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Kacheln, dachte er

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08.10.2001
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Kacheln, dachte er

Der Nachmittag hatte ihn mal wieder überholt und ihm viel zu wenig Zeit zum verschwenden geschenkt. Und jetzt, da es langsam dunkel wurde, dachte er an jene Nachmittage zurück die er mit Leben gefüllt hatte. Nachmittage mit gemütlichen Spaziergängen, Nachmittage mit langen Telefonaten, Nachmittage voller Kaffe, Nachmittage mit der Familie und an die Nachmittage, die die Abende und die Nacht exzessiv eröffneten. Ja so ein Nachmittag kann die schönste Zeit des Tages sein, dachte er und freute sich auf den Abend. Es war inzwischen dunkel geworden und er begann mal wieder die Kacheln im Badezimmer zu zählen.
„Eins!“
Wie immer begann er mit der Kachel oben rechts, direkt neben dem Haken, an dem seit 2 Monaten das selbe Handtuch hing. Die erste Kachel hatte einen kleinen Riss. Doch dieser Riss war nicht zufällig dort, dachte er. Es war ein Riss in Form eines Halbkreises und bildete den Mund zu einem Gesicht auf der Kachel, das nur er sah. Die Augen waren zwei kleine braune Flecken die über alle Kacheln verteilt eine Art Muster bildeten. Er mochte dieses Gesicht. Es war ein lachendes Gesicht und die sind selten dachte er und überlegte wann ihm das letzte mal jemand ein Lächeln geschenkt hatte.
„Zwei!“
Er ging mit seinem Blick nach links weiter zur zweiten Kachel. Die Kachel an der der Haken fürs Handtuch befestigt war. Ein grüner Haken, der von Zeit zu Zeit abfiel und mit einem neuen Tesa Powerstrip befestigt werden musste. Wahrscheinlich war es die Nässe im Badezimmer die den Klebstoff löste, dachte er.
„Drei!“
Sie war eine von vielen Kacheln mit vielen kleinen braunen Punkten. Vielleicht sogar die Kachel mit den meisten braunen Punkten. Er begann sie zu zählen. „Eins, zwei, drei......17, 18 19!“ braune Punkte. Er war sich nicht ganz sicher ob er sich nicht verzählt hatte. Doch er hatte in der Kachel oben rechts mit dem Zählen angefangen, war nach links weiter gegangen, eins nach unten, dann wieder nach rechts, wieder bis zum Ende, eins nach unten und so weiter. Vielleicht hatte er manche Punkte doppelt gezählt, das war wahrscheinlicher als einen vergessen zu haben. Er merkte sich die Zahl 19 und beschloss wenn er an einer weiteren Kachel mit vielen braunen Punkten angelangt war diese ebenfalls zu zählen.
„Vier!“
Die Kachel trug ein Muster, so wie jede vierte Kachel der oberen Reihe. Es war ein Pseudo-Jugendstilmotiv. Ein Oval, das an der höchsten und der tiefsten Stelle ein ausschweifendes Kringelchen trug, welches sich wiederum, das obere nach rechts, das unter nach links um das Oval schlängelten um kurz vor dem Beginn des oberen oder untern Kringelchen in einer Spirale zu enden. Mit dem Finger fuhr er dem Kachelmuster nach um es zu verstehen. Im Oval selbst waren vier gleichmäßig angeordnete braune Punkte, die, würde man sie verbinden, ein Rechteck ergeben würden. Er tippte auf den ersten braunen Punkt, dann auf den rechts daneben, dann auf den unter diesem und zuletzt auf den unten links. Ein Rechteck, dachte er und nahm sich die nächste Kachel vor.
„Fünf!“
Es gab nichts besonderes an dieser Kachel und eben das machte sie so interessant für ihn. Warum sollte sie einen Haken tragen oder ein Muster, warum außergewöhnlich viele oder wenige braune Punkte besitzen. Sie war einfach da, so wie er, und das gefiel ihm. Eine Art viereckige Identifikationsfläche, dachte er und beschloss dieser Kachel ob ihrer Gewöhnlichkeit besonders viel Aufmerksamkeit zu schenken. Er presste seine Lippen auf die Kachel und verharrte so eine Zeit. Du bist die beste, murmelte er und versprach ihr zurückzukommen.
„Sechs!“
Auch eine gewöhnliche Kachel. Diesmal würde er es genau andersherum machen. Er würde sie einfach nicht beachten und weiter gehen zur nächsten Kachel. Ein wenig Zwietracht sähen, dachte er. Soll sie sich ruhig ungeliebt fühlen während ich mit ihrer rechten Nachbarin viel Zeit verbringe. Ja, soll sie sich mal so richtig Scheiße fühlen, dachte er. Und fühlte sich richtig gut dabei.
„Sieben!“
Ein kleines schwarzes Haar klebte an dieser Kachel. Es muss eins von meinen Haaren sein, dachte er. Von wem sonst. Er drückte seinen Finger gegen dieses kleine schwarze Härchen, solange bis es an seinem Finger klebte. Er wollte es sich nicht ansehen, also schloss er die Augen und pustete es davon und wünschte sich, so wie man es machte wenn man Wimpern davon pustete, das irgendwann wieder einmal fremde Härchen an seinen Kacheln hängen würden. Jetzt noch fremde Härchen. Irgendwann würden wieder vertraute Härchen an seinen Kacheln hängen, dachte er. Hoffte er.
„Acht!“
Wieder fuhr er mit seinem Zeigefinger das zweite Oval nach. Erst mit geöffneten Augen, dann versuchte er die Linien mit geschlossenen Augen nachzufahren. Da sie sich ein wenig von der Oberfläche der restlichen Kachel abhoben, war es leicht zu überprüfen ob er nicht verrutscht war. Sich verfahren hatte. Es gelang ihm. Nur die Spirale bereitete ihm Probleme, da seine Finger zu dick waren um den engen sich ineinander schlängelnden Linien zu folgen. Er versuchte es noch zweimal und gab es auf, öffnete die Augen und zählte weiter.
„Neun!“
In ihr steckte ein Dübel, den ein Vormieter angebracht haben musste. Arme Kachel dachte er. Erst durchbohrt und dann auch noch so ein ekliges grünes Ding mit Widerhaken in die Wunde geschoben bekommen. Er ging zum Spiegelschrank über dem Waschbecken und kramte einige Zeit darin herum, bis er ein Päckchen Kinderpflaster in der Hand hielt. Arme Kachel, dachte er, du musst verarztet werden. Er klebte das Kinderpflaster, auf dem kleine Koalabären abgebildet waren, über den Dübel, pustete kurz noch darauf und schenkte der Kachel ein mitleidiges, tröstendes Lächeln. Wird schon wieder, sagte er und zählte weiter.
„Zehn!“
Die zehnte Kachel trug besonders wenig braune Punkte. Das ging so nicht. Warum sollte sie weniger verdienen als all die anderen. Er würde zu seinem Schreibtisch gehen müssen, einen braunen Fineliner holen und viele kleine braune Punkte.....

Das Telefon läutete und erschrak. Ja er zuckte wirklich zusammen und hatte das Gefühl gerade erst aufgewacht zu sein. Er versprach der zehnten Kachel zurückzukommen und ihr viele braune Punkte zu schenken, sobald er das mit dem Telefon geregelt hatte. Das Telefon stand im Gang auf der kleinen Schuhtruhe und es waren genau 5 kleine eilige Schritte, die ihn dorthin trugen. Doch warum so eilig, dachte er. Warum rennen immer alle Leute zu ihrem Telefon. Wer hat schon so eine große Wohnung, dass er sich beeilen müsste um an sein Telefon zu gelangen. Er kannte zumindest Niemanden mit solch einer Wohnung. Also blieb er vor dem Telefon stehen, ließ es noch zweimal läuten und dann hob er ab.

„Ja, Hallo?“
„Hab ich Dich bei irgendwas gestört?“
„Nein wieso?“
„Nur weil das so lange gedauert hat, bis du endlich rangegangen bist!“
„Hab mir halt einfach mal Zeit gelassen!“
„Das ist aber nett von Dir. Wirklich. So viele Anrufe bekommst Du nun auch wieder nicht, das Du die wenigen die Dich noch anrufen warten lassen könntest. Man, du bist echt...“
„Hab grad meine Kacheln gezählt und verarztet und so was...!“
„Ja ich weiss, Du armer Kerl. Hach. Ist der aber einsam und trotzdem so was von interessant...“
„Ach leck mich doch!“

Sagte er und hängte den Hörer ein. Was sollte das. Warum riefen ihn die Leute an um ihn dann nur anzuscheißen. Er hatte doch lediglich gesagt, das er Kacheln gezählt hatte und nicht:

„Ich bin ja so ein interessanter Typ. Ich zelebriere meine Einsamkeit und lasse alle daran teilhaben!“

Genau das war es nämlich was ihm alle vorwarfen. Alle wenigen, die ihn noch kannten. Das Telefon klingelte erneut. Diesmal würde er sich keine Zeit lassen, da er sich sicher war, würde er es wieder lange läuten lassen, das der Anrufer vorher einhängen würde. Schließlich war das der erste Punkt des vorherigen Telefonats gewesen, der Aggresionen verursacht hatte.

„Ja, hallo!“

meldete er sich als ob er nicht wüsste wer dran war. Er wollte so ein Zeichen setzen und damit sagen: „Lass uns noch mal neu beginnen!“

„Hallo, wer ist da?“
„Wieso?“
„Oh ich glaube da habe ich mich verwählt!“

Der unbekannte Anrufer hing ein. Komisch so was, dachte er. Wie hoch war denn jetzt die wahrscheinlichkeit, dass sich jemand bei ihm verwählen würde. Er hätte alles darauf gesetzt, das es wieder sein Freund ist. Ich dreh hier noch durch, dachte er. Aber es war bezeichnend für alles. Er wartete den Abend und die Nacht über auf den Anruf doch es geschah nichts und auch das mit den Kacheln hatte er nun aufgegeben. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als auf den nächsten Tag zu warten.

 

Hallo,

das ist ja ein sehr karges Leben, dass Dein Protagonist führt. Es gibt viele alte Leute bei denen das genauso ist, nur dass die meistens anstatt Kacheln zu zählen Fernsehen gucken... Hat mich daher ein bisschen an meine Zivi-Zeit im Altenheim erinnert.

Auf jeden Fall finde ich die Geschichte als Alltags-Geschichte gelungen, da sie eine typische Alltags-Situation wiedergibt, die eigentlich nichts spannendes an sich hat und trotzdem charakteristisch ist. Es wäre schön noch etwas über die Gründe zu erfahren, wenn es denn welche gibt, aus denen der Prot nicht mehr vor die Tür geht.

Gruß

MisterSeaman

 

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