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Hinter den Vorhängen
Es gab keine Vorhänge an den Fenstern, sonst überall. Unter Spüle und Waschbecken, Kleingeblümtes, Großgeblümtes, ein senffarbener Volant schmiegte sich an die Innenwand des Kamins und spiegelte sich sanft in den warmen Holztönen von Opas Pfeifen. Dunkler Samt hing hinter den Glastüren der Anrichte und verbarg die Blechdosen voller Köstlichkeiten. Da gab es Pralinen in Papierhütchen, in Scheiben geschnittenen braunen Kuchen, zuckerbestreute und marmeladengefüllte Plätzchen, aber ich hielt mich an Opas Gebot "Alleen maar een koekje". Meinen Keks hatte ich nachmittags schon gehabt, als wir am Küchentisch gesessen hatten. Der schwere Tischteppich hatte an meinen aufgeschürften Knien gekratzt und ich hatte die Muster zwischen Tellern und Tassen verfolgt, während ich den fremden, vertrauten Wörtern lauschte. Der Teppich ließ sich wie eine Katze streicheln, wie Dennis Katze und ich fragte mich, warum er nicht geklingelt hatte. Das machte er doch immer, wenn er unser deutsches Auto auf der Straße sah.
Ich langweilte mich. Warum war ich nicht mit den anderen zu Oom Willem gegangen? Aber ich fürchtete mich zu sehr vor seinem Collie, der mit seinem wedelnden Schwanz Teetassen umwarf oder Kekse vom Teller fegte.
Ich horchte auf die Geräusche, auf das hallende plopplop, wenn jemand zwischen den eng stehenden Häusern herlief, aber es war niemand "op straat", der mit mir spielen wollte, keine Annike, die mich zu "verstoppetje" überredete oder irgend was anderem. Was war nur mit Dennis los? Wo war er?
Ich lief die Stiege nach oben, ins Schlafzimmer, schaute durch die Fliegendrahtfenster nach unten auf Opas rosenbewachsene Scheune, wo ich manchmal mit dem Schleifstein spielen durfte. Ich legte mich aufs Bett, auf die weiche Matratze und schaute mich um. Hinter dem Vorhang stand immer noch der Nachtstuhl und hinter den eingerüschten Stuhlbeinen versteckte sich der Emailleeimer, aber ich hatte es noch nie gewagt, den Deckel zu lüften. Ob Opa bei Schnee die Stiege hinunterlief in den Garten, in sein Klohäuschen, das mit der grünen Regentonne bewässert wurde?
Opa verstand kein Deutsch, ich konnte ihn nichts fragen, aber er brachte mich immer zum Lachen, wenn er beim Abendessen sein Gebiss auf der Zungenspitze balancieren ließ. Und bevor meine Mutter es tadelnd bemerken konnte, saß es schon wieder in seinem Mund, chamäleonschnell. Ich liebte Opas weiches Brot, das man wie einen Schwamm zusammendrücken konnte und von dem ich mindestens zehn Schnitten aß. Broodjes met ham, muisjes en hagelslaag. Und auf den delfterblauen Tellern tanzten meisjes aus Volendam und Amsterdam mit kernigen Bauernburschen und ich stellte mir vor, mit Dennis zu tanzen. Später, wenn wir groß waren. Wirbelnd und schnell, über Wiesen, wo das Gras hochstand, aufregender als oben auf der Wippe des eingezäunten, beaufsichtigten Spielplatzes. Den Spielplatz konnte man nur durch ein vergittertes Törchen betreten und zwei Kindergärtnerinnen beobachteten uns beim Schaukeln und Rennen und besonders, wenn wir im Sandkasten saßen. Ich wusste alles über den fremden kleinen Jungen, der vor Jahrzehnten dort verunglückt war, dort im Sandkasten, in einer selbstgebauten Höhle, drei Meter unter der Erde. Aber über Dennis erfuhr ich nichts mehr.
Meisjes: Mädchen
Ham: Schinken
Hagelslag: Schokostreusel
muisjes: "Mäuschen", Zuckerstreusel