Teil, der mit Sicherheit genauso unterhaltsam wird.
Paul, bringen Sie Herbert bitte wieder raus.«
Herbert?... Ich?... Ich Herbert. Ich Herbert! Ich...
»...Herbert!«
Der Professor sieht verdutzt zum leblos vor sich hinstarrenden Anschauungsobjekt.
»Oh, das ist ja interessant. Offensichtlich ein gutturaler Reflex! Aber die Kontrolle über die Sprachmotorik sollte eigentlich verlorengegangen sein. Ich werde mir das wohl irgendwann in den nächsten Monaten mal genauer anschauen müssen, wenn ich Zeit hab.«
HASS = Human Artificial Synaptic System