Heimkehr ins Unbekannte
Die schwere Holztür quietscht. Langsam gehe ich in den großen Raum. Hell, anheimelnd erscheint er mir. Warm, fast heiß gegen die Kälte die draußen herrscht. Ich schließe schnell die Tür. Schließe die Kälte aus.
Fühle mich sofort besser.
Wie schön es hier ist.
Ein paar runde Tische, nicht zu wenige, nicht zu viele.
Auf jedem Tisch eine Kerze, nur an einem nehme ich andere Gäste wahr.
Ein schönes Feuer im Kamin.
Hier könnte ich mich wirklich wohl fühlen.
Ich setze mich an einen der Tische, lehne mich zurück und atme erstmal tief durch.
Beinahe von alleine schließen sich meine Augen.
Plötzlich ist da ein Gefühl der Ruhe, der Gelassenheit. Als wäre ich genau da, wo ich hingehörte. Als hätte mein Leben plötzlich einen Sinn. So habe ich mich nicht mehr gefühlt, seit...
Eigentlich habe ich mich noch nie so gefühlt.
So, als wäre nichts mehr wichtig. Als wäre ich der einzige Mensch, der zählen würde. Dabei habe ich mich nie als Menschen gesehen, der groß wichtig ist.
Ich habe mich immer an anderen gemessen, an den Kindern im Kindergarten, den Mitschülern, den wenigen Freunden, die ich im Laufe meines Lebens hatte.
Doch egal, wie sehr ich mich angestrengt habe, ich habe es nie geschafft, tatsächlich dazuzugehören. Es war immer, als wäre eine Barriere zwischen mir und den anderen Menschen.
Ich habe nie herausgefunden, worin diese Barriere bestand, doch sie war da.
Und schließlich habe ich aufgehört, es verstehen zu wollen und es einfach akzeptiert.
Aber ich hatte stets das Gefühl, nie wirklich ich selbst sein zu können, ja, als ich selbst gar nicht zu zählen.
Ich glaube, sogar meine Mutter hat das immer irgendwie gespürt, auch wenn wir nie darüber geredet haben.
Im Laufe der Jahre entfernten wir uns immer weiter voneinander, als würde diese Barriere auch zwischen uns beiden bestehen.
Natürlich wurde immer gesagt, dass ist normal, du bist doch noch jung, kaum aus der Pubertät draußen, das wird schon wieder.
Die haben ja keine Ahnung.
Dabei waren meine Mutter und ich uns einmal sehr nahe. Als Kind war sie der wichtigste Mensch für mich, der einzige den ich hatte.
Bis zu diesem Tag, als ich etwa vier war. Ich weiß nicht mehr, was passiert ist, aber irgend etwas muss geschehen sein.
Seit diesem Tag war das Verhältnis zu meiner Mutter irgendwie belastet, gespannt, als würde etwas zwischen uns stehen.
Ich habe nie herausgefunden, was das genau war. Und jetzt ist sie tot und ich kann sie nicht mehr fragen, mich nie mehr mit ihr aussöhnen.
Wenn ich mich nur erinnern könnte...
"Darf ich?"
Ich schrecke auf, als würde ich aus einer Art Trance erwachen, so versunken war ich in meinen Gedanken.
Als ich die Augen aufschlage, sehe ich in das Gesicht eines kleinen Jungen.
Seine leise Stimme muss mich zurückgeholt haben, von wo auch immer ich war.
Ich bemerke, dass er mich immer noch ansieht, mit ausdrucksvollen, großen Augen.
Ich habe seine Frage nicht verstanden, traue mich aber aus irgendeinem Grund nicht, ihn danach zu fragen.
Er lächelt mir zu und nimmt meine Hand. Erst jetzt bemerke ich den tiefen Kratzer auf dem Handrücken.
Ich muss ihn mir auf der Wanderung durch diese einsame Wildnis geholt haben.
Das kommt davon, wenn man ein Gasthaus am Ende der Welt baut, mitten im Wald.
"Tut es weh?", fragt der Junge.
"Nicht besonders.", erwidere ich, auch wenn es jetzt, nachdem ich es bemerkt habe, höllisch zu brennen anfängt.
Er lächelt wieder, als ob er genau wüsste was ich denke.
"Darf ich?" wiederholt er.
Ich verstehe ihn überhaupt nicht und kann ihn nur verwirrt anstarren.
Er legt seine andere Hand über den Kratzer.
Es fühlt sich sonderbar an, warm, fremd, aber auch seltsam vertraut.
Ich kann nur auf seine Hand blicken. Die Hand, die plötzlich anfängt, zu leuchten, ein sanftes, schönes Licht.
Ein Licht, das mich an etwas erinnert.
Ich sehe ein anderes Kind. Ein kleines Mädchen, es hält einen verletzten Vogel in der Hand.
Auf einmal ist da genau so ein Leuchten. Und plötzlich fliegt der Vogel wieder weg.
Jetzt kann ich meine Mutter sehen.
Sie ist wütend.
Sie schlägt mich.
Sie lässt mich schwören, niemandem etwas davon zu erzählen und nie wieder so etwas zu machen.
Ich spüre, wie ich in die Gegenwart zurückkehre, wie etwas ihn mir wieder heilt, etwas, das damals zerbrochen ist.
Was geschieht hier nur? Ich reiße meine Hand weg und springe auf.
Plötzlich sehe ich hinter dem Jungen noch eine Frau.
Sie lächelt auf die gleiche, seelenvolle Art wie der Junge.
Ein Lächeln, das mich an etwas erinnert, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es je kannte.
Es ist, als würde ich hierher gehören. Zu diesen Beiden.
Warte, warte, halt, was denkst du da eigentlich. Verdammt, Sarah, denk logisch. Wahrscheinlich halluzinierst du, und dieses verdammte Gasthaus existiert gar nicht.
"Was wollen sie von mir?" frage ich die Frau. Es klingt schärfer, als ich beabsichtigt habe.
Doch das scheint sie nicht zu stören, denn ihr Lächeln wird nur noch intensiver während sie ihre Hände auf die Schultern des Jungen legt.
"Warum bist du denn hier?" fragt sie mich, statt mir zu antworten.
Ihre Stimme ist weich und doch voller Autorität, genau wie ihr Blick.
Vielleicht ist es das, was mich dazu bringt ihr zu antworten auch wenn ich das eigentlich gar nicht erzählen wollte.
"Meine Mutter, sie ist vor kurzem gestorben. Kurz bevor sie starb, redete sie nur von diesem Gasthaus. Sie hatte dieses Foto, die Adresse stand auf der Rückseite. Sie sagte, ich müsse herkommen.
Ich, ich weiß nicht, was ich hier will, ich hab einfach nur gehofft, dass ich... Ach, ich weiß auch nicht."
Entmutigt sinke ich in den Stuhl zurück. Das Gefühl der Geborgenheit ist verschwunden und stattdessen ist die vertraute Einsamkeit zurückgekehrt.
Die Frau hat Recht. Warum bin ich eigentlich hier. Habe ich wirklich geglaubt, hier die Antworten auf meine Fragen zu finden?
Aber ich habe eine Antwort gefunden. Ich habe mich erinnert. Kaum traue ich mich, daran überhaupt zu denken, doch ich muss es wissen. Fast ängstlich schaue ich auf meinen Handrücken.
Der Kratzer ist verschwunden.
"Tobi ist schon ziemlich gut, nicht wahr? Natürlich bin ich ihm nicht eine halb so gute Lehrerin, wie es deine Mutter gewesen wäre, aber ich habe es versucht.
Wir alle waren traurig, als sie fortging.
Doch wir mussten ihre Wahl akzeptieren und wir werden auch dich wieder gehen lassen, wenn es deine Entscheidung ist."
Ich fühle mich wie vor den Kopf gestoßen.
"Was meinen sie damit, meine Entscheidung? Welche Wahl hat meine Mutter getroffen? Wer sind sie, verdammt noch mal!"
Ich war immer lauter geworden und auch wieder aufgesprungen. Wie hätte ich sitzen bleiben können?
Doch die beiden scheint mein Ausbruch kaum zu interessieren. Sie bleiben einfach stehen, aber als die Frau nun spricht, scheint ein Schatten über ihrem Gesicht zu liegen.
"Marisa traf die Entscheidung, ihr Volk zu verlassen. Ihre Familie.
Sie kam hierher um eine Weile unter den Menschen zu leben. Sie kennenzulernen, ihre Lebensart zu studieren. Viele von uns machen das.
Doch ihr reichte es nicht, sie wollte ein ganz neues Leben. Also ging sie fort und nahm dich mit.
Hier in dieser Station lernte sie, wie man unter den Menschen leben kann, ohne aufzufallen, genau wie es Hunderte andere über all die Jahre hinweg auch gelernt haben.
Sie war es, die auf die Idee kam, dieses Haus als Gasthof zu tarnen, als hier plötzlich trotz der Abgeschiedenheit Menschen auftauchten. Sie meinte, es ginge hier ja ohnehin zu wie in einer Raststätte.
Wir haben hier alles so eingerichtet, wie sie es sich vorstellte, wir wussten, sie würde dir davon erzählen und eines Tages würdest du den Weg zu uns zurück finden.
Wir wollten, dass du dich dann wohlfühlst, dass du uns vertraust."
Zumindest das ist ihnen ziemlich gut gelungen.
Aus irgendeinem Grund glaube ich ihr.
Plötzlich scheint es, als würde alles einen Sinn machen. Alles, was ich in meinem Leben vermisst habe, alles, was ich immer unterdrücken musste, scheint plötzlich an die Oberfläche zu dringen.
Ich könnte nicht einmal benennen, was es genau ist, aber so beängstigend das auch ist, gleichzeitig ist es wunderschön.
Doch da ist ein Gedanke, den ich nicht abschütteln kann.
"Wenn das alles wahr ist, wieso hat sie mir es dann nie erzählt? Wieso hat sie mir das vorenthalten? Sie wusste, dass ich nie dorthin gehörte, sie wusste, das ich unglücklich war!
Wieso hat sie mich angelogen?"
Die Frau schüttelt traurig den Kopf.
"Ich weiß es nicht genau. Vielleicht hat sie sich immer vorgenommen, es dir zu sagen und dann konnte sie es doch nicht. Vielleicht hat sie gehofft, dass du unter den Menschen glücklich werden würdest. Sie war es, und das wollte sie nicht aufgeben.
Sie fürchtete, dich zu verlieren, solltest du dich je entscheiden, hierher zu kommen und bei uns zu bleiben. Sie hat dich sehr geliebt. Deshalb hat sie dich jetzt hierher geschickt. Sie wollte, dass du dich jetzt, wo sie nicht mehr da ist, entscheiden kannst ob du bei den Menschen bleiben, oder zu uns zurübkkehren möchtest."
Ich habe Tränen in den Augen, als der kleine Junge auf mich zukommt, mich anstrahlt und mir seine Hand hinhält. Doch ich bin immer noch viel zu verwirrt, irgendwie erreicht das alles mich noch nicht so ganz.
"Es gibt noch so viele Fragen, so viele Dinge, die ich wissen will.
Ich meine, woher wissen sie das alles, diese Dinge über meine Mutter? Wohin werden sie mich bringen? Was passiert dann mit mir?"
Die Frau lacht warm und hell. Ein angenehmes Lachen. Ein vertrautes Lachen.
"Du brauchst nicht alles gleich zu verstehen. Du brauchst dich auch nicht gleich endgültig zu entscheiden, du kannst immer wieder zurück. Alles, was jetzt passiert, ist deine Entscheidung.
Und diese Dinge, die ich über deine Mutter weiß, nun, ich bin ihre Schwester.
Ich wusste immer, was sie fühlte und ich habe auch immer deinen Schmerz und deine Verlorenheit gespürt. Deshalb möchte ich dir jetzt helfen.
Wir alle werden das versuchen, wenn du uns lässt."
Der Junge streckt mir immer noch seine Hand entgegen. Und jetzt spricht auch er, und das, was er sagt, wie er es sagt, räumt alle meine Zweifel aus. Ja, hier gehöre ich hin.
Zu meiner Familie.
"Gehen wir nach Hause!"