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In einem Augenblick menschlicher Schwäche

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22.07.2003
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In einem Augenblick menschlicher Schwäche

Als kleiner Junge von fünfzehn Jahren war ich trotz meines Alters schon relativ lebenserfahren und im Gegensatz zu vielen anderen meiner Altersgenossen schon außergewöhnlich weit fortgeschritten in meiner Entwicklung.
Äußerlich war ich zwar noch ein Kind mit niedlichem Bubengesicht, doch seelisch, wie auch psychisch, fast schon ein junger Mann. Mein Vater war bereits gestorben, als ich noch in der Wiege lag und so erbte ich die Verantwortung, für die Familie zu sorgen. So hatte ich neben meinen schulischen Verpflichtungen noch eine Arbeitsstelle bei einer Fabrik am südlichen Ende der Stadt.
Doch selbst nach Feierabend konnte ich mich nicht, erschöpft vom anstrengenden Tag, ins Bett fallen lassen, sondern half meiner Mutter im Haushalt, sodass ich nicht selten weit nach Mitternacht erst Ruhe und Schlaf fand.
Wenn ich dann doch ein paar Stunden Freizeit ergattert hatte – entweder, weil ich meine Arbeit gut verrichtete, oder ich früher von der Schule kam – so streifte ich durch die Gassen der Stadt und ging auf Erkundungstour.
Ich stöberte durch Krämerladen, stellte mich vor die Schaufenster nobler Geschäfte und beobachtete neugierig die Leute darin, wie sie Kleidung anprobierten oder im Café tratschend ihre Kuchen und Torten aßen, und zog dann neugierig weiter.
Den meisten Menschen jedoch, denen ich auf meinen Ausflügen begegnete, schenkte ich meist recht wenig Beachtung. Ich kannte fast keinen von ihnen. Weshalb sollten mich Fremde auch interessieren? So viele Menschen durchstreiften die Straßen, tummelten sich auf Plätzen und mittendrin wanderte ich umher.
Immer, nachdem ich mich am lebhaften Getümmel der Stadt satt gesehen hatte, bog ich in eine kleine Gasse ab, von der aus man in eine Nebenstraße kam, die parallel zur Marktstraße läuft. Nur wenige Menschen verirren sich hierher, da die Läden minder edel und die Ballustraden weniger verziert sind.
Das goldene Schild, das im Glanz der tief stehend Sonne hell wie ein Stern funkelte, stand wie immer am rechten Fleck als schien es mir den Weg leuchten zu wollen. So oft ich schon hier gewesen war, merkte ich, dass der Glanz und die Reflexion der Sonne beständig an Intensität abgenommen hatten. Staub und Schmutz hatten sich darauf niedergelassen und dämpften den Schein, der mir mit der Zeit so ans Herz gewachsen war.
Ich spitzte vorsichtig durch die Scheiben, um sicher zu gehen, dass kein anderer Mensch zugegen war, denn umsehen wollte ich mich nur alleine.
Ich betrat den Buchladen und begrüßte Herrn Schmidt, den Besitzer, der mich nach unzähligen Besuchen schon gut kannte. Er war so ziemlich der Einzige, zu dem ich eine Art Freundschaft oder engere Bekanntschaft pflegte. Ich mochte seine freundliche, offene und bescheidene Art und vor allem die Zuneigung, die er mir entgegen brachte. Als ich eintrat, schenkte er mir ein Lächeln und ging sogleich wieder seiner Arbeit nach.
Das Geschäft war menschenleer und so begann ich, mich umzusehen. Ich liebte alles hier. Die Luft, die nach alter Druckertinte und Papier duftete, die Regale, die wie Relikte aus vergangener Zeit anmuteten, und die Unmengen von Büchern, die überall ungeordnet und wild durcheinander umherlagen und -standen.
Mit großen Augen zogen meine Blicke von einem Buch zum anderen, von einem Regal zum nächsten.
Mit einem Finger strich ich immer auf dem Buchrücken entlang und las jeden Titel. Jeder davon hatte etwas Geheimnisvolles an sich. Wenn mich ein Buch interessierte, zog ich es heraus und blätterte darin herum. Kaufen konnte ich mir jedoch selten ein Buch, höchstens einmall im Monat hatte ich so viel Geld beisammen, um mir eines leisten zu können.
Da sich meine Überstunden in letzter Zeit angehäuft hatten, gewährte mir mein Chef einen kleinen Bonus, der für ein neues Buch reichte. Deshalb beäugte ich heute jeden Titel doppelt und dreifach, da sich die Investition ja schließlich auch lohnen sollte. Denn wenn ich einmal eine gute Lektüre ergatterte, so flossen die Seitenzahlen nur so dahin und viel zu schnell fand ich mich am Ende des Romans wieder.
Ich konzentrierte meine Wissbegierde dabei allerdings nicht nur auf epische oder dramatische Texte, sondern war auch dem naturwissenschaftlichen Gebiet nicht abgeneigt.
An diesem Tag wollte ich jedoch etwas ganz Besonderes. Hunderte Buchtitel zogen wie Wolken an mir vorbei, manche dunkel, schwarz und bedrohlich, andere weiß und fromm wie Schäfchen.
Nachdem ich nun schon fast die gesamte vordere Seite des Ladens durchstreift hatte, ging ich in den hinteren Teil, den ich nur ein, zwei Mal gesehen hatte, da hier besonders skurrile und seltsame Bücher standen, deren Preise auch dementsprechend höher waren und die ich in dem Wissen, nie eines davon lesen zu können, gleich gar nicht näher betrachtet hatte.
Hier, dachte ich aber, könnte ich vielleicht etwas Besonderes finden. Wie Recht ich hatte.
Ganz versunken in meinen Gedanken, schwelgend in Vorfreuden, welches Buch ich denn finden würde, riss es mich plötzlich aus meinen Träumen.
Ein älterer Mann mit grauem, fast schneeweißem Haar, saß über den kleinen Tisch in der Mitte des Raums gebeugt und studierte einen dunkel eingebundenen Folianten. Völlig überrascht erschrak ich heftig und stolperte einige Schritte zurück. Noch bevor ich vollends den Raum verlassen und mich unentdeckt zurückziehen konnte, drehte er sich um und blickte mir mit tief blauen Augen direkt ins Gesicht.
Schamesröte breitete sich auf meinem Gesicht aus und am liebsten wäre ich so schnell ich konnte weggerannt. Ich war äußerst kontaktscheu und den Umgang mit anderen, vor allem fremden Menschen nicht gewohnt. Um dieser peinlichen Situation zu entfliehen, suchte ich nach ein paar klärenden Worten, doch mehr als unverständliches Gestammel und Gestottere wollte nicht über meine Lippen kommen. Er schaute mich scheinbar höchst amüsiert an und lächelte. Ich konnte nicht anders, lächelte ebenfalls etwas verschmitzt und folgte seiner freundlichen Aufforderung, mich zu setzen. Er fragte mich was ich hier mache, wo ich zur Schule ginge und dergleichen. Er war ein sehr angenehmer Gesprächspartner, wusste die richtigen Fragen zu stellen und anhand seiner Reaktionen konnte ich erkennen, dass er das Gespräch nicht nur aus reiner Freundlichkeit begonnen hatte, sondern aus aufrichtigem Interesse.
Er war einmal Lehrer an der Schule gewesen, die ich besuchte, und so unterhielten wir uns lebhaft über verschiedene seiner ehemaligen Kollegen, die ich ebenfalls kannte und mit jedem Wort, das er sprach, schwand meine natürliche Schüchternheit und wuchs meine Zuneigung zu diesem Menschen. Auch literarisch war er sehr bewandert und als ich ihm erzählte, dass ich auf der Suche nach einem lohnenden Buch wäre, ergriff die Leidenschaft sichtbar von ihm Besitz, ein Glänzen schlich sich in seine Augen und er war nicht mehr zu bremsen. Mit herrlichem Eifer zeigte er mir Lektüren, sprach von ihnen wie von alten Freunden, schwärmte von ihnen, schimpfte über sie und strich sanft über ihre Titel.
Ich war damals schwer beeindruckt von diesem Mann. Über sein Wissen, seine Art und vor allem seine Ehrlichkeit, die mich aus seinen Augen anleuchtete.
Schließlich berichtete er mir von einem Buch, das wirklich sehr lesenswert war, zog es mit einem Handgriff aus dem Regal und drückte es mir in die Hand. So war mein heutiger Schatz gefunden. Nachdem ich es bei Herrn Schmidt bezahlt hatte, gab Herr Biedermeier – so hieß er – mir seine Adresse und forderte mich auf, ihn jederzeit zu besuchen, er sei ja sowieso Rentner und freue sich über jeden Gesprächspartner. Ich dankte und machte mich mit stolzer Brust auf den Heimweg. So guter Laune und völlig losgelöst wanderte ich durch die in Dämmerungslicht getauchte Stadt, mit meinem Buch in den Händen, und war schon bald zu Hause.

Er hatte wahrhaft nicht untertrieben. Das Buch war schlichtweg grandios, ein Meisterwerk. Ich verschlang es binnen drei Tagen und las es danach gleich noch einmal.
Während dieser Zeit irrte ich gedankenversunken durch die Schauplätzen des Buches, folgte den Handlungssträngen der Geschichte auch in der Schule und konnte mich aber nie ganz auf meine eigentlichen Aufgaben konzentrieren. Ich wusste nicht, wo mir der Kopf stand. An den Mann, der mir dies Buch empfohlen hatte, dachte ich erst später.
Selbst eine Woche danach, als sich wieder einigermaßen die Routine eingestellt hatte, und ich begann, wieder normal zu denken und das Buch halbwegs vergaß, schien ich verändert.
Irgendwie betrachtete ich alles aus einer anderen Perspektive, sah Dinge, die mir vorher verborgen gewesen waren und andere wiederum nicht mehr, obwohl sie mir längst offensichtlich bekannt schienen. Auch dachte ich anders als an jenem Tag, als ich auf dem Weg zum Buchladen war.
Dieses Buch öffnete meine Augen, setzte mir die Brille ab, um objektiv zu sehen und nicht anderen einen Stempel aufzudrücken, sie zu kategorisieren und damit abzuwerten. Heute weiß ich, dass es nicht das Buch war.
Ich weiß nicht, wieso dies damals so geschah und kann es mir bis heute nicht erklären, aber meine Verachtung für die Menschen verschwand. Erachtete ich bis vor kurzem alles als eins, so erschien mir nun jedes einzelne individuell.
Und so vergingen einige Monate in denen ich zwar nach wie vor meine Arbeit erledigte und auch die Schule fortsetzte, doch der Schritt, den ich vollzogen hatte, war größer als dies, er war in meinem Inneren gemacht worden.
Der seltsame, aber faszinierende Initiator dieser Entwicklung war dagegen fast vollständig aus meinem Denken verschwunden. Hin und wieder tauchte er zwar auf, doch irgendetwas veranlasste mich dazu, ihm keine weitere Beachtung zu schenken, weshalb auch immer. Ich gab mich diesen Gefühlen nicht hin, verdrängte sie ungezwungen und fühlte mich danach wohler.
Heute bin ich mir sicher, dass dieses Buch nur einen ganz kleinen Teil dazu beigetragen hat, meinen Geist zu öffnen. Vielmehr gab mir das Verhalten des Mannes, der so ungewöhnlich war, mir den Impuls, nicht in Schablonen und Kategorien zu denken, sondern nach dem Ungewöhnlichen zu suchen. Diese Öffnung war nicht wirklich eine tolerante Ansicht und Respektierung anderer, sondern vielmehr eine Suche nach dem Ungewöhnlichen, dem Seltsamen, das ich in diesem Mann gesehen hatte. Doch in diesem Seltsamen, das mich faszinierte, sah ich nicht etwa etwas abstoßendes, nein, ich erkannte darin nur eine andere Art die Dinge und die Welt zu sehen. Eine schönere Art die Welt zu sehen und mit ihr zu umzugehen.
Ich war mir dieser Tatsache jedoch nicht bewusst und hielt zwar unterschwellig nach diesem Menschen Ausschau und imitierte ihn so gut wie ich konnte, doch nicht mit Absicht. Alles an ihm schien so erstrebenswert, edel, tugendhaft und das Wichtigste, vor allem ehrlich.
Diese Ehrlichkeit, die mir durch seine ungehaltene Offenheit direkt ins Gesicht gesprungen war, war der Grund, weshalb ich nicht eiligst aus dem Laden verschwand. Seine Art hatte mich in den Bann gezogen, meine tiefsten Denkprinzipien erschüttert, auf den Kopf gestellt und das mit einer einzigen Begegnung.
Nach einigen Wochen begann ich wieder in meiner Freizeit außer Haus zu gehen und wie gewohnt durch die Stadt zu ziehen. Ich spazierte die Straßen entlang, jedoch hatte sich erneut etwas in mir verändert.
Gedankenverloren schlenderte ich durch Gassen, deren Namen ich nicht kannte, ging an Passanten vorbei, die mir völlig unbekannt war und blickte in Schaufenster mit vollkommen belanglosem Inhalt.
Die Welt hatte ihre Faszination verloren. Mit dem Aufstieg in mir ging der Ruhm der Fassade und der Glanz und Trubel um mich herum unter.
Ein starke Melancholie ergriff mich, weshalb auch immer, und drückte mein Herz zusammen. Tiefe Traurigkeit und Leere erfüllten meinen ganzen Körper, und das Schlimmste war, dass ich nicht einmal wusste, weshalb.
Ich wanderte immer öfter durch die verschlungenen Straßen und begab mich des Öfteren auch an weitere, entferntere und abgelegenere Orte. Ich besuchte den Friedhof, ging in Kirchen und ab und zu verließ ich auch die Stadt und ließ mich im Wald umher treiben.
Meine Abstecher hinter die Stadtgrenzen häuften sich schnell und dauerten mit zunehmenden Besuchen immer länger. Ich begann an dem Leben im Wald bald mehr Gefallen zu finden als an dem in der Stadt. Die Ruhe, die nur von dem wenigen Vogelgezwitscher unterbrochen wurde, deren Gesang aber angenehm klang, die Luft, die frisch und klar und sauber roch und das friedliche Geschehen, das so unterschiedlich zu der Stadt wunderbar entlastend wirkte. Alles schien hier zu harmonieren, keiner den anderen zu stören und zu einer fantastischen Symbiose zu verschmelzen, in dessen Mitte ich stand und an dem kostbaren Schauspiel teilnahm.
Nicht nur ich hatte schwer unter meinen Sinneswandeln zu leiden, auch meine Mutter musste in dieser Zeit viel mit mir mit machen. Oft blieb ich nächtelang weg, kam erst in den frühen Morgenstunden heim, redete kaum noch ein Wort mit ihr und auch in der Schule und in der Arbeit war ich nicht mehr derselbe.
Für meinen plötzlichen Sinneswandel eine Ursache zu nennen, wäre mir selbst heute unmöglich. Ich kann nur sagen, dass ich mich ständig in Wandlung befand und permanent meine Meinung oder sogar meine Weltansicht änderte. Doch diese Wechsel vollzog ich nicht freiwillig, es geschah einfach, ohne dass ich hätte eingreifen können.
Ich dachte in dieser Zeit viel nach. Andauernd schweiften meine Gedanken zu Themen und Dinge, die mir fremd und abstoßend erschienen, sodass ich sie besser nicht noch einmal heraufbeschwören möchte.
Höchstwahrscheinlich wäre ich aus den Fugen geraten und ins Leere gestürzt, wäre da nicht ein erneutes einschneidendes Erlebnis gewesen, dass mich wieder massivst meiner Denkhaltung beraubte.
Eines Abends, als die Sonne bereits tief über den Dächern der Stadt stand und diese in glutrotes Licht tauchte, war ich gerade dabei, meinen Heimweg anzutreten, nachdem ich eine Stunde auf einem kleinen, verlassenen Brunnen geruht hatte. Ich war im Begriff, aufzustehen und blinzelte gegen die Sonnenstrahlen, als hinter mir eine Stimme ertönte. Ich blickte in die Richtung, aus der ich die Quelle der Stimme vermutete, konnte aber nichts erkennen, da die Person, die die Worte gesprochen hatte, direkt vor der untergehenden Sonne stand, sodass ich lediglich eine Silhouette erkannte.
Ein Gefühl der Panik ergriff mich, da die Gegend, in der ich mich aufhielt, nicht gerade die beste war. Aber kurz, bevor ich Hals über Kopf flüchtete, trat die Gestalt nach vorne. Es war niemand anders als Herr Biedermeier.
Ich war sprachlos und blickte entsetzt in sein Gesicht, das so freundlich aussah.
Er grüßte mich und setzte sich auf den Brunnenrand, ein kleines Stück von mir entfernt.
Er fragte mich, was ich so spät abends hier noch mache und wie es so in der Schule laufe. Er wusste genau, welche Fragen er stellen musste, und wie. Ein paar Worte von ihm genügten und meine Zurückhaltung war verschwunden. Ich taute langsam auf. Wir unterhielten uns erneut sehr angeregt und ehe wir uns versahen war es dunkel geworden. Er schlug mir vor, mich heim zu bringen und ich willigte ein.
Als wir bei mir ankamen, drehte er sich zu mir und schaute mir tief in die Augen. Mit ruhiger Stimme und einem ernsten Gesichtsausdruck sagte er zu mir, er habe in den letzten Wochen jeden Tag auf mich gewartet. Seine Einladung, ihn zu besuchen, gelte immer noch, und er fragte, ob ich nicht Lust hätte, ihn vielleicht doch einmal zu besuchen.
Verlegen nickte ich mit dem Kopf und starrte beschämt zu Boden. Er verabschiedete sich und ging, ich dagegen blieb noch einige Minuten auf den Treppen vor dem Haus sitzen und beobachtete den Himmel.
Dieses Mal nahm ich sein Angebot an, und so klingelte ich drei Tage später bei der angebenen Adresse.
Er hatte ein wirklich prächtiges Haus mit einem riesigen, sehr gepflegten Garten. Eine etwas ältere, freundlich dreinblickende Frau öffnete mir die Tür und lächelte, als sie mich sah. Sie wusste offenbar sofort, wer ich war, denn sie nahm mich an der Hand und führte mich sogleich in ein Art Arbeitszimmer, in dem Herr Biedermeier saß. Als er mich sah, lachte er mich recht freundlich an, und auch ich musste lächeln, so herzlich war seine Art. Ohne zu übertreiben kann ich sagen, dass dies der Beginn einer ungewöhnlichen, aber auch sehr innigen Freundschaft war. Ich besuchte ihn nahezu täglich und verbrachte fast meine gesamte Freizeit bei ihm. Er war ein gebildeter Mensch von größter Besonnenheit, gutem Herzen und von besonderer Großzügigkeit, die mir zu oft zuteil wurde.
Nun nahm alles seinen Lauf, fast wie von selbst. Rasch besserten sich meine Schulnoten und auch die Melancholie und Niedergeschlagenheit, die mich vorher oft befallen hatte, verschwand.
Mein Kopf wurde klarer und ich sah die Dinge wieder im rechten Licht. Dieser Mensch war einfach unglaublich. So einfach er auch war, so komplex war die Wirkung, die er in mir hervorrief..


Es war an einem Sonntag, als ich gerade von der Kirche kam und meine Mutter mir ein paar Stunden Freizeit gewährte. Ich wollte mir ein wenig Ruhe gönnen und spazierte in aller Gelassenheit durch die Stadt, ohne ein besonderes Ziel vor Augen zu haben. Fröhlich pfiff ich vor mich her, als ich in eine Gasse einbog und plötzlich vor Schreck stehenblieb. Ich musste in meiner Gedankenlosigkeit ein paar Mal unbewusst abgebogen sein, denn diese Häuserreihen und Winkel der Stadt waren mir völlig unbekannt. Frauen standen spärlich bekleidet vor den Haustüren und sahen sich mit schminkeverziertem Gesicht um. Eine klamme Angst und Scheu wollten mich dazu bewegen, umzukehren, doch die Neugierde, die sich in mir wie ein Felsblock verankert hatte, ließ mich unwillkürlich weitergehen.
Die Mädchen schenkten mir herablassende und teilweise enttäuschte Blicke, was mir ganz recht war, solange sie nichts sagten. Einige musterten mich recht auffällig, wendeten den Blick jedoch recht schnell ab, um sich weiter umzusehen.
Ein Fenster oberhalb von mir, im ersten Stock eines heruntergekommenen Hauses, dessen Putz bereits zum größten Teil abgebröckelt war, stand offen und ich hörte daraus einige Geräusche. Ein Keuchen konnte ich ganz deutlich aus dem Gewirr von Stimmen und Rauschen vernehmen, und ein Stöhnen war ebenfalls zu hören. Da dämmerte es mir endlich. Ich war in ein Bordellviertel geraten.
Noch bevor mir dieser Gedanke vollends bewusst wurde, stieg mir bereits die Schamesröte zu Kopf und ich konnte mich des Dranges, einfach wegzulaufen, nicht mehr erwehren. Ich rannte die Straße, so schnell ich konnte, entlang und sah mich kurz vor einem einbiegenden Gässchen noch einmal um.
Mein Herz raste wie ein Sprinter und das Adrenalin pumpte in meinen Adern. Doch noch schlimmer als die Tatsache, dass ich mich in ein solches Viertel verirrt hatte, war der Anblick, den ich bei dem Blick über die Schulter erhaschte.
Alle Frauen starrten mir hinterher und aus einer Tür, die nun geöffnet wurde, traten ein Mann und eine Frau. Ich begriff nicht sofort, aber es war unzweifelhaft Herr Biedermeier und eine junge Frau, ebenso gekleidet wie die anderen Prostituierten und gewiss auch eine von denen. Rasch bog ich in die Gasse und rannte keuchend und mit stechender Lunge nach Hause. Ich blieb erst stehen, als ich die Tür zu meinem Zimmer geschlossen hatte. Tränen liefen über meine Wangen wie Bäche und ich konnte mich nicht mehr halten. Schluchzend warf ich mich aufs Bett und weinte die ganze Nacht hindurch.
Ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich Herr Biedermeiers Haus wie den Teufel mied und ihn nie wieder besuchte.
Das nächste Mal, an dem sich unsere Wege kreuzten, sollte erst zehn Jahre später sein. Ich war gerade in den Semesterferien und auf dem Weg nach Hause, als ich ihn traf.
Der Zug, mit dem ich reiste, hatte sich um drei Stunden verspätet und so gelangte ich erst tief in der Nacht zurück in meine Heimatstadt. Die Häuser lagen dunkel und wie verlassen da, kein Mensch war zu so später Stunde noch wach, geschweige denn unterwegs, und ein leichter, feiner Nebel hüllte die Straßen in unheimliche Ruhelosigkeit. Etwas melancholisch schritt ich durch die Gassen in die gewohnte Richtung des Hauses, welches einst mein Zuhause war. Der Mond zog in fast voller Größe über den Nachthimmel und war mir sehr willkommen, da er die Dunkelheit ein wenig vertrieb.
Eine unangenehme Stille herrschte allgegenwärtig vor und meine Schritte, die schwach auf dem Pflasterstein hallten, waren, zusammen mit meinem Atem, der kleine Nebelschwaden erzeugte, die einzigen Geräusche. Ich bog nach links auf den Marktplatz ein- mein Ziel lag nicht mehr weit entfernt – da saß jemand in aller Stille auf einer Bank inmitten der Dunkelheit.
Ohne innezuhalten ging ich weiter und schenkte dem Nachtschwärmer keine weitere Aufmerksamkeit.
Als ich jedoch an ihm vorbeischritt, sprach er in kräftigen, behutsamen Worten.
„Setz dich doch, mein Freund.“
Ich erkannte sofort, wessen Stimme da zu mir gesprochen hatte, und erschrak heftigst. Diese sanfte, zugleich aber gewaltige Stimme, war unverwechselbar und ich wusste sofort, wem sie gehörte.
Doch seit ich Herrn Biedermeier das letzte Mal gesehen hatte, war einige Zeit ins Land gezogen und aus dem einstmaligen kleinen Buben war ein junger Mann geworden.
„Warum bist du noch zu so später Stunde unterwegs?“ fragte er mich recht unverstohlen.
„Ich gehe heim.“
„Wo kommst du her?“
„Ich studiere an der Universität in Prag, Geschichte und Soziologie.“
„Ich habe auch dort studiert, vor langer, langer Zeit einmal, weiß du? Aber mittlerweile bin ich schon sehr alt. Mein Körper macht mir jede Bewegung schwer. War gar nicht leicht hierher zu kommen.“
Ich war mir sicher, er hatte mich nicht erkannt. Welch ein Glück! Mir blieben also die peinlichen Fragen erspart.
„Aber was machen Sie noch zu so später Stunde hier?“ fragte ich.
„Naja, du wirst es vielleicht nicht glauben, aber ich bin heute Nachmittag spazieren gegangen und auf dieser Bank hier eingeschlafen. Bin erst vorhin aufgewacht. Dann hab ich nach oben gesehen und den Himmel beobachtet. Wie schön die Sterne doch sind, nicht wahr? Und dann bist du gekommen. Aber willst du nicht heim?“
Ich ignorierte seine Frage und wandte meinen Blick nach oben. Wahrhaftig erstrahlten die Sterne heute in einer Pracht, wie ich sie selten gesehen hatte.
„Geh besser heim, mein Freund, es ist schon spät.“
Zum ersten Mal schaute ich ihn direkt an. Wir blickten einander tief in die Augen, fast eine Minute lang. Dann senkte ich den Blick und machte Anstalten, aufzustehen, als er weitersprach:
„Warum bist du nicht mehr gekommen?“
Ich hielt mitten im Schritt inne. Damit hatte ich nicht gerechnet. Eine Welle von Schock und Entsetzen fuhr durch meinen Körper und schien nicht nur meine ganze Motorik lahm gelegt, sondern auch einen Pflock in meine Gedankengänge gejagt zu haben. Unvermittelt brach das Adrenalin wie eine Flutwelle durch meine Adern und katapultierte meinen Puls in fast schmerzhafte Bereiche.
Ich rief mir sämtliche Nächte ins Gedächtnis, in denen ich wach gelegen war und mir diese Situation in unzähligen Kombinationen ausmalte, wohl mich in dem Wissen wiegend, mich ihr nie stellen zu müssen. Zusammenhangslose Gedankenfetzen wirbelten wie Laub durch meinen Verstand von einem unablässigen, orkanartigen Sturm angetrieben.
Da kam mir auf einmal die Erinnerung an unser erstes Treffen in den Sinn. Es war ähnlich verlaufen, jene Gefühle der Scham und Scheu waren auch damals in mir aufgestiegen und ich hatte mich von meinen Emotionen leiten lassen, war auf ihnen hinabgeglitten und dann, an diesem Tag... Es war alles anders. Ich ließ mich nicht mehr dominieren und ausschließlich von Angst und Furcht bestimmen.
Und so geschah es auch jetzt. Mit plötzlicher innerlicher Ruhe und Klarheit, drehte ich mich um, ehe mir bewusst wurde, was ich tat, und setzte mich neben den alten Mann.
Mit geradezu erschreckender Genauigkeit und Gelassenheit erzählte ich ihm das Erlebnis, welches damals so folgenschwer unser beider Leben verändert hatte.
Seine Mimik verharrte in konzentrierter Pose; er blickte mich nicht an, sondern starrte stur in die Ferne. Er blinzelte nur selten und erwiderte nichts, nein, zeigte nicht mal durch ein Nicken an, dass er mir folgte.
Als ich nach Beendigung meiner Geschichte schwieg und erwartungsvoll in seine Richtung blickte, wandte er nach einiger seinen Kopf langsam mir zu.
„Ich verstehe.“
Mit diesen Worten stand er auf und verschwand mit langsamen Schritten in der Finsternis.
Diesen Verlauf hatte keine meiner unzähligen Vorstellungen vorhergesehen und ich weiß nicht, wie lange ich regungslos dagesessen und auf den Fleck gestarrt hatte, an dem seine Silhouette verschwunden war.
Schließlich überwand ich mich doch und machte mich im ersten Licht der aufgehenden Sonne auf den Heimweg.

Die nächsten Tage hindurch plagten mich marternde Gewissensbisse, die mich schier zur Verzweiflung trieben und gegen die kein Kraut gewachsen war. Ich versuchte, mir einzureden, keine Schuld daran zu tragen und das Richtige getan zu haben, doch nichtsdestotrotz prallten diese kläglichen Plädoyers an einer inneren Mauer bei jedem noch so schlagfertig wirkendenden Argument ab.
Meine Heimkehr stand unter allem anderen als einem günstigen Stern und so gestaltete sich das Zusammenleben mit meiner Mutter und meinen Verwandten auch dementsprechend oberflächlich. Ich verbrachte meine Zeit fast ausschließlich allein und ließ niemanden an mich heran.
Ständig befielen mich schwere Depressionen und permanent schweiften meine Gedanken ab. Als ich einen Punkt erreicht hatte, den ich als unerträglich empfand, blieb mir keine andere Wahl, als ein klärendes Gespräch zu suchen.
Schweren Herzens, aber auch voller Sehnsucht nach freiem Gemüt klingelte ich an seiner alten Adresse. Ich ging davon aus, ihn hier anzutreffen, schließlich war es ein wunderschönes Haus und ein Mann in seinem Alter sollte wohl kaum noch umziehen. Doch ich wurde enttäuscht, ein fremdes Gesicht erschien in der Tür. Überrascht entschuldigte ich mich etwas unhöflich und ging.
Als ich jedoch bereits die Gartentür passiert hatte, warf ich einen Blick hinter meine Schulter und sah ihn. Er stand im ersten Stock hinter einem leicht staubbedeckten Fenster, welches seine Umrisse leicht vernebelte und dennoch genügend Details preisgab, um mir zu verraten, dass er es war.
Ich blickte völlig entgeistert auf das Fenster, als er weiter hinter in das Zimmer trat und verschwand, als die Person, die mich an der Tür empfangen hatte, auf mich zuging.
Ohne Worte drückte sie mir einen Zettel in die Hand, lächelte ein wenig mitfühlend – so kam es mir vor – und kehrte ins Haus zurück.
Die Worte, die mit Kugelschreiber darauf gekritzelt waren, lauteten: „Brunnen 19 Uhr“.
Es kostete mich zwar einige Überwindung, doch ich erschien pünktlich zu der auf dem Zettel angegebenen Uhrzeit.
Ich gab mir Mühe, nichts von meiner Nervosität nach außen dringen zu lassen und unterdrückte den Drang, mich ständig umzusehen. Stattdessen saß ich weit nach vorne gebeugt auf der Bank und fixierte den Boden.
Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, aber nach ungefähr einer halben Stunde gesellte sich ein Mensch zu mir, was ich nur durch das leise Ächzen der Bank bemerkte. Ich warf einen Blick nach rechts, und da saß er.
Die Jahre standen ihm ins Gesicht geschrieben, aber die schier unerschütterliche Fröhlichkeit, die ich so an ihm liebte, war noch schwach zu erkennen.
„Hätte ich geahnt, welche Gründe dich bewogen haben, von mir fern zu bleiben, wäre ich zu dir gekommen.“
Er sprach ernst und sichtlich angestrengt.
„Ich dachte sonstwas. Du hast dich solange nicht mehr bei mir gerührt und das nur wegen diesem Missverständnis.“
„Ich halte das nicht für ein Missverständnis. Was ich gesehen habe, war ziemlich eindeutig.“ erwiderte ich.
„Sie ist meine Tochter.“ Er brach ab, senkte und Kopf und schwieg eine Weile. Dann fuhr er fort. „Wir hatten uns gestritten, da ist sie gegangen. Ich habe lange nichts mehr von ihr gehört. Dann habe ich erfahren, dass sie ins Rotlichtmilieu abgedriftet ist und als ich sie gefunden hab, da.....“. Er stotterte und schien nicht weiter reden zu können. Ich wollte es jedoch genau wissen.
„Was?“
„Sie war eine Prostituierte und hat da gearbeitet, wo du mich gesehen hast. Ich hab nächtelang mit ihr geredet, ihr tausende Mark gegeben, wollte nur noch, dass sie von da verschwindet. Und zwei Wochen, nachdem du dich nicht mehr gemeldet hast,.... da hat sie sich die Pulsadern aufgeschnitten.“
Ich konnte nichts sagen, war wie paralysiert.
Eine Leere und Sprachlosigkeit machte sich in mir breit und mein Blick lugte ziellos ins Nichts. Die Minuten vergingen, ehe ich fähig war mich zu bewegen.
Als ich meinen Blick aufrichtete, drehte ich meinen Kopf zu Herrn Biedermeier – er lächelte.

 

Hi Entropie,
eine bewegende und traurige Geschichte. Auf welche würde das Sprichwort
"Man sollte ein Buch nicht nach dem Umschlag, sondern nach dessen Inhalt beurteilen."
besser passen?
Es ist Dir sehr gut gelungen, aus einzelnen Fragmenten, die für sich allein schon gut sind, eine wunderschöne Geschichte über die Freundschaft zu schreiben. Deine Geschichte lässt mich über manches nachdenken und hat mich tief berührt.
:thumbsup:
Bis denn
Liebe Grüße, die Kürbiselfe Susie :)

 

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