Iwi
Genauso gut hätte es gestern sein können.
Oder voriges Jahr. Oder nächstes Jahr.
Nichts deutete darauf hin, dass Zeit vergangen wäre.
Stumm blickte er ihr in die Augen. Sah diesen winzigen weißen Fleck. Kaum wahrnehmbar war dieser weiße Fleck in der Iris.
Die letzten Tage hatte er nicht mehr anders können, als allen Menschen in die Augen zu schauen. Meist sahen sie sofort weg, senkten den Blick, drehten sich um. Manche schlossen sogar die Augen. Nie zuvor war ihm das aufgefallen.
Ja, niemand hielt seinem Blick stand, niemand außer Leona. Leona erwiderte seinen Blick, krallte sich praktisch fest, wich keinen Millimeter. Nicht einmal ein kurzer Wimpernschlag war zu sehen. Markus beobachtete, wie Leonas Pupillen wuchsen, Besitz ergriffen von der Iris, wie dieser stahlblaue Ring immer schmäler wurde.
Er wusste nicht, wie lange sie einander schon in die Augen starrten. War überhaupt Zeit vergangen?
Markus spürte, wie langsam Wärme in seinen Körper strömte. Ganz zarte Vibrationen. Der kleine weiße Fleck, der anfangs matt erschienen war, hatte zu glänzen begonnen, leuchtete nun, und Markus spürte, wie die Strahlen immer kräftiger in seinen Körper eindrangen.
„Ich hab’s geschafft“, murmelte Leona, „ich sehe den Fleck. Endlich, auch du hast jetzt einen“.
Markus spürte ein Fieberwallen, ein Zittern ging durch seinen Körper. Nun gehörte auch er zu den Erleuchteten. Noch war der Iwi winzig klein. Aber er wusste, er hatte nun einen. Auch er würde in Zukunft den Blick senken müssen. Abwenden. Oder die Augen schließen.
Leonas Stimme bebte. „Fühlst du es? Spürst du, wie es wächst, wie es Besitz ergreift von dir?“
Markus schloss seine Augen. Auch er. Ja, er schloss seine Augen, konnte plötzlich Leonas Blick nicht mehr standhalten. Er sah den weißen Schimmer durch seine geschlossenen Augenlider. Spürte die Wärme in seinem Körper, erinnerte sich an den langen Sandstrand, an dem er letzten Sommer gelegen war. Genauso fühlte er nun das Strahlen auf seiner Haut, die Energie, die auf ihn übertragen wurde.
„Wie viele?“ fragte er.
„Sieh dich um, du wirst sie erkennen!“ antwortete Leona. „Wir haben von euch Besitz ergriffen. Fast alle gehören schon uns. Seit Jahrtausenden. Bald haben wir es geschafft, dass wir alle vermenschlicht sind, euren Körper tragen. Nur wenige weigern sich noch, können unseren Spielen nichts abgewinnen, bewohnen Tiere oder gar niedrige Organismen. Endlich ist die menschliche Population groß genug, um alle beherbergen zu können.“
„Und bisher?“
„Fast alle haben sich entschlossen, Organismen zu benützen. Witzbolde benutzten Bakterien und Viren. Oder begnügten sich mit einzelnen Zellen. Mittlerweile steuern wir beinahe alle eure Gehirne. Hin und wieder befinden sich zwei von uns in euren Körpern, die sich bekriegen. Oder versuchen, zusätzlich Zellen auf ihre Seite zu bringen, was nicht immer angenehm ist für euch.“
„Was meinst du mit nicht immer angenehm?“
„Krebs. Oder sie überfallen einander mit Viren.“
„Kann mir das auch passieren?“
„Natürlich, manchmal verlieren wir dadurch unsere Materialisierungen und müssen wieder neu auf die Suche gehen.“
„Worin liegt dann darin der Vorteil? Dann braucht es doch länger, bis sich alle materialisieren können.“
„Materialisieren können sich alle, die es wollen, doch erstrebenswert ist für uns nur die menschliche Hülle.“
„Warum bekriegen wir einander dann?
„Man merkt, deine Materialisierung ist noch nicht vollständig abgeschlossen“ kicherte Leona. „Ist doch klar wie das All. Es ist diese Unruhe, diese Langeweile, genau das, was uns hierher getrieben hat. Als wir uns einig waren, uns hier auf der Erde zu materialisieren, wussten die meisten noch nicht, dass dies furchtbare Langeweile bedeuten würde. Hier vergeht für uns keine Zeit. Das was uns erstrebenswert erschienen war, entwickelte sich bald in immer größeres Chaos. Kein Iwi hört mehr auf den anderen. In den letzten Jahrtausenden nach Menschrechnung wurden immer mehr menschliche Hüllen in den gegenseitigen Kampf getrieben.“
„Aber damit schadet ihr euch doch als Gesamtes!“
Leona schüttelte den Kopf. „Es ändert sich doch nichts. Wechseln wir eben in andere Zustände, verlassen die verbrauchten Körper, um uns wo anders wieder zu materialisieren.“
„Die Seele?“
„Das ist auch eines dieser lustigen Spielchen. Seele, ja. Das ist unser unmaterialisierter Zustand. Reine Energie. Aber es macht doch riesigen Spaß, Nicherleuchtete zu necken.“
Markus zuckte mit den Schultern.
© NoWall 07.11.2004