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Haverkamp/Münster, nachts um halb vier

jbk

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17.06.2003
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Haverkamp/Münster, nachts um halb vier

Unter der Woche führe ich ein normales Leben. Ich arbeite als Maler. Meine Welt sind die Farben. Ich streiche gerne. Und ich verdiene nicht schlecht.
Meine Eltern haben mich, als ich achtzehn wurde, vor die Tür gesetzt.
Das hatte mit meinem zweiten Leben zu tun, das ich am Wochenende führe.
Am Wochenende verkaufe ich Drogen.

Die Sache ist einfach. Ich kaufe günstig ein und verkaufe teurer. Ich sehe mich als einen Dienstleister. Die Nachfrage ist da, ich stelle das Angebot. Was der Kunde begehrt, bekommt er.
Manche nennen mich einen Kriminellen. Dealer oder Junkie.
Dabei verkaufe ich Träume. Ich habe die Fähigkeit, Menschen glücklich zu machen.
Ihnen ihre Träume zu erfüllen. Ist das verwerflich?
Wenn ja, interessiert es mich nicht. Ich bin kein Idealist, kein Moralist. Ich bin pragmatisch. Ich bin rationell.
Sicherlich gehe ich Risiken ein. Werde ich erwischt, werde ich angeklagt. Eine Strafe ist wahrscheinlich bei den Mengen, die ich verkaufe. Ich würde meinen Job als Maler verlieren. Mein Meister ist einer dieser Menschen, die ihre Träume in Alkohol ertränken. Er hätte kein Verständnis für meine Auffassung von einem erfüllten Leben. Er denkt schwarz, ist konservativ. Das ist normal hier auf dem Dorf. Ich hingegen bin innovativ, wenn man das so sagen kann.

Und ich bin vorsichtig. Das ist das Geheimnis. Ich beobachte die Menschen, denen ich Träume verkaufe. An der Körpersprache eines Menschen kann man viel über seine Gedanken erfahren. Sind sie zu freundlich oder zu cool, sind sie verdächtig.
Ich arbeite im Haverkamp. Das ist ein altes Industriegelände in Münster, nahe der Münsterlandhalle. Hier gibt es einen Club, das Fusion. Jeden Freitag treffen sich hier diejenigen, die die Nächte auf der Tanzfläche durchfeiern. Hier verkaufe ich XTC und Speed. Manchmal auch LSD. Je nach Nachfrage.
Es sind meistens die gleichen Leute, die sich hier treffen. Sie kommen aus allen Schichten der Gesellschaft, glauben Sie mir. Es ist ein Klischee, dass nur Arbeiter und sozial schwache Menschen Drogen konsumieren. Wobei diese Gruppe sicherlich den Großteil bildet. Ist doch auch verständlich, schließlich ist die Arbeit auf dem Bau oder auf dem Dach keine, die innerlich erfüllt. Unter der Woche ist kein Platz für Träume.
Der kommt erst in den Nächten des Wochenendes.

Der typische Kunde kauft bei mir etwa vier Tabletten und bezahlt dafür zwanzig Euro. Ich habe etwa zwanzig Kunden pro Nacht, also verdiene ich vierhundert Euro. Jeder Monat hat vier Freitage, also komme ich auf 1600 Euro. Nach Abzug der Kosten bleiben mir rund 800 Euro. Das ist das Risiko wert. Man kann schnell reich werden, wenn man sich geschickt anstellt. Pro Jahr verdiene ich etwa 10000 Euro. Seit nunmehr vier Jahren ziehe ich das Ding durch. Ich spare jeden Cent. So werde ich irgendwann einmal ein eigenes Haus haben. Ein größeres Haus als meine Eltern es haben. Das befriedigt.

Etwa zweimal pro Nacht tauchen die Bullen auf. Sobald sie auf die Straße einbiegen, die zum Fusion führt, klingelt mein Handy. Dann warnt mich ein Freund und ich verstecke meine Sachen. Er bekommt dafür sieben Tabletten. Ein guter Deal. Für uns beide.
Manchmal setzen die Bullen einen Ermittler ab. Man erkennt sie recht schnell. Fremde Gesichter lassen mich vorsichtig werden. Und wenn dann die typische Frage kommt „Hast du XTC?“, dann verneine ich.
Einmal hat ein Kollege von mir einem solchen Typen Teile verkauft, und als er das Geld genommen hatte, drehte der Typ ihm die Arme auf den Rücken. Sekunden später fuhr auch schon der Bullenwagen die Straße entlang.
Ich habe es aus dem Schatten heraus gesehen. Blitzschnell ging das. Die Bullen verstehen etwas von Nahkampf. Keine Frage. Ich habe Respekt vor ihnen. Aber keine Angst.
Für die Teile, die sie gefunden hatten, musste er 100 Sozialstunden ableisten. Graffitis entfernen. Das wäre nichts für mich. Deshalb bin ich vorsichtig.

Wenn man wie ich nüchtern bleibt, dann sieht man so gegen vier, fünf Uhr morgens ziemlich verpeilte Leute. Bei Temperaturen um null Grad schlurfen sie mit T-Shirt herum. Auf ihren Gesichtern tobt eine Kirmes. Zuckungen, Fratzen, nach innen rollende Augen – das ist normal. Schließlich verkaufe ich gutes Zeug. Dann kommen sie nächstes Mal wieder.
Ob sie mir Leid tun?
Nein. Wer seine Träume verwirklicht, muss mit den Folgen rechnen. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Es tut mir nur Leid, wenn einige nicht wiederkommen. Eine Nebenwirkung meiner Produkte ist, dass sie körperlich nicht ohne sind. Nieren können versagen, Psychosen ausgelöst werden. Dann tun mir die Leute Leid: dann kaufen sie so schnell nämlich keine Drogen mehr.
Wo Licht ist, ist auch Schatten. Das ist eine Berufsweisheit. Schließlich bin ich auch Maler.

Ich sagte bereits, dass ich schon lange Drogen verkaufe. Mit der Zeit beginnt man, sich zu fragen, warum ein Produkt so gut läuft. Das ist eine marktwirtschaftliche Überlegung. Ich erwähnte auch, dass ich Träume verkaufe.
Träume sind Fantasie. Fantasie ist die Möglichkeit, die Realität zu verlassen. Man könnte daher sagen, dass Träume eine Flucht aus der Realität sind. Aus dem wirklichen Leben. Die Gründe dafür sind vielfältig: trister Alltag, zerrüttete Familien, Stress mit der Freundin, anders als die Norm sein wollen, Komplexe, sich geborgen fühlen bei den Feierfreunden, immer gut drauf sein. Das sind die Triebfedern. Deshalb kommen die Leute zu mir. Und ich bin in dieser Hinsicht Philanthrop. Ich helfe, Träume zu verwirklichen.

Manch einer, der meine Gedanken liest, könnte mich zynisch oder sarkastisch finden. Das sind wohl die Menschen, die an eine heile Gesellschaft, ein funktionierendes System mit Normen glauben. Ich habe nichts gegen diese Menschen. Ich wuchs bei solchen auf, ich arbeite für einen. Aber ich lehne es ab, diese Illusion zu leben. Ich glaube an keine idealisierte Gesellschaft. Ich glaube nicht an Konvention, und dass Konvention das menschliche Zusammenleben bereichert. Ich kenne das konservative Leben. Aber ich lebe es nicht.

Vielleicht bin ich Opportunist. Ich brauche die Gesellschaft, denn ohne die Gesellschaft würden meine Kunden nicht das Bedürfnis haben, meine Ware zu kaufen. Die Gesellschaft ist es, die meine Kunden in den Haverkamp gehen lässt. Ohne sie stünde ich schlecht da.
In dieser Hinsicht bin ich all denen dankbar, die das System aufrechterhalten. Sie ebnen mir quasi den Weg, sie initiieren mein zweites Leben.

Und es kommt ab und zu auch vor, dass jemand, der eindeutig zu den Menschen gehört, die dieses System befürworten, zu mir kommt.
Ich erinnere mich da an einen Jungen, der offensichtlich nicht vorhatte, im Fusion zu feiern. Wer im Fusion feiert, der kleidet sich entsprechend. Eine bestimmte Art von Klamotten und Frisur ähneln sich bei allen, die feiern. Dieser Junge aber hatte eine dicke Daunenjacke an. Niemand trägt, nachdem er meine Produkte genommen hat, eine Daunenjacke. Also war es logisch, dass er entweder etwas für zuhause haben wollte oder aber ein Zivilbulle war.
Da ich zweites nicht ausschließen konnte, verneinte ich die typische Frage, ob ich etwas zu verkaufen hätte.
Auch alle anderen taten das. Das Risiko war einfach zu groß.
Er wartete noch zwei Stunden, dann ging er wieder.
Jeder machte sich lustig über ihn. Er war ein Außenseiter in der Haverkamp-Gemeinde. Genauso, wie viele hier Außenseiter der Gesellschaft sind.

Wenn ich mir durchlese, was ich hier gerade schreibe, dann frage ich mich, warum ich das tue. Habe ich einen Grund dazu? Klage ich mich damit nicht selber an?
Gewiss nicht!
Ich bereue nicht, was ich mache. Ich habe mich bewusst für dieses zweite Leben entschieden. Vielleicht hat jeder Mensch einmal das Bedürfnis, zu reflektieren.
Ich verspreche mir nichts davon.
Weder eine Läuterung meines Gewissens noch moralische Komplexe veranlassen mich zu dieser Entscheidung.
Vielleicht ist meine Motivation zu zeigen, dass es auch solche Menschen gibt.
Menschen wie mich.

 

Hallo jbk,

Du hast mich mitgerissen mit Deiner Geschichte. In einer sprachlich durch die kurzen Sätze gut formulierten Kühle und Rationalität beschreibst Du das Leben eines Malers/Dealers aus dessen Perspektive. Die direkte Ansprache des Lesers hierbei ist Geschmackssache.

Zwei Sätze zum Anfang und Ende Deiner Geschichte: Der Beginn hat mir gut gefallen; ein Einstieg, der neugierig macht. Das Ende ist aus meiner Sicht fast schon zu viel, da sich Dein Prot zu sehr in Frage stellt. Denn trotz der Kühle wird der ein oder andere Gewissensbiß zwischen den Zeilen deutlich, ich weiß nicht, ob Du das wolltest. Grundsätzlich stellt sich mir schon die Frage: ein Mensch, der in der Lage ist, sein Verhalten nicht nur zu beschreiben sondern ja auch zu reflektieren, ist der in der Lage dermaßen berechnend zu handeln? Wohl schon... Und an Deiner Geschichte wird eins noch sehr schön deutlich, nämlich
wie unglaublich kreativ Menschen sind, wenn es darum geht sich ihre Realität so zu konstruieren, wie sie sie gerade brauchen.

Es ist immer wieder erschreckend zu sehen, wie viele Menschen sich mit den Schwächen der Gesellschaft arrangieren, weil sie letztendlich davon profitieren. Insofern ist das Suchverhalten der Konsumenten genau so Flucht wie das Verhalten Deines Prots, der sich von einem aktiven Einflussnehmen auf die Verhältnisse genauso drückt.

Wie gesagt: hat mir gefallen, Deine Geschichte.

Liebe Grüße,
Juschi

 

Hallo Juschi,

auch dir ein "Sorry" fürs lange Warten. Der Überblick ist mir ein wenig verloren gegangen, aber besser spät als nie und ... naja, um aufs Thema zu kommen:
Deine Interpretation finde ich gelungen. Und zwar deshalb, weil sie mir - wie jede gute Interpretation - eine neue Betrachtungsperspektive aufgezeigt hat:
Einserseits mit der Konstruktion der Realität, andererseits die Einflussnahme auf die Verhältnisse und der Fluchtgedanke.
Letzteres machte mich zuerst stutzig, weil ich nur wenig damit anfangen konnte.
Und Ersteres leuchtete mir zuletzt ein.

Dass dir die Form - Einstieg, Satzbau, etc - gefallen hat, freut mich. Könntest du vielleicht die "GEwissensbisse zwischen den Zeilen" konkretisieren; interessiert mich, wo sie zutage treten.

G
Jan

 

Hallo jbk,

dann widme ich mich nochmal den Gewissensbissen. Deutlich werden diese aus meiner Sicht zum einen an Fragen wie zum Beispiel

Ist das verwerflich?
oder
Ob sie mir Leid tun?
, in denen Dein Prot versucht, die Einwände der Zuhörer/Leser vorwegzunehmen. Er versucht sich zu rechtfertigen - wenn er ein reines Herz hätte, würde er das nicht müssen. Besonders habe ich wie bereits geschrieben im letzten Absatz das Gefühl gehabt, dass Dein Prot sich in Frage stellt und nicht so sehr hinter dem Dealen steht, wie er vorgibt. Aber das ist mit Sicherheit Ansichtssache.

Freut mich auf jeden Fall, das Du was mit meiner Interpretation anfangen konntest.

Liebe Grüße von
Juschi

 

Du hast die Meisterleistung vollbracht und einen "Drogentypen" ohne die typischen Klischees in realem Licht beschrieben. Das macht deinen Text zu etwas Besonderem, zu etwas Freiem, der Text existiert ohne gesellschaftliche Standardsichtweisen, die wir alle von klein auf eingeimpft bekamen.

 

Hallo jbk,
deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen, deutlich beschreibst Du wie der Protagonist sein Umfeld, seine Kunden sieht. Auf der einen Seite sagt er sich Etwas gutes zu tun, illusionen zu verkaufen, auf der anderen Seite steigen leichte "gewissensbisse" in ihm auf, denen er keine beachtung schenkt. Die Art wie Du das ganze beschreibst, zwar aus der Sicht des Protagonisten, aber dennoch sehr nüchtern und klar, ist richtig gut.
Ursprünglich hat mich die Geschichte angeregt, weil ich den Haverkamp kenne und seber eine zeit lang dort zugegen war. Auch in diesem Punkt muss ich sagen hast du sehr schön und authentisch beschrieben, die Stimmung, die Leute...die kalte, falsche, verpeilte Drogenwelt...
Also noch mal kurz und knapp...war nett zu Lesen Deine Geschichte
Lieben gruss jesa

 

Hallo Juschi,

diese Fragen sind rhetorisch gestellt - der Prot. beantwortet sie aus seiner Sicht mit einem eindeutigen Nein!
Aber ich will der Interpretation des Lesers natürlich keinen Riegel vorschieben. Immer dann, wenn mehrere Möglichkeiten zutreffen könnten, freue ich mich natürlich. :)

Hi Jingles,

ich fühle mich geehrt ;)
Schreiber aller Länder: vereinigt euch gegen die Klischees!!!*hehe*
Freut mich, dass es gelungen scheint... hoffe nur, dass dies nicht auch irgendwann zu einem Klischee wird.

Hi jesa,

auch mich haben Erfahrungen zu dieser Geschichte angeregt. Die Leute dort sind, psychologisch gesehen, recht interessante "Objekte". Mich hat einfach die Fragestellung interessiert, wie sie denken, nach welchen Maßstäben sie handeln. Wenn ich damit die Wirklichkeit getroffen habe, ist das schön - schön traurig...

Lg
Jan

P.s.
Hey, ist euch aufgefallen, dass dieser Thread nur von "J" genutzt wird? :D

 

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