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Herbstgeschichte

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21.10.2001
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Herbstgeschichte

Sie spielte Göttin des Herbstlaubes. Verträumt, vorsichtig, fast schwebend, über die ihr zu Füßen liegenden Blätter wandelnd, um dann aus der wahllos dahingewehten Masse das Schönste von allen herauszusammeln und für einen Moment der immanenten Bedeutungslosigkeit zu entreißen. Sie kam mit strahlenden Augen und dem erwählten Erdenkind zurück und sagte vergnügt: "So, jetzt bist du dran!". Für Unsterblichkeit war ich nämlich zuständig.
Schaut man sich so ein Blatt lang genug an, wundert man sich irgendwann, wie kühl und unbewegt es in der Hand liegen kann. Scheint es doch im Sterben seine gesammelten Sommereindrücke in Feuerfarben geradezu herauszuschreien.

Abscission

Wollte ich sterben
- dann wie ein Blatt im Herbst.
Mein rotes Blut
in mildes Sonnenlicht ergießen
vom Wind hinfortgetragen
entschwinden dann
nach Irgendwo.

Mit diesen Worten übergab ich es wieder seiner natürlichen Bestimmung und wir sahen ihm versonnen hinterher, wie es scheinbar übermütig und glücklich hinforttanzte.

"Diese farbenfrohe Agonie des Herbstes." sagtest du nachdenklich. "Es spiegelt sich darin die ganze Unwissenheit und Tragik des Irdischen. All diese Blätter hier, in ihrer Erschrockenheit über das kürzer werdende Licht der Tage, reagieren völlig suizidal. Und warum? Wofür? Weil das bisher wärmende Licht der Tage seine Unschuld verliert. Eine Pflanze kann doch gar nicht anders, als glauben, daß ihr Gott - das Licht des Himmels - sie im Stich läßt, Herbststürme, Kälte und Schnee schicken wird, um sie zu prüfen. Eine ganze Natur in Vorahnungen des Schrecklichen folgt seiner Untergangsprogrammierung und der Mensch steht mittendrin und fühlt sich angesichts des Panoramas theatralisch behaucht, wie wohl Nero einst vor dem brennenden Rom."

"Das stimmt. Wäre ich Licht im Herbst der Erde - ich würde weinen. Scheine ich doch eigentlich unvermindert gelangweilt in den leeren Raum. Nur weil sich dort eine kleine Kugel partout nicht dafür entscheiden konnte, aufrecht zu rotieren, sterben alljährlich Millionen von Wesen, weil ich vermeintlich am anderen Ende der Welt scheinen gehe. Kann doch gar nichts dafür, daß deren Evidenz sich an die irdische Beschränktheit knüpft."

"Ich finde, es ist ein recht zweifelhafter Sinn für Ästhetik, den der aufgeklärte Mensch hier hat. Das pflanzliche Siechtum und den Tod - nur weil er farbenfroh ist - für schön zu befinden. Im Grunde ist es sogar pietätlos. Wegen winterlicher Sparmaßnahmen wurden Millionen von Blättern nach Monaten der Arbeit für ihren Vaterbaum einfach mal entsorgt. Und bevor sie wie Ballast der Vernichtung preisgegeben werden, saugt der Baum noch alles Wertvolle aus ihnen heraus, bis nur noch das Skelett übrig bleibt."

"Wir wandeln also demnach durch Berge von Leichenteilen und finden nichts dabei. Nicht auszudenken, wenn die Bäume anfangen würden, statt Blättern kleine Katzen zur Photosynthese auszubilden. Das würden wir bestimmt äußerst grausam finden."

Meinen Kommentar quittierte sie mit einem nachsichtigem Kopfschütteln, wußte sie doch um die manchmal recht absonderlichen Wege meiner Phantasie. Die des Parks hatten uns fast unmerklich zu dem kleinen See geführt, wo meistens ein paar Schwäne majestätisch elegant, voller Anmut und Sanftheit über das Wasser zogen. Nahezu ein Inbegriff von Harmonie. Wenn nicht gerade wieder gedankenlose Menschen mit ein paar Nahrungsresten ihre Vorstellungen von Weltbeglückung umsetzen mußten. Wir ließen uns auf einer Bank nieder und ich beobachtete die Schwänefütterer, das unschöne Geraufe auf dem Wasser und versuchte, den entscheidenden weltverbessernden Aspekt zu entdecken. Schnabelhiebe, Federlassen, Gekrächze - dafür Gratis-Futter. Faulheit versus Schmerz?

"Reicht es eigentlich, ein paar Sonnensysteme in den leeren Raum zu werfen, um ein Schöpfer zu sein? Damit hast du vielleicht deine Gesellenprüfung in Himmelsmechanik abgelegt, aber für göttliche Verhältnisse wäre das doch ziemlich dürftig, oder?"
Das Repertoire ihrer Gedankenhandtasche, aus der sie unvermittelt solch philosophische Schwergewichte kramte und mir an den Kopf warf, schien oft unermeßlich. Mit einem spitzbübischen Gesichtsausdruck hatte sie sich mir zugewendet, um sich über die spontan erwachsene Beule zu freuen. Davon trugen wir beide reichlich und man konnte nur froh sein, daß Denken nicht wirklich weh tut.

"Eigentlich ist es noch banaler. Seitdem man weiß, daß all jenes, was Masse besitzt, über die ihm innewohnenden Naturgesetze einer interaktiven Selbstorganisation zustrebt, müßte es eigentlich ausreichen, eine Handvoll Sternenstaub gedankenlos wie Konfetti in das schwerelose Nichts zu streuen und schon hast du ein mehr oder weniger stabiles Universum. Das müßte also jeder halbwegs professionelle Schwänefütterer hinbekommen. Vielleicht sind das dort die Götter von morgen." Sie mochte es überhaupt nicht, wenn ich durch die irdischen Kellerfenster auf den von ihr aufgetanen strahlenden Gedankenhimmel blickte. Und tatsächlich deutete sich in ihren sich zusammenziehenden Augenbrauen und Pupillen eine Art intellektuelles Grummeln an. Einlenkend fügte ich schnell hinzu: "Eigentlich ist es alles andere als einfach, ein Universum wie unseres zu erschaffen. Denn es wird nicht geworfen, sondern lebt wie ein unschuldiges Wesen - es atmet; dehnt sich aus, schrumpft dann wieder zusammen, um vielleicht einen weiteren Atemzug zu tun. Mit diesem Pulsieren ist es vielleicht nur eine Art Leuchtturm in den unendlichen Ozeanen der Schwärze."

"Dann liegt darin aber auch eine unendliche Tragik. Der plötzliche Verlust der Urzärtlichkeit, wo alles noch in einer winzigsten Energieblüte von 10 hoch minus 33 cm Ausdehnung im Zustand höchstmöglichem Kuschelns versammelt war, muß absolut traumatisch sein und das explosionsartige Auseinangeschleudertwerden geradezu herzzerreißend. Vielleicht ist das, was Astronomen als Hintergrundstrahlung messen, nur der andauernde Schmerz dieses Wesens, das Trauern, am Ende gar Heimweh?"

Dieser Gedanke ließ winzige Spuren von Feuchtigkeit in ihren Augenrändern aufleuchten. Frauen können sich in vielen Dingen nicht ganz gefühlsmäßig von der Bilderwelt ihres Erlebens abkoppeln. Da wir uns in allem gut ergänzten, kam mir offenbar wieder diese Aufgabe zu: "Vielleicht auch nicht. Angesichts der mit-, an- und ineinandertobenden Energien, könnte es auch der ultimative, der kosmische Orgasmus gewesen sein. Und nun braucht es erstmal ein paar Milliarden Jahre der Abkühlung, um sich zu erholen."

"Typisch Mann. Ultimativer Orgasmus? Dieser kollektive Orgasmus hätte eigentlich nur eine Tausendstel Sekunde dauern dürfen. Dann hätten sich alle Materie und Antimaterie in einem gewaltigen Blitz wieder zu Nichts zerstrahlt. Es ist also ein eindeutiges Indiz dafür, daß wir das Universum einem eher weiblichem Prinzip zu verdanken haben."

"Ja, da stimme ich dir sogar zu. Weil es auf irgendeiner Schußligkeit beruhen muß, daß in diesem Chaos ein paar Quarks keine Sexualpartner fanden. Für diese Hinterbliebenen der großen Paarung wäre das doch Motiv genug, gemeinsam ein Universum voller Torschlußpanik zu kreieren. Oder als alternative Theorie könnte ich auch hier den Ursprung aller Handtaschenmystizismen sehen: Von 1 Milliarde Quarks war eins so damit beschäftigt, in seiner Handtasche zu kramen, daß es völlig vergaß, was um es herum geschah. Vielleicht haben wir es also gar nicht mit einem göttlichen, sondern nur mit einem Prinzip sexueller Frustration oder auch nur Orientierungslosigkeit zu tun. Klingt für mich in jedem Fall interessanter als der übliche astronomische Schöpfungsnihilismus. Oder wolltest du existieren, nur weil es zu einer Störung in der perfekten Symmetrie eines primordialen Quantenvakuums kam? Das ist doch etwas albern. Soll ich mal zu den Schwänen rüberhüpfen und ihnen sagen: Huhu Schwäne, wir dürfen leben, weil es einst eine primordiale Quantenvakuumfluktuation gab? Die lachen mich doch aus."

"Wenn du ihnen Brot gibst, nicht. Dann wärst du ihr Gott." sagte sie lächelnd und knuffte mich in die Seite. "Du bist süß, weißt du das?"

"Woher weißt du, daß es genau das ist, was du spürst?"

"Ich weiß es einfach. Es ist so intensiv fühlbar, daß es nicht wegzuleugnen ist. Und es fühlt sich anders an als Schmerz, Ärger, Zorn oder Trauer. Ich kann es aus irgendeinem Grund benennen, was da in mir in diesem Moment lebt."

"Also ist es wirklich da?"

"Ja, würde ich sagen. Es ist zwar subjektiv, aber existiert ohne jeden Zweifel."

"Ist nicht alles anzweifelbar?"

"Eigentlich schon. Aber welchen Sinn sollte es haben, meine Gefühle anzuzweifeln?"

"Weil es vielleicht gar nicht deine Gefühle sind?"

"Wie meinst du das?"

"Es könnte auch nur ein oberflächlicher Anschein von Gewißheit sein. Vielleicht ist unser Fühlen, wie beim Plattenspieler, nur eine Abtastung des inneren Wellenspiels eines unergründlichen Meeres. Wir kennen die kleinsten Kräuselungen und die größten Wogen, vielleicht auch die Reflektionen des Lichts - diese ganze Wunderwelt, die gedämpft in unser Bewußtsein dringt; wissen, daß wir traurig sind, verliebt, glücklich. Hast du dich nie gefragt, wer oder was diese Wellen macht?"

"Es muß irgendein Teil von uns selbst sein, in unergründlichen Tiefen verborgen. Und ich will gar nicht wissen, warum es so ist, wie es ist. Es muß letzte Geheimnisse geben...."

"Für die Stabilität von Illusionen?"

"Wenn du so willst, ja! Solange wir diesen Schleier nicht lüften, der über unseren letzten Wahrheiten, der Quelle unseres Fühlens liegt, wird sich auch nichts als Illusion erweisen."

"Die Forschung zupft aber schon heftig an diesem Schleier. Deutet man die Ergebnisse richtig, könnte unser Fühlen auch nur ein komplexer Fließzustand psychohormoneller Fluktuationen sein: Das Glücklichsein ansich nur 10 Milligramm Serotonin und eine wenig Oxytocin im Körper. Das sexuelle Verlangen nur DARPP-32 und die Liebe nur eine PEA-Affirmation."

Sie sah mich mit ernsten Augen an. "Es scheinen uns unsere letzten Gewißheiten entrissen zu werden. Wenn alles Dasein keine zwingende Notwendigkeit besitzt, alles Fühlen nur Suggestion sein kann und alles Sehen nur Wahrnehmungsbeschränkheit, wenn es vielleicht keine einzige beständige Wahrheit gibt, dann will ich dich lieben, weil du der einzige wirkliche Bezugspunkt in diesem auseinanderdriftenden Universum bist. Ohne Pathos und Sentimentalität, denn wir sind weder verloren, allein oder determiniert, wir sind nur da. Im selben kurzen Moment des Funkenspiels Leben aufgeblitzt und ein winziger Teil der Idee vom Feuer, die sich seit Jahrtausenden glimmend gegen das Verlöschen stemmt. Laß uns atmen, uns berühren, immer wieder, um zu begreifen, daß es wirklich so ist. Mit allen Fasern unserer unvollkommenen Körper genießen, was uns damit möglich ist. Laß uns wie verspielte Glühwürmchen die Nacht durchschweben, egal wie dunkel, kalt und endlos sie sein mag."

Wir gingen nach Hause und liebten uns 3 Lichtjahre lang.

____________

[Beitrag editiert von: Abyssal am 27.11.2001 um 16:24]

 

Hi,
ich finde diese Geschichte ist super geschrieben.
Ich glaube du hast sehr lange an dieser Geschichte gebastelt.
Ich finde diese Geschichte super!!

 

Ich finde die Geschichte auch nicht schlecht, vielicht ein bistchen zu langathmig.

"Es scheinen uns unsere letzten Gewißheiten entrissen zu werden. Wenn alles
Dasein keine zwingende Notwendigkeit besitzt, alles Fühlen nur Suggestion sein kann und alles Sehen nur
Wahrnehmungsbeschränkheit, wenn es vielleicht keine einzige beständige Wahrheit gibt, dann will ich dich lieben, weil du
der einzige wirkliche Bezugspunkt in diesem auseinanderdriftenden Universum bist.
Find ich genial.
Ansonsten haben mich manche weniger gebräuchliche Fremdwörter etwas gestört, weil ich sie langsamer lesen muste und es den Leserhytmus unterbrach. Du könntest in Zuckunft eher weniger Fremdwörter benutzen und und dafür deutsche umschreibungen verwenden. Ich glaube, dass es nur sehr wenige Menschen gibt, die wirklich so sprechen. Trotsdem hat mir die Geschichte, wie schon gesagt, gut gefallen, weiter so.

 

Hallo Ressman und wak

danke für eure Kommentare. Offenbar ist es doch gelungen, diese Geschichte halbwegs annehmbar zu gestalten ;-) Eigentlich ist es eine Zumutung, den Leser (ohne Einstieg und Erklärungen) einem derartigen Umfang von "Gedankenspielen" auszusetzen. Den daraus resultierenden Kritikpunkt von Verständnisproblemen (Langatmigkeit, Fremdwörter, Authentizität?) muß ich mir anrechnen lassen. Diese Aspekte lassen sich nach meinem Empfinden leider nicht wirklich vermeiden, nur abmildern. Daher habe ich versucht, die Fiktionalität der Dialoge durch eine sparsame Rahmenhandlung mit der Normalität, wie wir sie kennen, zu verknüpfen. Ob dies erzähltechnisch gelungen ist, kann ich selber nicht abschätzen. Aus diesem Grund habe ich die Geschichte hier gepostet. Vielleicht findet sich ja noch der ein oder andere Kommentar dazu.

Grüße
Martin

 

Wir gingen nach Hause und liebten uns 3 Lichtjahre lang.

Toller Abschlußsatz, so schön einfach.

Ich traue mich fast nicht zu fragen, weil ich dann bestimmt einen total verblödeten Eindruck mache...aber hast Du noch was weniger "Philosophisches" auf Lager? Würde mich gerne mehr an deinem Erzählstil erfreuen ohne mich mit den philosophischen Inhalten auseinandersetzen zu müssen...der Hobbyphilosoph in mir ist, ummm, gerade nicht da... ;)

Auf jeden Fall weiterposten!!

San

 

Hallo Rabenschwarz

kurze Zwischenfrage in eigener Sache: Wenn dir ein augenscheinlicher Kritikpunkt an meiner Geschichte aufgefallen wäre, hättest du es mir gesagt, oder? ;-) Ich warte ja eigentlich immernoch auf Überarbeitungsvorschläge ...

... ohne mich mit den philosophischen Inhalten auseinandersetzen zu müssen

das schränkt sehr ein ;-) Liegt aber eher daran, daß ich noch nicht allzuviele Kurzgeschichten geschrieben habe. Wie wär's mit dieser hier? ... Sie

Grüße Martin

 

Ich leide als "Halbgebildete" sehr unter dem Fluch des Halbwissens.
Es war mir also, wie so oft schon, nicht vergönnt, deinen Text zügig und verstehend in einem Zug durchzulesen, sondern ich mußte mir zwischendurch immer wieder Zusammenhänge mit Hilfe des Lexikons erarbeiten.
Was mich aber sofort fasziniert hat, und dazu brauchte ich wirklich kein Lexikon, war die Art, wie du trockenen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen durch wunderschöne poetische Metaphern Leben eingehaucht hast. (Mein Gott, was für ein schwülstiger Satz, aber ich kann es einfach nicht besser ausdrücken im Moment.)
War das nicht die Art zu denken, die man Einstein nachgesagt hat?
Ich fühle mich absolut nicht kompetent, hier irgendeine Kritik zu deinem Text abzugeben.
Ich finde die Geschichte auf jeden Fall schön und werde sie sicher noch so oft lesen, bis ich alles richtig verstanden habe. Ich denke, da0 sich das für mich lohnen wird.


Gruß.....Ingrid

 

Eine ganze Natur in Vorahnungen des Schrecklichen folgt seiner Untergangsprogrammierung und der Mensch steht mittendrin und fühlt sich angesichts des Panoramas theatralisch behaucht, wie wohl Nero einst vor dem brennenden Rom."

Also, hier nöchte ich dann doch mal nachhaken...oder nachfragen, bin mir noch nicht sicher, wie ich den zitierten Aspekt interpretieren soll...kritisierts du hier den Betrachter des Herbsts, der sich an dem Farbenspektrum der Bäume/Blätter erfreut? Ich schätze schon, etwas weiter heißt es ja:

Ich finde, es ist ein recht zweifelhafter Sinn für Ästhetik, den der aufgeklärte Mensch hier hat. Das pflanzliche Siechtum und den Tod - nur weil er farbenfroh ist - für schön zu befinden. Im Grunde ist es sogar pietätlos.

Folgender Kommentar zum von Dir angesprochenen "zweifelhaften Sinn des Menschen für Ästhetik"...in Deinem Text geht es "nur" um absterbende Blätter, welche, wenn man so weit gehen möchte, Verlust/Tod in der Natur, oder auch im Allgemeinen symbolieren können...im Grunde kritisierst Du also, daß sich der Mensch an etwas erfreut, das im Prinzip gar nicht so Erfreuenswert ist. Ich gehe mal davon aus, daß Dir die Ästhetik-Definitionen von Arestoteles in der "Poetik" bekannt sind... Fakt ist, der Mensch hat schon immer Gefallen am Grausamen...ich hole mal ganz weit aus, im völligen Bewußtsein, daß mein Beispiel absolut nichts mehr mit deinem Herbstmotiv zu tun hat...die besten (schönsten!) Stellen in griechischen Tragödien sind immer die, die eigentlich am schrecklichsten sind...Ödipus, wie er am Ende mit (selbst-)zerstochenen Augen aus dem Palast rennt, Klytemnestra, wie sie blutüberströmt im Bad steht, nachdem sie Agammemnon erstrochen hat...dieser "Sinn für Ästhetik" war damals schon vorhanden, und zieht sich unenterbrochen durch die gesamte Literatur...dieses fast perverse Gefallen des Menschen am, objektiv betrachtet, Nicht-Schönen...der Gedanke ist also nicht neu, aber durchaus interessant und deshalb immer wieder aufgegriffen worden...worauf ich aber jetzt eigentlich hinaus will...im Nachhinein scheint mir das von dir gewählte Beispiel des "Herbstbetrachters" im Gegensatz zu den bereits bekannten Beispielen dann doch eher schwach...wenn auch, zugegebenermaßen, erst auf den zweiten oder dritten Blick...

So viel Einleitung für so ein bißchen Kritik? Sorry! :D Hätte da noch ein paar andere Punkte, aber ich laß es lieber...

San

 

Hallo Rabenschwarz

So viel Einleitung für so ein bißchen Kritik? Sorry! Hätte da noch ein paar andere Punkte, aber ich laß es lieber...

Bitte nicht! ;-) Ich finde es wichtig, herauszufinden, an welchen Stellen ein unterschiedliches Wortverständnis für "Probleme" sorgen kann.
>Sinn für Ästhetik< meint bei mir ausschließlich den Sinn für das Schöne. Eine Faszination des Grausamen wie das von dir genannte >fast perverse Gefallen des Menschen am, objektiv betrachtet, Nicht-Schönen< würde ich niemals darunter subsumieren. Als "Entschärfung" könnte ich hier aber alternativ >Sinn für das Schöne< anbieten.
Es geht in den zitierten Stellen tatsächlich darum, daß >sich Mensch an etwas erfreut, das im Prinzip gar nicht so Erfreuenswert ist.< Aber: Im Gegensatz zu griechischen Dramen erfreut sich ein Herbstbetrachter empirisch wirklich an etwas Schönem: Farbspiele, idyllische Landschaftsimpressionen etc. Und: Es gibt selbst in einer halbwegs objektiven Sichtweise in diesem Fall für den Menschen nichts Grausames zu entdecken. Grausamkeit impliziert immer Gewalt gegenüber (fühlenden) Wesen. Alles, was nicht über die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, verfügt, fällt bei ethischen Betrachtungen völlig unter den Tisch. Da der Mensch kaum bereit sein dürfte, Blättern solche Eigenschaften zuzuschreiben, kann er auch nichts für sie empfinden. Er wird also weder empirisch, noch "empathisch" diese äußerst abstrakte (objektive) Sichtweise jemals realisieren können. Sie bleibt für den Alltagsgebrauch absurd und kontrastiert lediglich die Besonderheiten der menschlichen Wahrnehmung. Darum geht es -glaube ich - in meinem Text ;-)

Grüße Martin

 

Hallo Abyssal,
also erstmal muß ich sagen, eine schöne Geschichte. Sehr liebevoll geschrieben. Die Unterhaltung des Paares hast du gut hingekriegt. Was ich aber die ganze Zeit dachte beim lesen: Die meisten, wenn nicht alle Fremdwörter sind meines Erachtens überflüssig. Und dein Text würde noch gewinnen, wenn du sie ersetzt. Beispiel:immanente Bedeutungslosigkeit, Abscission, Agonie, suizidal usw. Ganz abgesehen davon, dass es den Fluss der Geschichte unterbricht, ist es auch nicht gerade angenehm, eine Geschichte mit einem Fremdwörterbuch in der Hand zu lesen. Dadurch verliert die Geschichte.
Ich habe zwar noch nicht viel in Philosopisches gelesen, bin aber auch der Meinung, Philosophie muß nicht gleichbedeutend sein mit schwierigen oder durch Fremdwörter gespickte Texte.
Ich wünsche dir noch viele so gute Einfälle
lg
carrie

 

Hallo carrie,

Vielen Dank für deinen Kommentar! Dass sich nach fast 3 Jahren noch einmal jemand für diesen Text interessieren würde, hat mich sehr überrascht und gefreut. Wenn du möchtest, kannst du ja einmal schauen, was später aus diesem Erstentwurf wurde. Hier gibt es eine überarbeitete und illustrierte Fassung: http://www.abyssal.de/prosa/herbst.htm. Ich hoffe, dass darin einige der auch von dir genannten Kritikpunkte vielleicht behoben bzw. gemildert sind.

Viele Grüße
Martin

 

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