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In der Dunkelheit des Waldes
„Wieso kann ich nicht alleine zu Hause bleiben, verdammt?“, lärmte es von der Rückbank des Autos nach vorne.
„Zum allerletzten Mal, du bleibst diesen Abend bei Benedikt, und jetzt keine Diskussionen mehr!“ Die Stimme seiner Mutter erfüllte ihren Zweck: Tobias gab seine Proteste endgültig auf. Stumm schaute er aus dem Fenster in die Abenddämmerung des Nobel-Vorortes und ließ seinen Blick über die herrschaftlichen Anwesen wandern, die nach und nach an ihm vorüberzogen.
„Echte Prachtbauten“, musste er neidlos anerkennen, auch wenn nach seiner Auffassung nur Snobs in solchen Villen wohnten. Tobias lehnte seinen Kopf gegen die Fensterscheibe, um einen besseren Blick nach vorne zu ergattern. Es war nicht mehr weit: Das Haus, nach dem er Ausschau hielt, war bereits zu sehen und näherte sich jetzt mit hohem Tempo. Dieses Haus war ihr Ziel - nicht sein Ziel - sondern vielmehr das seiner Eltern, denn hier hauste Tobias’ unerträglicher Cousin Benedikt, mit dem er seinen Freitagabend verbringen sollte. Bei diesem Gedanken stieg wieder die Wut in ihm hoch, die er auf seine Eltern hatte. Diese wollten mit Benedikts Eltern in ein Konzert gehen und zwangen ihn, währenddessen bei seinem liebenswerten Cousin zu bleiben.
Doch schon bog der Wagen in die Einfahrt, passierte den ausgedehnten Vorgarten, und kam vor dem Gebäude zum Stehen. An und für sich war dieser Neubau durchaus eindrucksvoll, im Angesicht der anderen Häuser in dieser Gegend aber eher unscheinbar.
„Mach’ schnell, wir sind schon ziemlich spät“, ließ Tobias’ Vater hinter dem Steuer verlauten.
„Ich weiß“, stöhnte dessen Frau und stieg aus. Auch Tobias verließ sichtlich genervt den Wagen und ging hastig mit seiner Mutter in Richtung Hauseingang, wo sie schon erwartet wurden. Dann verlief eigentlich alles ganz schnell: Tobias’ Tante begrüßte sie wie immer herzlich, schob Tobias in die Diele und rief Benedikt und ihren Mann. Tobias’ Onkel war auch sofort ausgehfertig, worauf die Erwachsenen noch viel Spaß wünschten und schlagartig das Haus verließen.
Tobias blieb alleine zurück und schaute missmutig zu, wie die Tür ins Schloss fiel. Mehrere Sekunden lang blieb er ruhig stehen, doch die so plötzlich eingetretene Stille wurde jäh unterbrochen, als Tobias Schritte hinter sich vernahm. Mit angespannter Erwartung drehte er sich um, worauf auch gleich ein übergewichtiges Kind, Schokoriegel fressend, in die Diele getrottet kam und ihn interessiert begutachtete.
„Hallo Benedikt“, seufzte Tobias.
„Pass auf, Lusche! Ich spiele grad’ ein Videospiel, dabei darfst du mir zugucken“, tönte sein Gegenüber, der gleich darauf den kleinen Cousin in den Schwitzkasten nahm und mit ins Wohnzimmer zerrte. Es war wie immer: Benedikt liebte es, Tobias zu peinigen, wenn sie alleine waren. Aufgrund seiner eher hageren Statur hatte Tobias ihm leider nichts entgegen zu setzen, Benedikt war größer, mit seinen 13 Jahren zwei Jahre älter, und vor allem stämmiger. Aber zum Petzen war Tobias einfach zu stolz. Lieber ließ er die Tortur über sich ergehen, als heulend zu seinen Eltern zu rennen, und träumte davon, einmal stärker zu sein als Benedikt.
Zäh floss die Zeit dahin. Tobias schaute auf seine Uhr und seufzte, gerade mal 23 Uhr. Es konnte sich nur noch um Stunden handeln, bis seine Eltern wiederkämen und ihn endlich erlösten. Benedikt schaute gerade eine Comedy-Serie im Fernsehen, während er mit seiner ganzen Körpermasse auf Tobias lag.
„Könnten wir nicht vielleicht etwas anderes machen?“, keuchte dieser, dem das Atmen unter Benedikts Last recht schwer fiel.
„Etwas anderes willst du machen? Hmmm..., na gut.“ Benedikt stand auf und schaltete den Fernseher aus. „Einen Moment“, sagte er und verschwand unvermittelt in der Küche.
Was er sich jetzt wohl wieder erniedrigendes für mich ausgedacht hat?, fragte sich Tobias, als Benedikt mit einer Zeitung in der Hand wieder zurück getrabt kam.
„Hier, lies das!“ Benedikt drückte ihm das Papier in die Hand und deutete auf einen kleineren Artikel am linken Rand der ersten Seite. „Mädchen verschwindet spurlos“ stand dort als Schlagzeile. Es handelte sich um den Lokalteil der örtlichen Zeitung vom 23. September des vergangenen Jahres. Der Artikel berichtete von der 13jährigen Anna Bäumer, die an einem Abend aufgebracht ihr Elternhaus verließ, und kurz darauf spurlos verschwand. Nachbarn hatten gesehen, wie sie nach einem Streit mit ihren Eltern, schreiend aus dem Haus rannte, und in den nahegelegenen Wald flüchtete. Nachdem sie auch am nächsten Morgen nicht zurückgekehrt war, durchsuchte man den Wald nach ihr, aber ohne Erfolg. Der einzige erschreckende Fund war ihre blutverschmierte Jacke, die auf einer Lichtung gefunden wurde. Das Mädchen selbst blieb verschwunden.
„Und was soll ich jetzt damit? Dieser Artikel ist ein ganzes Jahr alt!“
„Hör zu! Anna ist bis heute nie wieder gesehen worden, ... jedenfalls nicht lebendig.“, bei diesen Worten wurde Benedikts Gesicht sehr ernst, „Ich kannte Anna, sie wohnte nur ein paar Straßen weiter. Eigentlich war nichts besonderes an ihr, doch kurz nach ihrem Verschwinden kam es hier immer wieder zu seltsamen Ereignissen. Die Leute, die direkt am Waldrand wohnen, berichteten von schlaflosen Nächten, in denen Anna aus den Tiefen des Waldes nach ihren Eltern rief. Immer und immer wieder, die ganze Nacht lang. Ihre Stimme war zwar undeutlich, aber dennoch eindringlich und unüberhörbar, sie war nicht genau zu orten und antwortete auch nicht auf Rufe.“ Tobias machte ein sehr skeptisches Gesicht und wollte Benedikt gerade sagen, dass er nichts von seiner abstrusen Story hielt. Aber dieser fuhr unbeirrt fort.
„Manche wollen sie sogar gesehen haben: Eine dunkle Gestalt, die nachts verwirrt und ziellos durch den Wald streift. Und genau dort gehen wir jetzt hin, mein lieber Tobias, in den Wald!“
„Und warum, bitteschön?“, fragte Tobias entsetzt, was sollte diese hirnlose Idee überhaupt?
„Anna verschwand in der Nacht auf den 20. September. Das ist genau diese Nacht vor einem Jahr, zweifelsohne wird sie dort sein.“ Benedikt schaute seinem Cousin hämisch grinsend in die Augen.
„Das ist doch bescheuert!“, pflaumte Tobias ihn an.
„Bescheuert? Schließlich wolltest du doch etwas anderes machen, und ich biete dir etwas an. Oder hast du etwa Angst?“ Tobias hielt inne. Jetzt hatte Benedikt ihn da, wo er ihn haben wollte. Natürlich hatte er Angst davor, nachts in den Wald zu gehen, auch wenn er dieser Geschichte keinerlei Glauben schenkte, vor allem wenn sie aus Benedikts Mund kam. Nur hatte er auch ein grundlegendes Problem damit, seine Ängste gegenüber anderen Personen zuzugeben. Benedikt wusste das.
„Angst? Pah, ich doch nicht!“, antwortete er schließlich selbstbewusst.
„Prima, dann los.“
Nach einigen Minuten Fußmarsch standen sie nun stumm unter einer Laterne und schauten in den schwarzen Wald hinein. Die Straße, auf der sie sich befanden, endete hier. Sie mündete in einen kleinen Waldweg, der sie zu der Lichtung bringen sollte, auf der Annas Jacke gefunden worden war. Es war ruhig, keine Rufe, keine Tierlaute, keine knackenden Äste, im Wald herrschte eine Totenstille. Für Tobias war es zu ruhig, er versuchte irgendetwas zu erkennen, aber hinter den ersten Bäumen, die das Laternenlicht noch erreichte, schien sich eine undurchdringliche Wand aus Dunkelheit aufzubauen.
„Meinst du nicht, dass wir da drinnen einige Orientierungsprobleme bekommen werden?“
„Mensch Lusche, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, wir haben heute Vollmond. Wenn dieser erst mal hinter diesem Wolkenfetzen da oben hervorkommt, haben wir so viel Licht, dass selbst so ein Blindfisch wie du etwas sehen sollte. Außerdem stehen wir hier direkt unter einer Laterne, unsere Augen müssen sich doch erst noch an die Dunkelheit gewöhnen, also komm. Wir nehmen jetzt denselben Weg wie Anna vor einem Jahr.“ Benedikt ging voraus und betrat den Waldweg. Tobias zögerte erst, doch als Benedikt anfing Bewegungen und Laute eines Huhns zu imitieren, nahm er all seinen Mut zusammen und folgte ihm widerwillig in die Dunkelheit.
Benedikt hatte Recht gehabt. Kurz nachdem sie die Straße verlassen hatten, kam der Mond wieder hinter den Wolken hervor und tauchte die Umgebung in ein fahles graues Licht. Nach dem heißen Sommer waren die vergangenen Tage wieder ein bisschen kühler gewesen. Tobias fror etwas, war sich allerdings nicht sicher ob es wirklich die Kälte war, die ihn zum Zittern brachte, oder nicht vielmehr die geheimnisvollen Schatten, die den jetzt breiten Weg säumten und nur darauf warteten, ihn jeden Moment aus der Dunkelheit anspringen zu können. Tagsüber liebte er es, in der Ruhe und Abgeschiedenheit des Waldes zu spielen, aber nachts war es einfach nur unheimlich hier. Auch wenn er Benedikt nicht mochte und ohne ihn gar nicht erst in diese Situation gekommen wäre, so war er dennoch froh, dass er in diesem Moment bei ihm war.
„Wie weit ist es noch?“, fragte Tobias.
Benedikt schluckte das letzte Stück seines Schokoriegels herunter. „Noch ’ne Viertelstunde ungefähr. Wart’ mal grad’.“ Er ging an den Rand des Waldweges und leerte seine Taschen. Dutzende von aufgerissenen Verpackungen, einst Süßigkeiten beinhaltet, fielen zu Boden.
„Was machst du da?“
„Ich entsorge meinen Müll, was dagegen?“
„Wofür gibt es wohl Mülleimer? Du schmeißt das Zeug ja direkt in den Wald!“
„Reg’ dich nicht so auf, du klingst ja wie mein Vater, der ist auch so ein Umweltfanatiker! Stell’ dir mal vor: Als mein Opa vor einiger Zeit starb, vererbte er ihm das ganze Land auf dem wir uns jetzt befinden.“
„Bitte was?“
„Du hast schon richtig gehört. Weite Teile dieses Waldes sind Privateigentum und gehören meiner Familie. Aber anstatt die ganzen Hektar in Geld umzuwandeln, lässt mein Vater alles wie es ist. Er meint immer nur, dass wir schon reich genug wären und, dass es wichtiger wäre dieses große Biotop zu schützen.“, Benedikts Stimme wurde immer lauter, „Bla bla bla. Aber ich sage dir eins, wenn ich erst mal dieses Land besitze, dann wird es verkauft, planiert und bebaut. Na Cousin, wie gefällt dir das?!“ Tobias war baff. Benedikt erzählte gerne Lügengeschichten, aber dass sein reicher Großvater in der Umgebung viel Land besessen hatte, war selbst ihm bekannt.
„Das ist so jämmerlich ...“
„Ach bitte, es gäbe nichts was du dagegen tun könntest!“
Auch Tobias wurde jetzt lauter: „Na schön, mal schauen was Anna dazu sagen wird!“ Ein lautes Rascheln zwischen den Bäumen ließ die beiden aufschrecken. Gebannt schauten sie auf das dunkle Gebüsch, das sich immer noch bewegte. Ein Vogel erhob sich und flatterte über ihre Köpfe davon. Tobias atmete tief durch.
„Mann, was bist du doch für ein Angsthase, hehe! Komm jetzt.“ Benedikt ging kichernd weiter. Tobias hatte keine Lust mehr ihm zu folgen, traute sich aber auch nicht, den dunklen Rückweg alleine anzutreten. Sein Blick wanderte wieder zu dem Gebüsch, hatte sich dahinter nicht gerade etwas bewegt? Er starrte in die Dunkelheit, gleichzeitig stieg das unbehagliche Gefühl in ihm auf, dass irgendetwas ihn beobachtete.
„Hey Lusche, einfach einen Fuß vor den anderen setzen! Kriegst du das hin?“ Benedikt war schon zehn Meter weiter gegangen und wartete jetzt ungeduldig.
„Alles nur Einbildung“, flüsterte sich Tobias zu und schloss schnellen Schrittes zu seinem Cousin auf. Zwei Augen schauten ihm aus dem Schutz der Dunkelheit hinterher. Das schemenhafte Wesen, dem sie gehörten, hatte das Gespräch der Jungen aufmerksam verfolgt.
... planiert ... bebaut ... nichts dagegen tun ... dieses Land ... dagegen tun ... wenn ich besitze... was dagegen tun ... Lange hatte es die Sprache der Menschen nicht mehr gehört, doch es schien verstanden zu haben, worum es ging. Mit einem Ruck bewegte sich die Gestalt tiefer in den Wald hinein, es gab viel zu tun diese Nacht.
Knapp zehn Minuten später erreichten sie die Lichtung, Benedikt wollte, dass sie einige Zeit warteten und Ausschau hielten. Tobias schaute umher, erwartete aber nicht wirklich, etwas besonderes zu entdecken. Auf einmal hörte er hinter sich ein Mädchen kichern, doch als er sich umdrehen wollte stieß ihn etwas mit gewaltiger Wucht zu Boden. Tobias brauchte einige Sekunden um den Schock zu verarbeiten und sah verwundert zu Benedikt herauf, der johlend vor ihm stand.
„Hehe, nicht schlecht wie ich die Stimme verstellen kann, was?“ Immer noch etwas benommen, rappelte Tobias sich auf.
„Aber jetzt mal ehrlich, hast du mir das wirk...?“ Benedikts Lachen verstummte. Ohne etwas zu sagen ging er an Tobias vorbei und würdigte ihn keines Blickes mehr.
„Hey, was ist los?“, Tobias folgte ihm, „Lichter im Gebüsch? Gehört das auch zu deinen Scherzen?“
„Nein. Aber es ist schön, findest du nicht?“
„Es ist bezaubernd.“ Eine Art Bann schien sie erfasst zu haben. Fasziniert standen sie vor den vielen winzigen Lichtern, die ein kleines Gebüsch am Wegrand bevölkerten, ahnten jedoch nichts von der Bedrohung, die sich hinter diesem Zauber verbarg.
Da war es wieder, dieses Gefühl. Erst jetzt konnte Tobias seine Augen von den Lichtern nehmen und richtete sie stattdessen auf die dunkle Welt jenseits der Lichtung. Sein Blick schweifte umher, von allen Seiten schienen jetzt Augen auf sie gerichtet zu sein. Da gab es keinen Zweifel, irgendetwas stimmte hier nicht. Und woher kamen diese Lichter überhaupt? Benedikt packte Tobias am Arm. Er starrte nun nicht mehr auf die Lichter, und auch Tobias wurde aufmerksam auf das, was sich jetzt wenige Meter vor ihnen tat. Ein dunkles Wesen hatte sich aus der Böschung erhoben und zwei rot leuchtende Augen schauten nun bedrohlich zu ihnen herüber. Tobias wollte wegrennen, aber er konnte nicht, die Angst lähmte seinen ganzen Körper. Auch Benedikt rührte sich nicht. Gebannt schauten sie das Ding an, Sekunden vergingen, nichts passierte. Doch auf einmal stieß es einen markerschütternden Schrei aus und bewegte sich jetzt langsam auf sie zu. Benedikt rannte los, den Weg zurück den sie gekommen waren. Der Schrei hatte auch Tobias aus der Starre befreit. Er warf einen letzten Blick auf das Wesen und nahm endlich seine Beine in die Hand. Schon nach kurzer Zeit hatte er Benedikt eingeholt, der bei weitem nicht so schnell laufen konnte wie er. Als Tobias ihn überholte, kam Benedikt ins straucheln und stürzte keuchend auf den harten Waldboden. Tobias blieb stehen und schaute zurück, das Wesen war nun mitten auf der Lichtung und bewegte sich weiterhin langsam aber zielgerichtet auf sie zu. Es kam ihnen wieder bedrohlich nahe.
„Komm’, wir müssen weiter!“ Tobias streckte seine Hand aus und zog Benedikt wieder nach oben. Als Dank gab ihm dieser einen kräftigen Stoß in die Brust und hastete los. Tobias flog mit einem Aufschrei zurück, knallte mit dem Hinterkopf auf einen herumliegenden Stein, und blieb bewusstlos liegen.
Soll es ihn doch kriegen, dann bleib’ ich wenigstens verschont, dachte Benedikt. Er traute sich nicht, sich umzudrehen, schnaubend und von Seitenstichen gequält rannte er weiter, er durfte jetzt nicht anhalten. Überall säumten Hunderte von Lichtern den Pfad, und Benedikt spürte, wie sie versuchten ihn zu sich zu locken. Doch die Angst vor der Dunkelheit jenseits des Weges war stärker. Als er nach einiger Zeit endlich einen Blick nach hinten riskierte, war die Lichtung schon nicht mehr zu sehen, der Weg hinter ihm leer. Plötzlich blieb er mit einem Fuß an einer Wurzel hängen und strauchelte erneut. Er wollte wieder aufstehen, doch etwas schien ihn festzuhalten. Die Wurzel, die aus dem Waldboden ragte, hatte sich um seinen Fuß gewickelt. Mit aller Kraft versuchte er sich mit den Händen zu befreien, trat mit dem anderen Fuß gegen das Gewächs, aber die Schlinge zog sich immer fester um seinen Knöchel. Er schrie vor Schmerzen, doch der Schrei blieb ihm umgehend im Halse stecken, als er die drei Gestalten sah, die ein paar Schritte vor ihm auf dem Waldweg standen. Das Wesen in der Mitte trat vor und musterte ihn eingängig mit seinen zwei rot schimmernden Augen. Hilflos schaute Benedikt zu dem Wesen hinauf, es war noch immer viel dunkler als die Umgebung, doch er glaubte Holz und Blätter an dessen Körper erkennen zu können. Das Wesen beugte sich nun direkt über ihn und flüsterte mit zischender Stimme: „Diessess Land ... planierrt ... bebaut ... wenn ich bessitze ... wass dagegen tun.“ Benedikt brachte keinen Ton heraus - bis die Gestalt mit einem Mal ihre hölzerne Hand nach ihm ausstreckte. Niemand hörte den gellenden Schrei, der jäh ertönte, und als er schließlich wieder verhallt war, schien es ihn auch nie gegeben zu haben.
Tobias öffnete seine Augen, die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages hatten ihn wach gekitzelt. Die Nacht unter freiem Himmel hatte seinem Körper mit niedrigen Temperaturen zugesetzt. Bibbernd richtete er seinen Oberkörper auf und spürte sogleich den ziehenden Schmerz an seinem Hinterkopf. Ein Blick auf den Boden hinter ihm, gab Gewissheit, dass er geblutet hatte. Ein Grund mehr, nicht länger hier zu verweilen. Immer noch etwas befangen stand er auf und sah sich um, auf einmal schossen ihm wieder die Bilder der letzten Nacht durch den Kopf und ließen erneut die Angst in ihm aufkeimen. Wie von einer Tarantel gestochen rannte er los, der Wald um ihn herum sah jetzt im Sonnenlicht zwar friedlich aus und auch das Wesen schien verschwunden zu sein, trotzdem wollte er nur noch raus hier. Er rannte bis zu der Stelle, an der Benedikt seinen Müll weggeschmissen hatte. Tobias zögerte erst, nahm sich dann aber doch die Zeit, die Verpackungen wieder aufzuheben, damit sie ordnungsgemäß entsorgt würden. Als er sie aufhob, bemerkte er einen Baum der einige Meter abseits des Weges stand. Da war doch etwas. Tobias näherte sich langsam dem Baumstamm und blieb direkt vor den vielen eigenartigen Wölbungen stehen, die an einer Stelle leicht aus der Baumrinde herausragten. Fassungslos starrte er das Gebilde an, ohne Zweifel waren hier Benedikts gequälte Gesichtszüge zu erkennen. Das war zuviel für ihn, was war hier bloß geschehen? Mit einem leisen Grummeln versank Benedikts Gesicht im Baum, die Wölbungen glätteten sich und ließen in der Baumrinde keine einzige Spur zurück. Entrüstet wandte Tobias sich ab und rannte weiter, wer bitteschön sollte ihm diese Geschichte glauben, einem verwirrten 11jährigen mit einer Platzwunde am Hinterkopf. Niemand würde es ihm glauben, er glaubte es ja fast selbst nicht. Aber was sollte er denn erzählen? Dass Benedikt im Baum ...?
Nein, das würde nur noch mehr Probleme verursachen, dachte er sich. Als er die Straße von Benedikts Haus erreichte, lief er seinen und Benedikts Eltern in die Arme, die schon stundenlang nach ihnen gesucht hatten. Er erzählte ihnen, dass sie nachts aus Spaß in den Wald gegangen und auf der Lichtung plötzlich von einem maskierten Mann überfallen worden waren. Dieser hatte ihn sofort k.o. geschlagen und Benedikt danach offenbar entführt. Benedikts Eltern riefen sofort die Polizei, welche daraufhin eine Großfahndung nach dem Täter einleitete. Noch am selben Tag fand Tobias heraus, was mit Anna Bäumer wirklich geschehen war: Nach dem Streit mit ihren Eltern hatte sie sich bei einer Freundin versteckt gehalten und war eine Woche nach ihrem Verschwinden wieder aufgetaucht. Ihre Jacke hatte sie im Wald liegen lassen, da sie sich beim Rennen an einem spitzen Ast die Wange aufgeschnitten hatte und daraufhin Blut über die ganze Jacke gelaufen war. Benedikt hatte ihn also angelogen. Er und sein vermeintlicher Entführer blieben verschwunden, und Tobias ging nie wieder in den Wald.