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Karl, Verdun und der tote Joseph

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21.11.2000
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Karl, Verdun und der tote Joseph

Sein Gesicht hatte sich verändert. Zuerst anteilslos, zog ihm die gefrierende Kälte eine lachende Fratze auf. Als wolle dieser kleine französische Soldat aus seinem kalten Grab, irgendwo in den Schlachtfeldern um Verdun, den deutschen Soldaten zeigen, dass der Wille für den Kampf um das Vaterland ungebrochen war. Dieser kleine französische Soldat lachte und sein Name war Joseph. Karl-Eugen Oppenreich, Gefreiter des III. Infanterieregiments und von den meisten einfach nur Karl genannt, konnte darüber schon lange nicht mehr lachen, da dieser kleine, unverschämte tote Soldat Namens Joseph genau vor seiner Maschinengewehrstellung lag und ihn Tag für Tag anlachte. Eines Tages war Karl nahe dran, seine Stellung zu verlassen, um diesen lachenden Toten einfach auf die andere Seite zu drehen und somit diesem eigenwilligen Blick nicht mehr länger ausgeliefert zu sein. Man sollte dabei erwähnen, dass dieser französische Soldat Karls erstes Opfer war, wenn man tote Soldaten in einem sinnlosen Krieg als Opfer bezeichnen mag. Obwohl dieser Soldat alleine an die deutschen Stellungen trat und keine Gefahr für die deutschen Linien darstellte, entschied sich Karl damals dafür, ihn mit einer gezielten Salve dem Erdboden gleich zu machen. Ein kurzes Geknatter störte die morgendliche Ruhe über Europas größtem Friedhof und machte ihm ein neues Geschenk - Joseph. Joseph lag also tot da und Karl saß eben lebend am anderen Ende des Gewehrlaufs. Ein ungleiches Paar.

In der Zwischenzeit machten die französischen Truppenteile weiter Druck auf Karls Linienabschnitt. Das bedeutete in diesem Krieg, dass viele tapfere wie auch weniger tapfere Soldaten sich neben Joseph auf den Boden warfen und diesen nie wieder verlassen sollten. Nach jedem Angriff bot sich Karl das gleiche Bild: Nachdem sich die Rauchschwaden verzogen hatten, waren Rauchbomben und bisweilen Giftgas ein beliebtes Spielzeug der angreifenden Truppen, lagen zu hunderten die toten Soldaten vor dem kleinen Hügel der Maschinengewehrstellung. Dabei legten sich die Neuankömmlinge fürsorglich über die steif gefrorenen Körper ihrer Kameraden, als wollten sie noch etwas Wärme von ihrer dahinscheidenden Körpertemperatur mit ihnen teilen. Teilen war ein beliebter Zeitvertreib im Krieg. Und unter all diesen toten Körpern lachte Joseph immer wieder aufs Neue Karl ins Gesicht. Selbst nachts verfolgte Karl dieses Lachen. Es war doch sein erster Toter für das Vaterland. Doch er musste viel darüber nachdenken, warum dieser kleine französische Soldat, Joseph, warum dieser alleine auf seine Stellung zukam. Er hatte nicht einmal eine Gewehr dabei. Auch keine weiße Fahne. Er war auch recht dünn gekleidet für den späten November.

Selbstmörder gab es viele, auch hinter den deutschen Reihen. So fand Karl einen seiner Kameraden ganz friedlich für immer schlafend; die Handfeuerwaffe eines Offiziers in seiner Hand und den Kopf verträumt nach hinten gerollt. Ein anderer umklammerte bei einem Angriff seine Granate so fest, als wäre es das wichtigste auf diesem Schlachtfeld. Die Wucht der Detonation löste seine Fesseln. Er starb im Lazarett. Aber keiner machte sich die Mühe, über ein 900 Meter breites Feld voller halber und geviertelter Kadaver zu stapfen, um sich dann von einem Maschinengewehr des Feindes die Lunge in Stücke zerschießen zu lassen. Nein, so was tut keiner. Zumindest wäre Joseph der erste gewesen. Aber konnte sich einer vor den Lauf eines Maschinengewehrs stellen, nachdem er eine Wüste aus modernden Fleisch durchquert hatte? Nun gut, in den Novembernächten hatte der Frost permanent Einzug gehalten und somit waren alle Leichen gefroren. Das machte natürlich vieles einfacher. Im regnerischen Oktober war solch ein Unternehmen doch wesentlich schwieriger zu gestalten. So konnte man dieses 900 Meter breite Feld nicht einfach, wie bei einen Sonntagsspaziergang überqueren, wie es Joseph tat. Man musste sehr sorgfältig vorgehen, um Schritt für Schritt auf dem Rücken des nächsten Toten den Weg bahnen zu können. Verwechselte man aus Unachtsamkeit den Rücken mit dem Bauch, so versank man doch schnell in dessen aufgeweichten und verrotteten Eingeweiden. Nein, der frostige November musste eine gute Wahl für solch ein Vorhaben sein. Bietet es doch einen sicheren Tritt. Somit konnte auch kein Toter vom eigentlichen Ziel ablenken. Mit solchen Gedanken konnte Karl dann beruhigt einschlafen.

Es zog der Winter ein über Verdun. Vieles hatte sich geändert - auch Karl und Joseph. 10 Tage vor Weihnacht fiel der erste Schnee und die französischen Truppenteile starteten im Verbund mit Belgiern und Briten ihren bisher stärksten Angriff. Von Joseph war nichts mehr zu sehen. Sie zogen zu Zehntausenden über diesen gewaltigen Friedhof. Karl dachte immer, dass sich ein solcher Angriff wie einer dieser großen Feste seines reichen Onkels anhörten. Zugegeben, es waren hier mehr Gäste, doch bekundeten diese mit lautem Geschrei und Jubelparolen Sympathie für diesen Ort. Giftgas und Rauchbomben schlugen zu hunderten ein und jeder legte wie gewohnt seine Gasmaske an. Der Blick durch eine Gasmaske war für Karl immer wie ein Blick in eine Traumlandschaft. So waren seine Gläser der Maske gelb, was er sich nie hatte erklären können. So blickte er suchend zu Joseph, der nun viel weiter von ihm entfernt zu liegen schien, eingehüllt von einer weissen Decke aus Schnee. Er blickt zu seinen Kameraden in den entfernten Stellungen und auf diejenigen, die es wieder geschafft hatten, ihre Gasmasken zum falschen Zeitpunkt zu verlegen. Das Gnadenmetall der Handfeuerwaffe des Offiziers stimmte diese für die Ewigkeit ruhiger und störte somit die Kampfmoral der Truppe nicht. Die Gasmaske ist eine feine Erfindung, dachte Karl. Macht Sie doch aus der Realität nur eine Geschichte.

Aus dem beengten Gesichtsfeld erkannte Karl bald die ersten Truppen, die durch den gelben Schnee stapften. Ein geübter Feuerstoß eröffnete das Spektakel und es fielen hier und da viele Leute in diesen gelben Schnee. Während des Angriffs dachte Karl an Joseph, der ja irgendwo unter der Schneedecke ihm zulächelte. Ihm war über die kalten Dezembernächte klar geworden, dass Joseph ihn mit seinem Lächeln niemals bestrafen wollte. Nein, im Gegenteil, Karl konnte nun erkennen, dass Joseph ihn mit Wohlwollen betrachtete. War es denn nicht er, der ihm mit gezieltem Schuss schnell seinen Wunsch nach Erlösung erfüllte? Ja, Joseph war Karls Freund geworden, und ja, Karl vermisste Joseph. Während des Angriffs kamen die deutschen Truppenteile immer mehr in Bedrängnis. Selbst Karl hatte nun allerhand zu tun, um die nachkommenden Truppen nach einem nicht bestimmten Schema mit dem Schnee zu verheiraten. Da bemerkte Karl, dass sich ein Soldat für Joseph interessierte. Er muss wohl über ihn gestolpert sein, sein Lächeln freigelegt und ihn somit erkannt haben. Karl fühlte eine Glücksgefühl in sich, hatte doch Joseph einen Freund gefunden. Gezielt wie noch nie, schoss er die ankommenden feindlichen Soldaten zu Boden, um Joseph und seinen Freund zu beschützen. Nun konnte auch Karl wieder das Josephs Lächeln sehen. Es erfreute sein Herz. Doch zeigte sein Herz auch an, dass dort nur Liebe für Joseph war und nicht auch noch für seinen Freund. Musste er denn etwa alle lieben? Somit beförderte er das Gesicht von Josephs Freund mit einem langen Feuerstoß in den gelben Schnee. Joseph lachte.

Die deutschen Linien lagen unter schwerem Feuer. Hier und da wurden ein paar Kameraden aus ihren Stellungen in Richtung Feind gesprengt. Ein paar von ihnen wurden am vorgelagerten Stacheldrahtzaun aufgefangen. Obwohl der Angriff bedrohlich war, schienen die Offizier guter Laune zu sein. In den letzten Tagen wurde über eine neue Wunderwaffe gemauschelt. An diesem Tag sollte diese zum Einsatz kommen. Männer mit langen und schweren Ledermänteln stiegen in die Gräben. Ihre Köpfe waren mit einer mönchsartigen Kapuze geschützt. Auf den Rücken trugen sie Gepäck und in der Hand hielten sie ein Rohr. Traumgestalten, dachte Karl, als er diese Männer durch seine Gasmaske betrachtete. Plötzlich kam Feuer aus den Rohren dieser Traumgestalten und erleuchteten die Front in ganzer Linie. Die Feier schien zu Ende zu sein, denn plötzlich Verstummte die ganz Front. Kleine leuchtende Fackeln liefen auf und ab und der Schnee schmolz dahin. Diese Schlacht wurde für die deutschen Truppen entschieden. Karl war über diese neue Waffe nicht sehr erfreut, da diese doch seinem Freund da draußen was anhaben konnte. Er dachte an Josephs Lächeln. Feuer konnten sein bezauberndes Lächeln doch zerstören.

In derselben Nacht wagte sich Karl auf das Schlachtfeld, um Joseph zu retten. Behutsam wischte er den Schnee von den Kleidern. Erst jetzt konnte er die wahre Schönheit seines Freundes sehen. Karl war glücklich, aufgewühlt wie eine kleines Kind. Er konnte es gar nicht abwarten, bis er Joseph seinen Kameraden vorstellen konnte. Karls linkes Knie sackte ein und brach eine Kartusche in zwei. Grüner Dampf trat an Karl empor und lies ihn erblinden. Karl fasste nach Joseph und trug den starren Körper auf seinen Armen. Er musste es zurück zu seiner Stellung schaffen. Es ging nun nicht mehr um sein Leben, als vielmehr um die Rettung seines Freundes. Er musste ihn retten! Karl stürzte mehrere Male und verletzte sich am feindlichen Stacheldrahtzaun. Eines tiefen Kraters wegen stürzten Karl und Joseph in dessen Schlund, der schon für viele andere deutsche Soldaten eine ewige Bleibe geworden war. Es mochten vierzig und fünfzig gewesen sein. Eine unendliche Anzahl, so schien es Karl, der unter den vielen Toten nach seinem Freund suchte. Blut quoll in der Zwischenzeit aus seinen Augen. Das Salz der Tränen brannte. Karl ertastete jedes einzelne Gesicht und wollte das Lächeln wieder finden. Manche hatten keinen Kiefer mehr. Hier war es leicht zu sagen, dass es nicht Joseph war. Doch die meisten Toten lachten. Sie lachten wie Joseph. Karl dachte wieder an die großen Feste seines Onkels. Hoffnungslos saß er nun am Grunde des Kraters, dessen Wände mit lächelnden Menschen ausstaffiert waren. Es graute der Morgen. Aus seinen Augen lief kein Blut mehr. Eine feste Kruste hatte sich gebildet. Karl musste sich zurück zu seinen Truppen begeben. Er stieg aus dem Krater und ging einer sinnlosen Zukunft entgegen. Eine Zukunft ohne Joseph, den er am Ende doch geliebt hatte. Eine gezielte Maschinengewehrsalve zerfetzte Karls Leber, Darm und Lunge. Mit einem Bein angewinkelt rutschte er einen kleinen Hang hinab. Über Nacht begann auch Karl seinen Mörder anzulächeln.

 

Hallo ChristianKarl

Hier kann ich gar nicht so viel dazu schreiben. Denn ich finde es eine gelungene, seltsame Geschichte.

Mit der "Beziehung" zwischen Karl und Joseph beschreibst du schön den "Kriegswahn", von dem viele Soldaten befallen werdern, wenn sie lang an der Front sind.

Die Story ist für mich toll geschrieben, rund, einfach stimmig!

Gratulation!

Lieber Gruss
Muchel

 

@ Muchel

Du hast durchaus recht mit deiner Einschätzung. Sehr einfühlsam beschriebene Kriegsszenerien gepaart mit einer durchaus witzigen/interessanten Pointe


Aber hast du dir mal das Veröffentlichungsdatum angeschaut. Ich glaub nicht, dass christiankarl im Forum noch aktiv ist, und somit leider die etwas späten Kritiken nicht mehr anschauen wird.

mfg Hagen

 

@Hagen

Danke für deine Zustimmung zu meiner Kritik. Es freut mich, dass mir jemand antwortet. :)

Ja, wahrscheinlich ist christiankarl nicht mehr aktiv.
Ich, als Frischling, hab den "Null-Antworten-Tread" gefunden und habe mir viele dieser Geschichten mal vorgeknöpft. Und es hatte tatsächlich a) sehr gute darunter und b) auch von aktiven Forumsteilnehmer und c) war/ist es für mich eine gute Übung Feedback zu geben und ev. andere Forumsteilnehmer (wie z.b. dich) auch die Stories zu lesen oder einen Kommentar abzugeben. ;)

Und falls ein "Inaktiver" wieder einmal reinschaut, freut es ihn vielleicht....

Ich weiss, wie ich auf heissen Nadeln sass, bis ich endlich die erste Kritik für meine Geschichte bekam.....

Lieber Gruss
Muchel

 

@ muchel

ich mach das ja auch so ;) . Und manchmal stößt man dabei wirklich auf so manch vergrabenes Schätzchen, wie zu beispiel dieses hier.

mfg Hagen

 

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