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Horst und die Schneekugel
Hier gibts eine ganz neue Version des Textes... oder da... oder dort drüben
Mein Name ist Horst und ich lebe in einer Schneekugel. Das im Prinzip auch schon alles, was Sie über mich wissen müssen. Ich bin ein Schneemann aus Plastik, der unter einer Plastikkuppel neben einem Plastikhaus und einem Plastikweihnachtsbaum steht und ab und an von kleinen weißen Plastikschnipseln umwirbelt wird.
Das ist eigentlich ein ganz nettes Leben. Ich habe viel Zeit zum Nachdenken, über den Sinn meiner Existenz zum Beispiel oder zum Rauchen meiner Plastikpfeife. Das einzige, was mich wirklich stört, sind diese Erdbeben. Dann wackelt alles um mich herum und diese weißen Flocken fliegen um mich herum, landen in meinen Augen und diversen anderen Ritzen, was ziemlich unangenehm ist. Aber dies ist nunmal mein Schicksal und daran kann ich nichts ändern. Ich habe mich damit abgefunden. Mittlerweile wird mir auch nicht mehr ganz so übel davon.
Eines Tages nun geschah etwas recht Merkwürdiges. Ich stand so in meiner kleinen Welt, dachte an nichts Böses im Allgemeinen und mich selbst im Speziellen, als ich plötzlich eine Schneekugel neben mir im Plastikschnee liegen sah.
Ich beugte mich hinunter, und das war aufgrund meiner Bauform nicht gerade einfach, das können Sie mir ruhig glauben, und nahm das Ding in die Hand. In diesem Moment sah ich die Hände. Sie griffen nach meiner Schneekugel. Wieder dieser Kinder, dachte ich. Die nehmen meine Kugel, schütteln sie, bringen mich völlig durcheinander und hinterlassen dann diese Fettabdrücke auf dem Plastik. Das sieht dann immer furchtbar aus, mit solchen Abdrücken auf der Kugel kann man sich ja nirgendwo blicken lassen.
Aber das waren keine Kinderhände. Diese steckten in schwarzen Handschuhen, genau solche, wie die an meinen Händen. Ich versuchte das zu ignorieren und widmete mich wieder der Kugel in meiner Hand. In dieser Kugel stand ein kleiner Schneemann neben einem Haus und einem Baum. Der sah genauso aus, wie ich. Das Ganze sah wunderschön aus. Mein ganzes Leben lang hatte ich immer schon davon geträumt, wie es wohl von außen aussehen würde, wenn so eine Schneekugel geschüttelt wird. Und jetzt hatte ich die einzigartige Gelegenheit dazu. Ich schüttelte sie kräftig und bewunderte die Schneeflocken, die auf den Schneemann niederregneten.
Vielmehr hätte ich sie bewundert, wenn da nicht schon wieder so ein Erdbeben gewesen wäre, das mich richtig durchschüttelte. Als ich meine vier Sinne (Schneemänner können wegen der Karotte im Gesicht nicht riechen, müssen Sie wissen) wieder beisammen hatte, bemerkte ich, daß ich die Kugel fallen gelassen habe. Ich hob sie auf und sah, wie der kleine Schneemann etwas in der Hand zu halten schien. Leider hatte die Kugel einen kleinen Sprung abbekommen, so daß ich einen Glassplitter aus der Kuppel entfernen konnte. Ich tat dies sehr vorsichtig, denn ich wollte kein Wasser verschütten.
Und in diesem Moment wurde auch in meiner eigenen Kugel ein Glassplitter entfernt. Ich sah nach oben und dort eine weiße Kugel, die einen schwarzen Zylinder zu tragen schien.
Und in diesem Moment wurde mir etwas klar: Ich selbst war dieser Schneemann in der Glaskuppel, der wiederum eine kleinere Kugel in der Hand hielt, in der ich ebenfalls stand und eine Kugel in der Hand hielt, in der... naja, und so weiter halt. Und dann müßte diese weiße Kugel da oben mein eigener Hinterkopf sein, denn da draußen müßte auch ich stehen und auf mein noch größeres Ich starren. Ich stellte fest, daß ich einen häßlichen Pickel auf dem Hinterkopf hatte.
"Hallo", sagte ich und vernahm in diesem Moment Milliarden von Echos meiner Stimme, denn jedes meiner Abbilder stellte die selbe Frage. "Bist du ich?"
"Ja", antwortete ich.
"Wie kann das denn angehen?"
"Woher soll ich das denn bitte wissen. Ich bin genauso klug, wie du", sagte ich.
"Ach ja, tut mir leid. Hab ich vergessen."
"Und was machen wir jetzt?", wollte ich von... mir wissen.
"Wir könnten Schach spielen."
"Haha, du erzählst ja genauso blöde Witze, wie ich."
"Natürlich mache ich das. Immerhin bin ich du... also, du bist ich... wir sind... also... alle..."
Irgendwie war es seltsam. Natürlich wußte ich, daß ich hier mit mir selber sprach und somit alle Voraussetzungen für eine medikamentöse Behandlung erfüllte, aber es war... anders. Wenn ich eine Frage stellte, wußte ich nicht, was ich, also mein anderes Ich, der Schneemann von draußen, also... ach verdammt... also, was ich im nächsten Moment antworten würde, als ob die anderen Ichs ganz andere Personen wären. Diese ganze Situation überforderte mich intellektuell doch ein wenig.
"Mich auch", sagte ich.
"Kannst du Gedanken lesen?"
"Nur meine eigenen."
"Das finde ich aber irgendwie unhöflich von dir."
"Ja, aber ich werde versuchen, dich nicht in Verlegenheit zu bringen."
"Nein, ich meine, daß du mir hier ständig den Rücken zuwendest, wenn ich mit dir rede."
"Oh, tut mir leid, warte." Ich drehte mich also um. Aber das war auch ziemlich unpraktisch, denn jetzt konnte ich mich ja nicht mehr sehen. Zumindest nicht das Ich außerhalb der Kugel. Stattdessen starrte ich jetzt dem kleinen Schneemann auf den Hinterkopf. Aber bei ihm konnte ich wenigstens den Pickel nicht erkennen. Das war schon mal eine Steigerung, fand ich.
"Besser?", fragte ich.
"Ja, ein wenig. Soll ich dir mal was sagen?"
"Ich weiß, ich habe einen Pickel am Hinterkopf."
"Das auch. Aber das meinte ich nicht. Seit Jahren stehe ich mir hier die Beine in den Bauch und träume davon, einmal eine Schneekugel von außen zu sehen. Dann sehe ich mal eine von außen und kann sie nicht schütteln, weil mir davon wieder übel wird."
"Ja, ich verstehe dich. Mir geht es da ganz ähnlich."
"Ja, aber das ist nunmal mein Schicksal, da kann ich nichts dran ändern."
"Ich aber. Wie wäre es, wenn du deine Schneekugel nur ganz vorsichtig bewegst? Dann wirst du auch nicht so grob durchgeschüttelt und kannst zusehen."
Ich fand diese Idee ziemlich gut. Und so begann ich, die Kugel in meiner Hand ganz vorsichtig zu schütteln. Ich verspürte ein leichtes Rucken, konnte aber trotzdem in die Schneekugel sehen. Und es war wundervoll. Die Plastikflocken umspielten den Schneemann und tanzten zu einer Musik, die nur sie selber zu hören schienen. Ich sah, wie sich der Plastikschnee auf dem Baum sammelte und auch das Haus teilweise unter sich begrub. Es war so erhaben, daß ich die Welt um mich herum vergaß. Ich ließ die Hand sinken und die Kugel fiel mir aus der Hand.
Das letzte, was ich spürte, war ein harter Aufprall. Die Plastikkuppel zerbrach endgültig und die Flüssigkeit ergoß sich über den schneebedeckten Plastikboden.
... Schweißgebadet wachte ich auf. Gut, ich war natürlich nicht schweißgebadet, schließlich bin ich ein Schneemann, der in einer wasserähnlichen Flüssigkeit steht, es mangelt mir also an Poren, aber ich spürte das metaphorische Äquivalent von Schweiß auf meiner Stirn. Wen wundert das, schließlich träumt man nicht jeden Tag von seinem eigenen Ableben.
Das Bild der Schneekugel aus meinem Traum hatte sich aber unlöschbar in meinem Gedächtnis eingebrannt und immer, wenn sich fortan eine schokoladenverschmierte Kinderhand meiner Kugel näherte, spürte ich eine seltsame Verbundenheit mit dem Kind.