Haverkamp/Münster, nachts um halb vier
Unter der Woche führe ich ein normales Leben. Ich arbeite als Maler. Meine Welt sind die Farben. Ich streiche gerne. Und ich verdiene nicht schlecht.
Meine Eltern haben mich, als ich achtzehn wurde, vor die Tür gesetzt.
Das hatte mit meinem zweiten Leben zu tun, das ich am Wochenende führe.
Am Wochenende verkaufe ich Drogen.
Die Sache ist einfach. Ich kaufe günstig ein und verkaufe teurer. Ich sehe mich als einen Dienstleister. Die Nachfrage ist da, ich stelle das Angebot. Was der Kunde begehrt, bekommt er.
Manche nennen mich einen Kriminellen. Dealer oder Junkie.
Dabei verkaufe ich Träume. Ich habe die Fähigkeit, Menschen glücklich zu machen.
Ihnen ihre Träume zu erfüllen. Ist das verwerflich?
Wenn ja, interessiert es mich nicht. Ich bin kein Idealist, kein Moralist. Ich bin pragmatisch. Ich bin rationell.
Sicherlich gehe ich Risiken ein. Werde ich erwischt, werde ich angeklagt. Eine Strafe ist wahrscheinlich bei den Mengen, die ich verkaufe. Ich würde meinen Job als Maler verlieren. Mein Meister ist einer dieser Menschen, die ihre Träume in Alkohol ertränken. Er hätte kein Verständnis für meine Auffassung von einem erfüllten Leben. Er denkt schwarz, ist konservativ. Das ist normal hier auf dem Dorf. Ich hingegen bin innovativ, wenn man das so sagen kann.
Und ich bin vorsichtig. Das ist das Geheimnis. Ich beobachte die Menschen, denen ich Träume verkaufe. An der Körpersprache eines Menschen kann man viel über seine Gedanken erfahren. Sind sie zu freundlich oder zu cool, sind sie verdächtig.
Ich arbeite im Haverkamp. Das ist ein altes Industriegelände in Münster, nahe der Münsterlandhalle. Hier gibt es einen Club, das Fusion. Jeden Freitag treffen sich hier diejenigen, die die Nächte auf der Tanzfläche durchfeiern. Hier verkaufe ich XTC und Speed. Manchmal auch LSD. Je nach Nachfrage.
Es sind meistens die gleichen Leute, die sich hier treffen. Sie kommen aus allen Schichten der Gesellschaft, glauben Sie mir. Es ist ein Klischee, dass nur Arbeiter und sozial schwache Menschen Drogen konsumieren. Wobei diese Gruppe sicherlich den Großteil bildet. Ist doch auch verständlich, schließlich ist die Arbeit auf dem Bau oder auf dem Dach keine, die innerlich erfüllt. Unter der Woche ist kein Platz für Träume.
Der kommt erst in den Nächten des Wochenendes.
Der typische Kunde kauft bei mir etwa vier Tabletten und bezahlt dafür zwanzig Euro. Ich habe etwa zwanzig Kunden pro Nacht, also verdiene ich vierhundert Euro. Jeder Monat hat vier Freitage, also komme ich auf 1600 Euro. Nach Abzug der Kosten bleiben mir rund 800 Euro. Das ist das Risiko wert. Man kann schnell reich werden, wenn man sich geschickt anstellt. Pro Jahr verdiene ich etwa 10000 Euro. Seit nunmehr vier Jahren ziehe ich das Ding durch. Ich spare jeden Cent. So werde ich irgendwann einmal ein eigenes Haus haben. Ein größeres Haus als meine Eltern es haben. Das befriedigt.
Etwa zweimal pro Nacht tauchen die Bullen auf. Sobald sie auf die Straße einbiegen, die zum Fusion führt, klingelt mein Handy. Dann warnt mich ein Freund und ich verstecke meine Sachen. Er bekommt dafür sieben Tabletten. Ein guter Deal. Für uns beide.
Manchmal setzen die Bullen einen Ermittler ab. Man erkennt sie recht schnell. Fremde Gesichter lassen mich vorsichtig werden. Und wenn dann die typische Frage kommt „Hast du XTC?“, dann verneine ich.
Einmal hat ein Kollege von mir einem solchen Typen Teile verkauft, und als er das Geld genommen hatte, drehte der Typ ihm die Arme auf den Rücken. Sekunden später fuhr auch schon der Bullenwagen die Straße entlang.
Ich habe es aus dem Schatten heraus gesehen. Blitzschnell ging das. Die Bullen verstehen etwas von Nahkampf. Keine Frage. Ich habe Respekt vor ihnen. Aber keine Angst.
Für die Teile, die sie gefunden hatten, musste er 100 Sozialstunden ableisten. Graffitis entfernen. Das wäre nichts für mich. Deshalb bin ich vorsichtig.
Wenn man wie ich nüchtern bleibt, dann sieht man so gegen vier, fünf Uhr morgens ziemlich verpeilte Leute. Bei Temperaturen um null Grad schlurfen sie mit T-Shirt herum. Auf ihren Gesichtern tobt eine Kirmes. Zuckungen, Fratzen, nach innen rollende Augen – das ist normal. Schließlich verkaufe ich gutes Zeug. Dann kommen sie nächstes Mal wieder.
Ob sie mir Leid tun?
Nein. Wer seine Träume verwirklicht, muss mit den Folgen rechnen. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Es tut mir nur Leid, wenn einige nicht wiederkommen. Eine Nebenwirkung meiner Produkte ist, dass sie körperlich nicht ohne sind. Nieren können versagen, Psychosen ausgelöst werden. Dann tun mir die Leute Leid: dann kaufen sie so schnell nämlich keine Drogen mehr.
Wo Licht ist, ist auch Schatten. Das ist eine Berufsweisheit. Schließlich bin ich auch Maler.
Ich sagte bereits, dass ich schon lange Drogen verkaufe. Mit der Zeit beginnt man, sich zu fragen, warum ein Produkt so gut läuft. Das ist eine marktwirtschaftliche Überlegung. Ich erwähnte auch, dass ich Träume verkaufe.
Träume sind Fantasie. Fantasie ist die Möglichkeit, die Realität zu verlassen. Man könnte daher sagen, dass Träume eine Flucht aus der Realität sind. Aus dem wirklichen Leben. Die Gründe dafür sind vielfältig: trister Alltag, zerrüttete Familien, Stress mit der Freundin, anders als die Norm sein wollen, Komplexe, sich geborgen fühlen bei den Feierfreunden, immer gut drauf sein. Das sind die Triebfedern. Deshalb kommen die Leute zu mir. Und ich bin in dieser Hinsicht Philanthrop. Ich helfe, Träume zu verwirklichen.
Manch einer, der meine Gedanken liest, könnte mich zynisch oder sarkastisch finden. Das sind wohl die Menschen, die an eine heile Gesellschaft, ein funktionierendes System mit Normen glauben. Ich habe nichts gegen diese Menschen. Ich wuchs bei solchen auf, ich arbeite für einen. Aber ich lehne es ab, diese Illusion zu leben. Ich glaube an keine idealisierte Gesellschaft. Ich glaube nicht an Konvention, und dass Konvention das menschliche Zusammenleben bereichert. Ich kenne das konservative Leben. Aber ich lebe es nicht.
Vielleicht bin ich Opportunist. Ich brauche die Gesellschaft, denn ohne die Gesellschaft würden meine Kunden nicht das Bedürfnis haben, meine Ware zu kaufen. Die Gesellschaft ist es, die meine Kunden in den Haverkamp gehen lässt. Ohne sie stünde ich schlecht da.
In dieser Hinsicht bin ich all denen dankbar, die das System aufrechterhalten. Sie ebnen mir quasi den Weg, sie initiieren mein zweites Leben.
Und es kommt ab und zu auch vor, dass jemand, der eindeutig zu den Menschen gehört, die dieses System befürworten, zu mir kommt.
Ich erinnere mich da an einen Jungen, der offensichtlich nicht vorhatte, im Fusion zu feiern. Wer im Fusion feiert, der kleidet sich entsprechend. Eine bestimmte Art von Klamotten und Frisur ähneln sich bei allen, die feiern. Dieser Junge aber hatte eine dicke Daunenjacke an. Niemand trägt, nachdem er meine Produkte genommen hat, eine Daunenjacke. Also war es logisch, dass er entweder etwas für zuhause haben wollte oder aber ein Zivilbulle war.
Da ich zweites nicht ausschließen konnte, verneinte ich die typische Frage, ob ich etwas zu verkaufen hätte.
Auch alle anderen taten das. Das Risiko war einfach zu groß.
Er wartete noch zwei Stunden, dann ging er wieder.
Jeder machte sich lustig über ihn. Er war ein Außenseiter in der Haverkamp-Gemeinde. Genauso, wie viele hier Außenseiter der Gesellschaft sind.
Wenn ich mir durchlese, was ich hier gerade schreibe, dann frage ich mich, warum ich das tue. Habe ich einen Grund dazu? Klage ich mich damit nicht selber an?
Gewiss nicht!
Ich bereue nicht, was ich mache. Ich habe mich bewusst für dieses zweite Leben entschieden. Vielleicht hat jeder Mensch einmal das Bedürfnis, zu reflektieren.
Ich verspreche mir nichts davon.
Weder eine Läuterung meines Gewissens noch moralische Komplexe veranlassen mich zu dieser Entscheidung.
Vielleicht ist meine Motivation zu zeigen, dass es auch solche Menschen gibt.
Menschen wie mich.