Iceman
Sie stand an der Bushaltestelle und wartete. Diesmal nicht auf den Bus sondern auf ihn.
Mia, ihre beste Freundin, hatte ihr den Tipp mit der Kontaktbörse im Internet gegeben. Bei Mia hatte es funktioniert. Nach zweijährigem Singledasein, hatte sich Lars in ihr Leben gemailt. Lars war sicher kein Adonis und vermochte es auch nicht, die Frauenwelt in Auf- oder Erregung zu versetzen, aber für Mia passte es.
Genug von Lars dem Langweiler. Ihr Date hatte den wohlklingenden Namen Iceman. Seit einem Monat tauschten sie alle zwei Tage ihre mehr oder weniger jugendfreien Gedanken aus. Er war frech, schlagfertig, unberechenbar und mutig. Genau so wie sie es sich von einem Mann wünschte. Sie wusste ziemlich wenige Hardfacts über ihn. Er ein bisschen mehr über sie, weil sie in einer E-Mail zu später Stunde in angeduselter Prosecco-Laune ins Plaudern gekommen war. Er hielt sich geheimnisvoll bedeckt und keiner von beiden hatte jemals die potentiell entzaubernde Frage nach einem schnöden Foto gestellt.
Natürlich hatte Top Gun seine Spuren hinterlassen. Aufgrund Mias wohlgemeinter Warnungen hatte sie sich prophylaktisch aber schon einmal von einigen Erwartungen verabschiedet. Gedanklich hatte sie die Fliegerjacke gestrichen und war aufgrund der mangelnden Sonneneinstrahlung an diesem grauen Märztag auch bereit, auf die coole Sonnenbrille zu verzichten. Realistisch betrachtet war ihr Iceman wahrscheinlich auch kein Bomberpilot. Na ja, vielleicht wenigstens bei Lufthansa oder so.
Als er ihr ein Treffen vorschlug, bat er gleichzeitig darum, dass sie ihm vertrauen und sich auf das Ungewöhnliche einlassen würde. Wenn sie das Mia erzählt hätte, wäre sie wahrscheinlich jetzt nicht hier an dieser Bushaltestelle. Mia hätte nach mehrstündigem Vortrag über die Gefahren des Lebens persönlich sicher gestellt, dass sie sich nicht in dieses Wagnis stürzen würden. Also hatte sie Mia bei der Beste-Freundin-Vorbereitungsbesprechung diesen Satz einfach unterschlagen.
Das Taxi hielt dicht neben ihr. Ein junger Bursche stieg aus. Bestimmt Student, Typ maximale Harmlosigkeitsstufe. Was wollte der denn? Sie hatte echt keine Lust, jetzt den Wegweiser zu spielen. Bekamen die denn nicht eine Schulung, bevor sie mit dem Taxifahren anfangen durften?
„Scarlett?“, der Taxistudent sah sie fragend an. Aaaah, das war ihr Internet-Pseudonym. Ein Überbleibsel der romantischen Vom-Winde-Verweht-Einflüsse aus ihrer frühen Jugendzeit. Ihr Denkzentrum war gerade vor Überraschung kalt gestellt und so stammelte sie ein unbeholfenes „Ja“.
„Ich habe den Auftrag, sie zu Iceman zu bringen. Er bittet darum, dass sie sich dieses Tuch um die Augen legen.“, sprach es und reichte ihr einen erotisierend roten Seidenschal.
In solchen Momenten entscheidet sich, welchen Weg der Fluss des Lebens nimmt. Das hatte sie mal irgendwo gelesen, und wahrscheinlich war es für Augenblicke wie diesen geschrieben worden. Es gab maximal zwei Alternativen. Den Kopf schütteln, sich umdrehen und ab nach Hause. Home sweet home, wo man nicht mit verbundenen Augen herumlaufen muss. Der Haken an der Sache war, dass die Sache mit Iceman sich dann vermutlich erledigt hatte. Oder Plan B – à la neuneinhalb Wochen diesen Schal umbinden und sich ins Abenteuer stürzen. Was hatte Iceman mit ihr vor?
Sie entschied sich blitzschnell für B. Das Gehirn war noch nicht wieder ganz auf Betriebstemperatur. Ihre Vorfreude, ihre Neugier, Ihr Herzklopfen, das zugleich beunruhigende als auch wohlige Gefühl des Schmetterlingsschwarms in ihrem Bauch saugten alle Energie auf, die ihr sonst zum Denken zur Verfügung stand.
Ihr Chauffeur in spe half ihr dabei, das Tuch um ihren Kopf zu legen. Er war sehr behutsam. Der Knoten, den er machte, war sorgfältig gebunden und saß weder zu fest noch zu locker. Er half ihr in den Wagen, und sie hörte, wie die Tür zuschlug. Die Seide des Schals war weich und kühl. Oder kam es ihr nur so vor, weil die Haut ihres Gesichtes vor Aufregung glühte?
Der Motor startete und das Taxi setzte sich in Bewegung. Sie spürte das straff gespannte Leder des Sitzes an ihren Beinen, dort wo ihr Rock endete. Der Wagen roch leicht süßlich nach diesen grässlichen Duftbäumchen, die man an jeder Tankstelle kaufen konnte. Das schnelle Pochen ihres Herzens dominierte alle anderen Sinneseindrücke und band ihre Aufmerksamkeit.
Was machte sie hier eigentlich gerade? Ihre Gedanken tanzten ein wildes, ungeordnetes Intermezzo aus Vorfreude, Erregung und Angst.
Als der Wagen abrupt hielt und die Tür zu ihrer Linken geöffnet wurde, befürchtete sie für einen Moment lang, dass ihre Atmung aussetzen oder ihr Herz stehen bleiben würde. Nichts von beidem geschah.
Ein kühler Lufthauch strömte in das Wageninnere und wurde abgeschnitten als die Tür wieder zuschlug. Sie war nicht mehr allein auf der Rückbank. Neben ihr hatte jemand wortlos Platz genommen. Iceman!
Sie spürte seinen interessierten Blick, der auf ihr lag und ihren ganzen Körper abtastete. Sein Atem ging ruhiger als ihrer, aber das war auch kein Kunststück. Er verströmte einen betörenden männlichen Rasierwasserduft, den sie mit jedem Atemzug einsog.
Noch nie hatte sie das Gefühl gehabt, einem anderen Menschen derart ausgeliefert zu sein, wie in dieser Situation. Warum sagte er nichts? Was dachte er jetzt? Was hatte er vor mit ihr? Würde er sie gleich berühren?
Jede Faser ihres Körpers war angespannt. Wo würde sie seine Berührung spüren? Würde sie sanft oder entschlossen sein?
Sie hörte ihr Schlucken und konnte den Schwall ihrer konkurrierenden Gefühle nicht sortieren.
„Du kannst das Tuch jetzt abnehmen.“ Der blecherne Klang seiner Stimme, ließ sie jäh aus ihren Empfindungen fahren. Hastig zog sie sich den Schal von den Augen.
Neben ihr saß Iceman. Der aufregend schöne Bomberpilot. Genau so wie er in den vergangenen Wochen ihre Vorstellungen belebt hatte. Doch plötzlich verschwamm das Bild. Die Gesichtszüge wurden unklar, firmierten sich neu. Sein Haar wuchs in Millisekunden und tönte sich dunkel. Das Leder seiner imaginären Fliegerjacke zerschliss und alterte um Jahre.
Iceman war verschwunden. Stattdessen saß dort ein anderer. Er hatte Iceman getötet. Sie hasste ihn.
Sie wusste nicht mehr genau, wie sie das Taxi verlassen und welchen Weg sie genommen hatte. Irgendwann stand sie vor Mias Tür. Als die Tür sich öffnete und sie in Mias Gesicht sah, fühlte sie, wie die Tränen sich den Weg über ihre Wangen bahnten. Es waren Tränen der Erleichterung, des nach Hause Kommens in bekanntes Terrain und des Abschieds von Iceman, ihrem toten Helden.