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Hinter den Vorhängen

Seniors
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01.10.2002
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Hinter den Vorhängen

Es gab keine Vorhänge an den Fenstern, sonst überall. Unter Spüle und Waschbecken, Kleingeblümtes, Großgeblümtes, ein senffarbener Volant schmiegte sich an die Innenwand des Kamins und spiegelte sich sanft in den warmen Holztönen von Opas Pfeifen. Dunkler Samt hing hinter den Glastüren der Anrichte und verbarg die Blechdosen voller Köstlichkeiten. Da gab es Pralinen in Papierhütchen, in Scheiben geschnittenen braunen Kuchen, zuckerbestreute und marmeladengefüllte Plätzchen, aber ich hielt mich an Opas Gebot "Alleen maar een koekje". Meinen Keks hatte ich nachmittags schon gehabt, als wir am Küchentisch gesessen hatten. Der schwere Tischteppich hatte an meinen aufgeschürften Knien gekratzt und ich hatte die Muster zwischen Tellern und Tassen verfolgt, während ich den fremden, vertrauten Wörtern lauschte. Der Teppich ließ sich wie eine Katze streicheln, wie Dennis Katze und ich fragte mich, warum er nicht geklingelt hatte. Das machte er doch immer, wenn er unser deutsches Auto auf der Straße sah.

Ich langweilte mich. Warum war ich nicht mit den anderen zu Oom Willem gegangen? Aber ich fürchtete mich zu sehr vor seinem Collie, der mit seinem wedelnden Schwanz Teetassen umwarf oder Kekse vom Teller fegte.
Ich horchte auf die Geräusche, auf das hallende plopplop, wenn jemand zwischen den eng stehenden Häusern herlief, aber es war niemand "op straat", der mit mir spielen wollte, keine Annike, die mich zu "verstoppetje" überredete oder irgend was anderem. Was war nur mit Dennis los? Wo war er?

Ich lief die Stiege nach oben, ins Schlafzimmer, schaute durch die Fliegendrahtfenster nach unten auf Opas rosenbewachsene Scheune, wo ich manchmal mit dem Schleifstein spielen durfte. Ich legte mich aufs Bett, auf die weiche Matratze und schaute mich um. Hinter dem Vorhang stand immer noch der Nachtstuhl und hinter den eingerüschten Stuhlbeinen versteckte sich der Emailleeimer, aber ich hatte es noch nie gewagt, den Deckel zu lüften. Ob Opa bei Schnee die Stiege hinunterlief in den Garten, in sein Klohäuschen, das mit der grünen Regentonne bewässert wurde?

Opa verstand kein Deutsch, ich konnte ihn nichts fragen, aber er brachte mich immer zum Lachen, wenn er beim Abendessen sein Gebiss auf der Zungenspitze balancieren ließ. Und bevor meine Mutter es tadelnd bemerken konnte, saß es schon wieder in seinem Mund, chamäleonschnell. Ich liebte Opas weiches Brot, das man wie einen Schwamm zusammendrücken konnte und von dem ich mindestens zehn Schnitten aß. Broodjes met ham, muisjes en hagelslaag. Und auf den delfterblauen Tellern tanzten meisjes aus Volendam und Amsterdam mit kernigen Bauernburschen und ich stellte mir vor, mit Dennis zu tanzen. Später, wenn wir groß waren. Wirbelnd und schnell, über Wiesen, wo das Gras hochstand, aufregender als oben auf der Wippe des eingezäunten, beaufsichtigten Spielplatzes. Den Spielplatz konnte man nur durch ein vergittertes Törchen betreten und zwei Kindergärtnerinnen beobachteten uns beim Schaukeln und Rennen und besonders, wenn wir im Sandkasten saßen. Ich wusste alles über den fremden kleinen Jungen, der vor Jahrzehnten dort verunglückt war, dort im Sandkasten, in einer selbstgebauten Höhle, drei Meter unter der Erde. Aber über Dennis erfuhr ich nichts mehr.

Meisjes: Mädchen
Ham: Schinken
Hagelslag: Schokostreusel
muisjes: "Mäuschen", Zuckerstreusel

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Blackwood,

...danke fürs Lesen. Das war eher ein "zwei-Stunden-zwischendurch-Text", obwohl er mir trotzdem wichtig ist. Mit meinen längerern Geschichten komme ich nicht weiter. :( Deine Einschätzung kann ich gut nachvollziehen, die Anmerkungen sind schon eingebaut.

alleen maar een koekje...
Bei meinem Opa wurde die Kekstrommel tatsächlich nur einmal rumgereicht, manchmal gab es allerdings eine Ausnahme für die deutschen Enkelchen....

Pe

 

Hallo Petdays,

für einen "zwei-Stunden-zwischendurch-Text" ist diese Geschichte ein schönes melancholisches Erinnerungsstimmungsbild über das, was hängen bleibt.
(wahre) Schauergeschichten über den Tod eines kleinen Jungen auf dem Spielplatz genauso wie die geblühmten Vorhänge und die Kekse. Unerfüllte Träume wie kindliche Assoziationen über Teppiche und Katzen.

Hat mir sehr gut gefallen.

Lieben Gruß, sim

 

hi hallöchen!

ich den fremden, vertrauten Wörtern lauschte.
so wiedersprüchlich es ist: es gefällt mir

Hinter den Vorhang
ich weiß nicht 100%, aber ich glaube hinter dem

auch ich muss sagen, dass mir diese geschichte sehr gut gefallen hat. (meine erste von dir...)

melancholisch und traurig.

Tama

 

Hi petdays,
Deine Geschichte ist so schön geschrieben. Sie läßt mich nachdenken, nicht über Dennis. Eher über die Vielfalt der Erinnerungen deiner Erzählerin.
Wirklich sehr lesenswert! :read:
Liebe Grüße
Susie

 

Hallo Kürbiselfe,

Auch dir danke fürs Lesen.

Sie läßt mich nachdenken, nicht über Dennis. Eher über die Vielfalt der Erinnerungen deiner Erzählerin.
> Da fühle ich mich gut wiedererkannt.

Pe

 

Hallo petdays!

Nicht meine erste von dir, hat mir trotzdem gefallen. Ich finde, hier haben wir auf engstem Raum genau den Vorzug deines Stils, den hier einige bewundern (bin ich froh, dass ich diesen Satz zu einem sinnvollen Ende bekommen habe). Du kannst Details erzählen, als wären sie schon längst bekannt und du holtest sie nur zurück in die Erinnerung - Ach ja, stimmt, so war das. Klasse. Und für diese Art von Story mehr als geeignet!
Gehe ich fehl in der Annahme, dass dieser Text sehr viel biographisches hat? Obwohl, mir scheint es sich bei deinen Geschichten immer um autobiographische Texte handelt (ich glaube, darin liegt ihre Stärke).

Die Korinthen:

Dem Vorhang hast du schon geändert, habe ich gesehen.
Aber:

Und bevor meine Mutter es tadelnd bemerken konnte

Da ist die zeitliche Abfolge etwas durcheinander geraten, es hieße vielleicht besser: mit tadelndem Blick

chamäleonschnell

Chamäleon ist dafür bekannt, seine Farbe zu wechseln, ich glaube, du meinst den Frosch (wobei, je länger ich drüber nachdenke, Chamäleon hat auch so 'ne lange Zunge :D , na gut, aber drüber geredet :cool: )

Hatte ich gesagt, dass sie mir gut gefallen hat?

Viele Grüße von hier!

 

Hallo Hanniball,

Danke fürs Lesen.

Gehe ich fehl in der Annahme, dass dieser Text sehr viel biographisches hat?
> Dieser in abgewandelter Form tatsächlich. Ist aber der erste "biografische" Text (zumindest auf KG.de).

Obwohl, mir scheint es sich bei deinen Geschichten immer um autobiographische Texte handelt.
>>> Eigentlich nicht. Bis auf die Orte, die oft Anleihen an tatsächliche Orte haben, ist das Meiste erfunden. Manchmal mischt sich noch etwas Selbsterlebtes als Ausgangspunkt hinein oder Geschichten, die ich gehört habe. Für manche Geschichten, z.B. die "Rochendame" (die übrigens Ende des Jahres in einer Anthologie erscheint) oder "Verschwundene Mädchen" habe ich ziemlich lange recherchiert, damit alles authentisch wirkt. Vielleicht sollte ich wirklich mal nach Meck-Pomm fahren, um zu sehen, ob es wirklich so aussieht. :D.
Figuren. Zumindest für die längeren Texte mache ich für die Protagonisten ausführliche Steckbriefe, bevor sie "loslaufen dürfen". Freut mich, dass sie "echt" rüberkommen.

Pe

 

Hallo petdays!

Vielleicht sollte ich wirklich mal nach Meck-Pomm fahren, um zu sehen, ob es wirklich so aussieht.
Und ich hab die Geschichte nach Schweden oder so verfrachtet, danach noch Blackwoods Sprachkenntnisse bewundert – bis zu dieser Zeile…:lol:

Auch, wenns ein bisschen wenig an Geschichte ist (womit ich sie nicht als Nicht-Geschichte bezeichnen will), finde ich sie ebenfalls sehr stimmungsvoll geschrieben. :)
Aber am besten gefällt mir die Idee mit dem Tunnel in der Sandkiste. Als ich Kind war, hatten wir auch noch eine Sandkiste vorm Haus, wo wir oft weit runtergegraben haben – aber heute ist man oft nach ein paar Zentimetern am Holzgrund der Sandkiste, da gibts kein tiefes Graben mehr…:(

"Fliegendrahtfenster"
- sagt man das bei Euch so, wenn man Fenster mit Fliegengittern meint? :susp:

"aber ich hatte es noch nie gewagt den Deckel zu lüften"
- gewagt, den

Alles Liebe,
Susi :)

 

Hallo Häferl,

Dank dir fürs Lesen.

Vielleicht sollte ich wirklich mal nach Meck-Pomm fahren, um zu sehen, ob es wirklich so aussieht.
Und ich hab die Geschichte nach Schweden oder so verfrachtet, danach noch Blackwoods Sprachkenntnisse bewundert – bis zu dieser Zeile…
> Das Zitat bezog sich auf die andere Geschichte "Verschwundene Mädchen", die an einem Badesee in Meck-Pomm spielt. Diese hier spielt in Holland, ist stark biografisch, auch die Geschichte im Sandkasten gab es wirklich und zuerst hatte ich Bauchschmerzen sie mit einzubauen.

lg Pe

 

Ah ja. Auf jeden Fall recht nördlich und anders als bei mir hier, das hab ich immerhin richtig rausgelesen. :D

Alles Liebe,
Susi :)

 

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