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Ich Bin Ein Mensch

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14.02.2004
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Ich Bin Ein Mensch

Heute wird sich alles ändern. An sich ist es kein besonderer Tag; ein Dienstag. Ich weiss nicht wieso es gerade heute passiert. Eigentlich glaube ich nicht an das Schicksal, denn ich denke, mein Leben selbst zu bestimmen. Es muss also bloss mein spontaner Entscheid dazu sein, dies gerade an diesem Dienstag Winterabend zu tun.
Ich sehe auf meine Armbanduhr. Es ist jetzt genau 19:44. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich, dass die Welt weiss ist. Schnee liegt auf den Strassen, bedeckt die kahlen Bäume und Büsche, hat sie wie eine Decke auf die Dächer gelegt. Damit ist noch nicht genug, denn noch immer fallen die Flocken, verhindern eine klare Sicht. Wo zu einer anderen Jahreszeit alles blau und frei ist, kann ich heute nur fahles Licht herabscheinen sehen. Die Kälte hab ich noch nie gemocht und doch ist sie mir ähnlich. Sie ist herzlos und düster, ohne Gnade. Niemand denkt so über mich. Niemand kennt mich wirklich. Heute werden sie mich kennen lernen, erkennen, dass ich nicht einfach nur der gutaussehende, anständige Junge bin, für den sie mich immer gehalten haben.
Das ist nicht ein Fenster meines Zuhauses oder meines Zimmers, nein, es ist ein Fenster in einem Zugwagon und sitze gleich daneben, bei den ersten Plätzen, wenn man einsteigt. Es ist ruhig. Etwa zwanzig Menschen befinden sich mit mir hier. Manche von ihnen lesen, manche von ihnen hören Musik, manche von ihnen schauen einfach nur aus dem Fenster, genau wie ich. Am fragwürdigsten finde ich jene, die gar nichts tun, nur dasitzen und ins Nichts starren. Ob sie genauso sind wie ich? Nachdenklich, alleine und böse. Ich weiss es nicht. Aber eigentlich wird all mein Wissen sowieso bald nichtig sein, genau wie all das aller anderen zwanzig Leute hier. Das ist die Gesellschaft. Zurückgezogen, verschwiegen und unscheinbar. Sie würden es Anstand nennen. Man ist sich fremd, also redet man auch nicht miteinander. „Man redet nicht mit fremden Leuten.“, erinnere ich mich an eine erzieherische Stimme. War das meine Mutter? Vielleicht auch mein Vater. Oder warum nicht gleich meine Lehrerin, meine Oma, einer meiner Freunde? Warum nicht gar mein kleinerer Bruder? Sie alle denken so. Es hätte jeder von ihnen sein können. Jeder einzelne. Kopien. Kopien von Kopien und Kopien die von Kopierten bereits wieder kopiert wurden. Wir sind Serienprodukte, billig im Preis und leistungsstark, dafür aber ohne Leben, ohne Geist und Fantasie. Eigentlich sind wir schon so gut wie tot.
Ich habe mich mal einigen offenbart. Das war ein Fehler. Vielleicht sind deshalb alle so... „stumm“, weil man von niemandem verstanden wird und gleich als etwas Sonderbares und Meidenswertes eingestuft wird. Leute wie ich können aber gut damit leben, nicht verstanden zu werden. Wir leben einfach, gehen unseren Problemen so gut es geht aus dem weg, versuchen sie zu verdrängen, nehmen sie aber auch einfach hin, wenn es sein muss. Wir suchen nicht nach Gründen, nach einem Sinn oder nach einem Ziel. Das Leben wurde uns nicht geschenkt, um nach bürgerlichen Werten zu streben. Es geht nur um die Momente, um die Augenblicke, dieses unendliche Glück, diese Liebe und Kraft, die man empfinden kann, wenn man einfach mal eine Sekunde stehen bleibt und die Welt beobachtet, ihre ganze Pracht und Schönheit erkennt. Leider kann man heutzutage kaum noch kurz stehen bleiben. Die Zeit hat die Oberhand gewonnen, verlangt von uns, mit ihr zu gehen. Wer das nicht tut, verirrt sich, wird vergessen und verstossen. Das ist schade. Das ist traurig. Das ist verachtenswert. Ich hasse dieses System, dieses Kämpfen, dieses Greifen nach Luxus. Es ist unsere Krankheit, unser Untergang, die Vernichtung des Menschen, unseres selbst. Ja, wir sind keine Menschen mehr. Wir sind Ungeziefer. Wir sind Unkraut. Wir sind der Schimmelpilz dieses Planeten, Schimmelpilz unserer eigenen Art. Es gibt nur noch zwei Dinge, die an unsere einstige Menschlichkeit erinnern; der Drang nach Sex und der Drang nach Gewalt. Keine besonders gute Eigenschaften.
Mittlerweilen ist es 20:04. Der Zug kommt in Bewegung, fängt langsam an zu rollen. Die Person gegenüber mir ist männlich und etwa um die vierzig. Er sieht müde und ungepflegt aus. Der rötlich braune Bart um seinen Mund herum sieht schmutzig aus, als hätte er den Rotz seiner Nase daran abgestrichen. Sein Kopf ist beinahe kahl, wird nur noch von einer halbkreisförmigen Haaransammlung bewohnt. Das schlimmste sind seine Augen. Sie sitzen tief in seinem Gesicht, werden von den dunklen Augenbrauen beschattet. Ihr glänzen und ihr apathischer Blick, verrät mir, dass er in letzter Zeit wenig geschlafen hat. Ich denke, er wird mir dankbar sein. Ein letztes mal Blicke ich nochmals aus dem Fenster, betrachte diese Welt, wünschte, ich hätte mehr Momente mit ihr erleben können. Dann lasse ich los, vergesse alles, begebe mich ganz und gar in meine Vollkommenheit, meinen Schmerz. Ich greife nach meiner grossen Turntasche und lege sie neben mir auf den freien Sitz. Meine Hände zittern. Ich mag meine Angst und muss leicht grinsen. Meine Augen müssen glühen. Das surrende Geräusch beim Öffnen des Reissverschlusses erreicht mich als ein dröhnendes Echo und lässt mein Herz heftiger schlagen, den Puls wie düsteren Bass durch meinen Körper hallen. Der Inhalt der Tasche glänzt. Meine Hand schwebt hinein und packt zu, holt das lange, dünne Messer heraus. Einen Moment lang blickt der Mann mir gegenüber ganz überrascht, scheint dann aber froh in seinen unendlichen Schlaff zu fallen. Ich ziehe die Klinge aus seinem Herz und überfalle die alte Dame auf der anderen Seite, streiche ihren faltigen Hals mit der Schneide und ramme meine Waffe in ihren weichen Schädel, als sie zu vorne überkippt. Geschrei, schockierte, bleiche Gesichter, gezeichnet von Angst, benetzt mit Schweiss. Meine Augen sehen es, wecken aber keine Gefühle in mir, kein Mitleid, kein Erbarmen. Ich schlachte sie. Ich schlachte sie wie die Feinde, die sie immer waren. Ihre Augen, ihre Zungen und ihre Finger, sie gehören jetzt alle mir, sind Mein. Ich bin geleitet von meiner geistigen Abwesenheit, kann ihr Gestöhne, ihr Leiden kaum noch hören, sehe nur diese unmenschliche Furcht. Ja, sie ist unmenschlich und nun wissen sie es, bereuen es, nicht ein Mensch zu sein, den Instinkt zu Überleben nutzen zu können. Man wird sagen, dass jener, der dieses Blutbad anrichtete ein unmenschlicher Bastard gewesen sein muss. Aber ich bin menschlich, in diesem einen Augenblick, wenn ich unschuldigen, wehrlosen Menschen ihr Leben nehme, bin ich menschlich und zwar mehr als jemals zuvor, denn ich handle ohne Logik, ohne Grundsatz oder Ziel. Ich töte, so wie unsere Urahnen getötet haben, bis sie verstanden, was der Tod zu bedeuten hatte. Nun, wo wir es wieder vergessen haben, soll es uns wieder einfallen. Wir sollen sehen, wie er sich anfühlt, wie alles in kleine, glitzernde Scherben zerspringt und zu flüssigem Wasser schmilzt, das sich an einem Punkt sammelt und dort versickert, bis nichts mehr übrigbleibt. Das ist die Wahrheit. Wir leben und wir sterben, was dazwischen liegt, ist nur der Prozess, nichts weiter.
Ich stehe da, in der Mitte des Wagons. Blut am Stoff der Sitze, Blut an den kalten Scheiben, Blut am Boden und an meiner Kleidung. Blut am Messer. Leichen, verteilt über die ganze Länge dieses Raumes. Leblose Körper, herabhängende Arme und Hände, schlafende Gesichter. Das Lächeln auf meinem Gesicht will mich nicht mehr verlassen. Ich blicke nach oben, starre in die Neonröhre und ihr gleissendes Licht, das mich nun nicht mehr zu blenden vermag. Ich merke mir dieses Gefühl, geniesse es, koste es in jeder Faser seines Seins aus und setze die Klinge an meine Kehle. Ich bin ein Mensch. Das Licht wird schwächer, wird dunkler, scheint sich in kleine glitzernde Sterne zu teilen und verschwindet dann ganz. Dunkelheit umgibt mich, mein Bewusstsein taub. Und dann ist plötzlich nichts mehr.

 

Hallo Clyan,

du vermischt in deiner Geschichte eine reale, jedem bekannte Situation mit einem Alptraum, der aus der Kälte einer teilnahmslosen Gesellschaft genährt wird.
Dein Protagonist sieht sich schon anfangs mit Menschen konfrontiert, die mehr Maschine denn Lebewesen, mehr tot denn lebendig sind.
Seine Sicht auf die Gesellschaft, geprägt vom familiären Umfeld, ist wie ein Spiegel seiner selbst. Er erkennt in seiner Umgebung sein eigenes Wesen, das unweigerliche Parallelen zu den von ihm so gehassten Leuten aufweist. Er ist geprägt von der Gesellschaft und empfindet gleichzeitig nur abgrundtiefen Hass für sie - und so auch für sich selbst. Er bezeichnet sich als "böse".
Aus dieser Erkenntnis, die im Zugabteil schlagartig und in aller Härte in sein Bewusstsein tritt, scheint gleichzeitig auch eine Angst geboren zu werden, nämlich dass er im Grunde wie all die anderen ist, wie jene, die teilnahmslos aus dem Fenster starren, unfähig mit anderen zu sprechen.
Worüber denn auch? Etwa über die Schneelandschaft? Der Protagonist müsste Unverständnis befürchten oder gar der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden. Das letzte Menschliche in ihm, seine Empfindung für die an sich doch schöne Welt, wird in Hass gegen sich und seine Umwelt verkehrt.
Dann erblickt er diesen Mann. Er sieht zerzaust aus. Wie ein müder Penner. In diesem Mann wird die Sicht des Protagonisten personifiziert. Er sieht in ihm all das Unvollkommende, all die Markel der Gesellschaft - und scheint in diesem Moment auch sich selbst zu erkennen, nämlich dass er im Geiste, in seiner Seele irgendwann diesem Penner gleichen wird, weil er keine Chance hat, seine Gefühle in der kalten Welt da draußen auszuleben.
Hier muss dann die Initialzündung gekommen sein, die den Protagonisten motiviert, ein Blutbad anzurichten, seine ganze Wut, all den Hass schlagartig aufzulösen.
Er metzelt die Menschen nieder, verstümmelt sie, als wolle er das Gefühl in sich töten, verstümmeln, bis zur Unkenntlichkeit vernichten.
Nach diesem Akt der Gewalt spürt er eine Erleichterung, einen Moment der Ruhe, des Friedens. Nun ist das Zugabteil wie eine rote Schneelandschaft, wie eine Decke, die sich über das verhasste Gefühl in ihm legt.
Dieser Augenblick des absoluten Friedens aber, so weiß der wohl nicht unintelligente Junge, wird nicht lange anhalten, denn die Gesellschaft wird sein Handeln nicht verstehen, wird ihn verfolgen, ächten und verurteilen.
Um diesen Augenblick aber ewig werden zu lassen, ist ihm nur ein Weg gegeben. Er setzt das Messer an seinen Hals...

Eine interessante Geschichte.
Allerdings beschwerend zu lesen, da du nur wenige Absätze benutzt.
Auch sind einige Rechtschreibfehler dazwischen, die du aber beim wiederholten Lesen selber finden dürftest.

Lg
Jan

 

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