Kleine Beobachtung
Es regnet. Die Gesichter der Wartenden sehen ebenso aus, verregnet, man müsste gar nicht nach oben schauen um den Zustand des Wetters festzustellen. Wieder mal irgendein selbstsüchtiger Karl – Eduard oder eine Susanne, die sich auf den Computerbildschirmen der Meteorologen aus der „Heute“ – Sendung als Tief breitgemacht haben. Da bleibt auch dem netten Herrn vor der Kamera nichts übrig, als entschuldigend zu lächeln.
Hier und momentan lächeln die Menschen nicht. Nicht mal entschuldigend. Sieht eher aus, als ob sie heulen. Das kommt durch den bindfadenähnlichen Regen, der in Massen aus dem Himmel strömt. Heute Hausputztag da oben.
Sie stehen da im kleinen gläsernen Wartehäuschen der Busstation und man kann es in ihren mehr oder minder großen Gehirnwindungen förmlich arbeiten sehen:
Wann kommt der verdammte Bus? Ein Neuntklässler.
Wie kann ich mich besser unters Glashäuschen drängen, so dass ich effektiv nicht mehr naß werde? Der anzugtragende Geschäftsmann.
Scheiße, Regenschirm zuhause vergessen. Jetzt werde ich bestimmt wieder krank. Junge Angestellte mit Leopardenmuster – Gummistiefeln.
Eine junge Mutter beobachtet gelangweilt die aushängenden Informationsblättchen über Abfahrtzeiten, Tarife und Neuerungen in den öffentlichen Nahverkehrsmitteln. Die haben’s gut, die hängen hinter einer Glasscheibe, während sie hier mit ihrem Blag steht. Das ist zwar momentan in tiefen Schlaf versunken, aber hallo, wenn das erst mal aufwacht, da würden alle anderen aber ganz komisch gucken. Das kann schreien, das glaubt man erst, wenn man’s hört.
Eine alte Frau kommt im Tempo einer Rennschnecke auf die eingeschworene Gemeinschaft zugewatschelt. Sie zieht, Abbild eines Klischees, eine burberry – karierte Einkaufstasche auf Rädern hinter sich her. In der anderen Hand hat sie einen Stock zum Gehen. Keinen gewöhnlichen Plastikstock, der letzte Woche bei Aldi im Sonderangebot war, sondern ein wunderschöner Holzstab mit geschnitztem Kopf. Naja, aber das Holz ist schön.
Langsam tapert sie, begleitet vom rhythmischen Tapp – Tapp des Gehstocks, auf uns zu.
Junge Mutter, Anzugträger und Schüler rücken leise murrend zur Seite um der Frau ebenfalls unter dem kleinen Dach des Häuschens Platz zu machen. Sie fangen sich einen tadelnden Blick der Angestellten mit den Gummistiefeln ein, schließlich ist das eine ältere Dame, die braucht eben Rücksichtnahme, stellen Sie sich doch nicht so an.
Die Alte lächelt ein wenig schüchtern in die Runde, sie spürt die Front gegen sie. Schnaufend stellt sie ihren Trolli ab, legt fast liebevoll ein kleines Steinchen vor eins der Räder, damit dieses Hochgeschwindigkeitsgerät nicht einfach ohne sie losfährt. Heutzutage weiß man ja nie.
„Ganz schön widerlich, das Wetter heute, oder?“.
Vier Augenpaare schauen sie an. Überrascht, erstaunt, unwillig. Man will sich jetzt und hier nicht unterhalten, besonders nicht übers Wetter und vor allem nicht mit einer alten Frau, die ja sowieso nichts vom stressigen Arbeitsalltag versteht.
Damit die Situation nicht zu einer peinlichen Farce eskaliert, murmelt der Anzugträger etwas in seinen sorgsam abrasierten Bart, das man bei genauerem Hinhören als „Ja, doch, wirklich nicht schön.“ interpretieren kann.
Die Alte scheint mit einer solchen Antwort rundum zufrieden, mehr hat sie nicht erwartet. Mehr erwartet sie nie.
„Ja, das sag‘ ich ja, heute morgen hab ich’s noch gesagt. Da bin ich zum Fenster hin und da sehe ich den grauen Himmel und da sag‘ ich zu mir, Lizzi, meine Liebe, heute gibt’s noch Regen.“
Keine Reaktion.
„Lizzi, das bin ich.“
Verwundertes und leicht abweisendes Augenblinzeln hoch vier. Hat man sowas schon mal gehört, da stellt sich jemand einfach so an der Bushaltestelle vor. Was soll man denn da sagen, hey x, ich weiss gar nicht, ob du Lizzie schon kennst, wir haben uns damals an der Bushaltestelle kennen gelernt und seitdem sind wir unzertrennlich?
„Mein Mann, Gott habe ihn selig, der hat auch immer gespürt, wenn Regen im Anzug war. Ihn hat’s dann immer im kleinen Zeh gejuckt, das war ganz schlimm. Er konnte vor lauter Jucken an gar nichts anderes mehr denken. Immer nur dieses Jucken, Jucken, Jucken.“
Die junge Mutter schaut.
„Ja, ich kenn‘ das, mein Kind, der Maximillian, der schreit dann immer besonders laut, wenn er sowas spürt. Kinder haben ja auch ein besonders ausgeprägtes Gespür für so etwas, hab ich mir sagen lassen.“
„Ach ja, die lieben Kleinen. Wissen Sie, als ich noch jung war, da hatte ich auch Kinder. Ganze drei. Aber jetzt: Keins hat mehr Zeit für mich, es ist wirklich schlimm. Das liegt an der Arbeitsmarktsituation, sagen sie. Der eine wohnt in Hamburg, der andere in München und die Jüngste in Heidelberg. Ist ja doch alles ganz schön weit weg und da geht’s halt nicht, dass sie einfach so - schwuppdiwupp – ihre alte Mutter besuchen kommen.
Es wäre natürlich schön, wenn ich sie öfter sehen würde, aber ich bin ja auch pflegeleicht. Sagen alle die mich kennen. Ich habe mir auch schon überlegt, ob ich nicht zu ihnen ziehen soll. Meinen Kindern meine ich. Da kann ich dann im Haushalt wirklich kräftig mit anpacken.
Wissen Sie, meine Wohnung ist mir mittlerweile auch ein wenig zu groß. So ganz allein, da braucht man ja nicht viel. Und ab und zu, da fühlt man sich da so ein wenig einsam. War früher schon schön, wenn man nach Hause kommt und jemand erwartet einen.
Irgendjemand.
Ich fahr jetzt immer mit dem Bus hier wohin. Jeden Tag. Man will schliesslich mal was Neues von der Welt sehen und das Fernsehen ist einem doch irgendwie zu langweilig, so auf die Dauer.“
Sie zieht die Nase hoch, lächelt etwas verlegen ob ihres doch recht langen Monologs und schweigt.
Keiner spricht, alle schauen angestrengt in die Richtung aus der der Bus erwartet wird. Kann doch nicht mehr so lange dauern, man hat schließlich noch was anderes vor, als an einer vergammelten Haltestelle herumzustehen und zu warten. Sich einregnen zu lassen. Das Geschwätz von irgendeiner irren Alten, die mit einem zu ausgeprägten Mitteilungsbedürfnis gesegnet ist, ertragen.
Endlich, in der Ferne taucht das tröstende Rot des Buses auf. Die Leute fangen an zu drängeln, als gäbe es gleich etwas umsonst. Schnell, nur schnell weg aus diesem Wetter. Der Regen wird mittlerweile vom Wind in Strömen über das Häuschen gepeitscht, es klackert gegen das Fenster aus Plastik, gegen die gerade zugeklappten Schirme.
Plötzlich mischt sich, bei genauem Hinhören noch ein anderes Geräusch unter den nassen Radau der Himmelsflut.
Die alte Frau schluchzt. Sie weint. Sie putzt sich verzweifelt die Nase und die roten Augen, aber es ist nicht zu übersehen. Sie sieht aus wie ein eigener kleiner Wolkenbruch. Ein privater Wolkenbruch.
Vier Augenpaare starren sie entsetzt an. Wieso muss gerade ihnen das passieren? Kann die Alte nicht später, alleine, irgendwo anders anfangen zu heulen?
Sie merkt es, hört auf, das zerfledderte Taschentuch noch weiter zu zerreißen und sagt: „Um ehrlich zu sein, ich habe mich in den Busfahrer verliebt.“
Der Bus hält. Vier Personen steigen ein. Betreten. Niemand wagt es, dem Busfahrer ins Gesicht zu blicken.
Die alte Frau steht immer noch draußen. Sie steigt nicht ein, winkt dem Fahrer weiterzufahren. Der zuckt die Schultern, fährt an.
Die Regentropfen springen auf die Scheiben. Es regnet. Immer noch.