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Jenseits von Raum und Zeit

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19.05.2004
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Jenseits von Raum und Zeit

Schweigend starrte er in seine Tasse und beobachtete, wie die rehbraune Flüssigkeit darin im Takt mit dem leise klirrenden Teelöffel zirkulierte. Der Anblick hatte etwas Hypnotisierendes an sich, eine Wirkung, die ihn den Augenblick für eine kurze Weile vergessen ließ.
Es war kein guter Tag gewesen, genauso wenig wie die Tage davor. Er konnte nicht sagen, was genau ihn bedrückte, doch seine Tage waren grau geworden und verloren immer mehr an Farbe, als senkte eine düstere Wolke sich auf ihn herab, um alles Licht in undurchdringlichem Nebel zu verschlingen. Er konnte sich erinnern, dass es nicht immer so gewesen war, dass eine Zeit voller Glück und Lebensfreude existiert hatte, doch den Weg hinaus aus der trüben Gleichförmigkeit und zurück in jene Vergangenheit wusste er nicht mehr zu finden.

Verstohlen blickte er sich in dem kleinen Café um, vorsichtig, beinahe scheu, als fürchte er, dem Blick eines anderen Menschen zu begegnen. An einem Tag wie diesem war das Café gut frequentiert, die runden Tische nahezu vollzählig besetzt, sodass er an seinem zurückgezogenen Platz in der Ecke des Raumes kaum weiter auffiel. Die Geräuschkulisse war angenehm, verströmte eine Art Wärme und Menschlichkeit, wenngleich die leise vor sich hin plätschernden Chansons und die freudig erregten Gespräche der anderen Gäste in seinem Kopf hohl klangen und ohne jene Bedeutung, die sie womöglich einst für ihn gehabt hätten. Sie schienen allesamt glücklich zu sein, an dieser Oase des Lichts, sprachen aufgeregt miteinander und ein jeder schien dem anderen zuzuhören, mit einem stillen Lächeln auf dem Gesicht, das verriet, dass dieses Zuhören nicht aus bloßer Höflichkeit geschah. Es war so viel fremdes Glück, dass er glaubte, es nicht mehr ertragen zu können.

Entschlossen legte er den immer noch monoton in seiner Hand kreisenden Löffel beiseite, ergriff die Tasse und trank aus. Der Kaffee schmeckte bitter, doch das überraschte ihn nicht mehr, es erschien ihm vielmehr nur allzu passend. Langsam erhob er sich, bedächtig, als laste ein Gewicht auf ihm, das ihn um Jahre altern ließ, legte einen Geldschein unter das leere Wasserglas auf dem Tisch und verließ das Lokal.
Draußen regnete es immer noch in Strömen, und es war schwer zu bestimmen, ob die Bezeichnung Regen noch zutraf, oder man bereits von einer Sintflut sprechen konnte. Er musterte die Umgebung prüfend unter dem Vordach des Cafés hervor. Es war eine kleine Stadt, an einem sonnigen Tag vielleicht ein regelrechtes Idyll, doch ohne größere Verwunderung stellte er jetzt fest, dass alles hier grau war, grau wie in einem alten Monochromfilm. Er hüllte sich enger in seinen Mantel, schlug den Kragen hoch, zog den Hut tiefer ins Gesicht und trat hinaus. Trotz des Regens, oder gerade deswegen, war die Straße überfüllt von Menschen, zumindest von zweibeinigen Kreaturen, die so aussahen, wie er Menschen in Erinnerung hatte, doch anders, als in dem Café, dessen goldenes Licht den Regen nicht einmal bis auf die Straße hinaus zu durchdringen vermochte, war von Glück und zufriedenen Mienen hier nicht das Geringste zu erblicken. Verschlossene Gesichter ohne jeden Ausdruck waren alles, was er erkennen konnte, als er sich gegen den Strom durch die Menge arbeitete, gerempelt und gestoßen von Leuten, die seine Anwesenheit überhaupt nicht zu bemerken schienen. Es war, als existierte er gar nicht. Nicht für die Leute auf der Straße, noch für irgend jemanden sonst auf der grau gewordenen Welt. Als er den gegenüberliegenden Gehsteig erreicht hatte, hielt er kurz inne und blickte zurück auf die verwaschene Häuserfront. Die Sicht verschwamm vor seinen Augen und er war sich nicht sicher, ob es bloß der Regen war, der seinen Blick trübte. Einen Moment lang überlegte er, ob er hinab ans Meer gehen sollte, doch dann wurde ihm die Sinnlosigkeit des Ganzen bewusst und er schlug einen anderen Weg ein.

Vor dem Gebäude, grau wie alles andere, waren kaum noch Menschen auf der Straße. Er blickte die Fassade hinauf, doch nirgends brannte Licht, um ihn zu begrüßen. Seufzend fischte er in den Taschen seines Mantels nach einem Schlüssel und sperrte auf.
In seiner Wohnung angelangt tastete er nach dem Lichtschalter und ein Hauch von Wärme durchströmte den Raum. Drinnen war es behaglich und wohnlich, doch ihm erschienen selbst die so vertrauten Wände seltsam farblos, als warteten auch sie nur darauf, dass er das Licht wieder verlöschte, um im alles beherrschenden Grau zu versinken. Achtlos warf er Hut und Mantel über einen Stuhl und schlurfte in die Küche, langte nach einem Glas und hielt es unter kaltes Wasser. Einen Moment stand er unschlüssig und ließ sein derzeitiges Leben an sich vorüberziehen, die fehlende Farbe, die Unfähigkeit, Glück zu empfinden, die ständig lauernde Angst, die erdrückende und paradoxe Einsamkeit inmitten einer Stadt, die alles besaß, was er sich einst erträumt hatte. Fast alles.

In plötzlich aufwallender Verzweiflung und Wut auf sich selbst und die Welt schleuderte er das halbvolle Glas von sich. Ein helles Klirren tönte durch den Raum, als die Splitter blitzend auseinander flogen. Nur einen kurzen Augenblick lang starrte er auf die langsam über den Boden verlaufende Pfütze, dann wandte er sich ab, warf sich einen Raum weiter auf sein Bett und vergrub den Kopf im Kissen. Er wusste nicht, was mit ihm geschehen war, wusste nicht, was ihm fehlte. Vielleicht war er einfach in der falschen Zeit geboren, am falschen Ort. Vielleicht gab es gar keine richtige Zeit. Er wusste es nicht, doch er erkannte, dass etwas sich ändern musste. Eines Tages würde es besser werden, anders konnte es gar nicht sein, wenn so etwas wie Gerechtigkeit noch irgendwo auf der Welt existierte. Eines Tages würde der Lichtstrahl durch die Wolkendecke seines Bewusstseins brechen und ihm die Kraft geben, in dieser grauen Welt seine Erfüllung zu finden und ihr die Farbe zurückzugeben. Eines Tages ...

Er wusste nicht, ob er es bis dahin lange genug ertragen würde, ohne an der Welt zugrunde zu gehen.

 

Hallo Imiak,

dein Protagonist ist so unglücklich, dass er die Welt nur noch in grau wahrnimmt. Seine Stimmung spiegelt sich im Wetter. Auch der Tag ist grau, es regnet. Du schreibst in gutem, flüssigen Stil. Ein Fehler ist mir aufgefallen: "Er musterte die Umgebung prüfend unter dem Vordach des Cafés hervor." "hervormustern" gibt es nicht.

Aber mir fehlt der Grund für die Stimmung des Protagonisten. Warum ist er denn so deprimiert?

Gruß,
Ellen

 

Hallo Ellen,

Zu dem Satz, da weiß ich ehrlich gesagt nicht ganz genau, wie es sich damit verhält. Ich meinte das eigentlich in dem Sinne, dass er vom Vordach aus hinaus blickt. Ob da jetzt tatsächlich ein Fehler im Satz ist, oder ob es nur an der Betonung liegt, wo man jetzt das hervor zuordnet (zum Dach oder zum mustern), da muss ich mir die Sache noch genauer ansehen.

Zu dem von dir erfragten Grund: Wie mindestens zweimal erwähnt wird, weiß der Protagonist das selbst nicht wirklich. Es ist einfach eine ganz allgemeine Trauer, wie es für Depressionen charakteristisch ist, eine Situation, in der gar nichts mehr zusammenpassen will, in der man einfach die Fähigkeit verliert, sich an irgend etwas zu erfreuen, einen alles nur noch traurig stimmt, man nur das Glück der Anderen, nicht aber die Schönheit des eigenen Lebens wahrnimmt. Wo jetzt die Ursache liegt, sei es, weil der Protagonist alleine ist, einsam, so wie es ja herauskommt, oder sei es in ihm selbst begründet, weil er einfach seine Erwartungen nicht erfüllen kann, sich nicht mit der Welt in Einklang bringen kann, weil er eben möglicherweise in die falsche Zeit hineingeboren wurde, das bleibt letztlich der freien Interpretation überlassen.
Beim Verfassen dieses Textes hatte ich schlicht keinen speziellen Anlass für die Verzweiflung des Charakters im Hinterkopf, außer meiner eigenen damaligen (im Januar) Stimmung, die der hier beschriebenen nicht ganz unähnlich war.

 

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