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Kalt hier.
Suchend wandert ihr Blick durch das Zimmer. Betastet hektisch das große Gemälde über der Sitzgruppe, die Unmengen von Karaffen und Flaschen auf dem Sideboard, die vielen CDs, die sich neben der Musikanlage stapeln. Ihre Finger nesteln am weich-fließenden Stoff ihres eleganten schwarzen Abendkleides, streichen durch ihre Haare, krallen sich im weichen Leder der Couch fest. Sie fühlt, wie langsam schleichend ein Gefühl in ihr aufsteigt und ihr die Kehle zuschnürt. Nervosität, eine nicht greifbare und nicht bezwingbare Unruhe, die von ihren Gedanken Besitz ergreift. In ihrem Kopf pulsiert es, Bilder schießen hin und her in ständig wechselnder, immer gleicher Folge. Was mache ich hier? Was soll das alles? Fragen, auf die sie keine Antwort findet. Auf die sie keine Antwort finden kann. Weil es keine gibt. Sie versucht, sich die Situation von außen vorzustellen. Ein Blickwinkel, als ob sie über dem Zimmer schwebt und von oben auf sich selbst herab sieht. Eine junge Frau im schwarzen Cocktailkleid, eine rote Pashmina-Stola um die Schultern drapiert. Highheels, in denen jeder Schritt zuviel tödlich ist. Ihre langen dunklen Haare fließen über ihren Rücken und verdecken ihr Gesicht. Neben ihr ein attraktiver Mann im grauen Anzug. Verständnisvoller Blick, sympathische Grübchen, gewinnendes Lächeln. Und doch, sie kann keine wirkliche Verbindung zwischen sich und dieser an sich harmonischen Szene ausmachen. Es ist, als schaute sie auf eine Andere herunter, nicht auf sich selbst. Sie fühlt sich fremd, und das in einem Moment, in dem sie glücklich sein sollte.
Erschrocken schaut er sie an. In ihren Gedanken völlig verloren, hat sie hörbar laut geseufzt. „Was hast Du?“, kommt sofort seine besorgte Nachfrage. Was ich habe? Gute Frage, denkt sie im Stillen. Wenn ich das wüsste – es wäre mir sehr damit geholfen. Was kann ich Dir antworten? Dass ich mich nicht wohl fühle? Dass es mir hier zu eng wird? Ich das Gefühl habe, gleich ersticken zu müssen, so eingeengt von der perfekten Idylle, die mir nur noch deutlicher zeigt, was eigentlich fehlt? „Mir ist kalt“, stößt sie hilflos hervor. Noch ehe sie zu Ende gesprochen hat, hält er eine warme Wolldecke in der Hand, die er behutsam um sie legt. „Warte, ich mach auch gleich noch das Fenster zu“, fügt er hinzu und nimmt ihr jegliche Verbindung zur kühlen Nachtluft. Jener Luft, nach der sie sich im Moment so sehnt. Sie verkriecht sich immer tiefer in die kuschelige Decke, die sie eigentlich gar nicht braucht, und hofft, darin verschwinden zu können. Nur weg hier, raus, fort. Wie kann er ahnen, dass es nicht die Kälte der Luft ist, die sie zum Frösteln bringt? Dass es die Kälte dieser Welt ist, in der die Gänsehaut auf ihren Armen ihren Ursprung hat? Die Kälte zwischen den Menschen, die auch ihr Herz einzufrieren droht? Kann er sich das vorstellen? Und kann sie ihn dafür verurteilen, dass er es sich nicht vorstellen kann? Nein, das ist nicht fair. Das Leben ist nicht fair. Sie darf ihm nicht die Schuld daran geben, und doch fühlt sie, wie seine Gegenwart zunehmend eine diffuse Wut in ihr hervor ruft.
Ihre Lippen beginnen zu zittern, als sie an diesem Punkt ihrer Gedanken angelangt ist. Erst unmerklich, dann immer stärker. Sie hat keine Kontrolle mehr darüber. Ihre Schultern zucken, die Wolldecke rutscht herunter. Auch den Pashmina-Schal wirft sie von sich. Sie spürt, wie ein Meer aus Salz ihre Augen erobert. Die erste Träne bahnt sich ihren Weg vom inneren Augenwinkel aus entlang der Nase, über ihre Wange. Schnell die Haare davor, er darf nichts merken. Er würde es nicht verstehen. Er hat das nicht verdient. Sanft spürt sie seine Hand auf ihrer nackten Schulter, sie bewegt sich leise tastend vorwärts, streichelt auf und ab, beruhigend. Wie durch Watte dringen seine Worte an ihr Ohr. „Kann ich irgendetwas für Dich tun?“ Ja, lass mich gehen. Lass mich einfach gehen. Schau mich nicht mit Deinen großen grauen Augen fragend an, sei nicht traurig, mach Dir keine Gedanken. Es geht nicht um Dich, Du kannst nichts dafür. Es geht einfach nicht. „Ich habe Durst“, antwort sie zögernd mit vor Unsicherheit bebender Stimme. Mit einem Satz ist er von der Couch aufgesprungen. Schon auf halbem Weg in die Küche, ruft er ihr zu „Das haben wir gleich, ich hol Dir was.“ Wie kann er ahnen, dass es nicht der physische Durst ist, der sie umtreibt? Dass sie nach dem Leben dürstet? Ihr Dasein endlich richtig auskosten will? Gedanken und Gefühle zum Ausdruck bringen will statt sie herunter zu schlucken und mit dem schalen Nachgeschmack im Mund weiter zu existieren? Trotz ihrer Angst vor dem, was kommen mag, war sie sich noch nie so sicher: Dies hier, das ist es nicht. Es ist nicht das, worauf sie ihre Erwartungen, Hoffnungen und Träume gesetzt hat. Noch hat sie die Wahl, wer weiß, wie lange noch. Ihr Herz einfrieren und so kalt werden wie die Welt um sie herum. Oder ausbrechen, noch einmal von vorn beginnen, auf eine bessere Zukunft setzen. Und wieder: Was kann er dafür, dass er diesem Anspruch nicht genügt? Wie kann sie ihn dafür büßen lassen, dass er nicht verstehen kann? Das ist wirklich nicht fair. Das Leben ist nicht fair.
Verwirrt beginnt sie, in ihrem kleinen, bestickten Handtäschchen zu kramen. Ihr Kosmetikspiegel kommt ihr in die Finger. Sie öffnet ihn, betrachtet sich, sieht das Bild einer fremden Frau, das sie unmöglich mit sich selbst in Einklang bringen kann. Die Spuren der Unsicherheit sind unter einer Maske von zur Schau getragener Coolness verschwunden. Die Tränen der letzten Nacht verborgen unter einer dicken Schicht Make-up. Ihr viel zu rot geschminkter Mund öffnet sich. Staunend. Fragend. Sprachlos. Der Verschluss ihrer Halskette ist nach vorn gerutscht. Das bedeutet, dass man untreu ist, hat ihr mal jemand gesagt. Sie ist untreu. Untreu sich selbst gegenüber. Die junge Frau im Spiegel hat nichts mit ihr zu tun. Sie weiß nicht, was sie hier eigentlich tut. Ob es richtig ist oder falsch. Zu viele Fragen. Zu wenige Antworten.
Als er mit zwei halbvollen Gläsern Rotwein in der Hand aus der Küche zurück kehrt, ist das Zimmer leer. Leer bis auf einen Zettel auf dem niedrigen Couchtisch, auf dem mit rotem Lippenstift geschrieben steht