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Kultur

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11.09.2003
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Kultur

Tür auf, rein in die Wohnung, Tür zu, das Schloss vor, was Gefrorenes in die Mikro, ungesund, fettig und lecker, in die Kauleiste geschoben, ab ins Wohnzimmer, ein kühles Blondes auf dem Sofa, Schuhe aus, Hacken hoch, Glotze an...herrlich!
So was bekam man nur in der zivilisierten Welt geboten, wo die Leute scharenweise in die Kirche schlurften und ihrem Gott, der Industrie, ihre Nervenkostüme und Bandscheiben als Opfer darbrachten, jeden Morgen, pünktlich an der Stechuhr drängelnd, abends dasselbe, andere Richtung. Die Kiste flimmerte, in den Straßenschluchten heulten die Atheisten und die Bibel wurde täglich geändert, im Namen des Volkes natürlich.
Liebe war verboten, in guten, wie in weniger guten Zeiten. Das war hart aber herzlich, doch mit einem Colt für alle Fälle, der richtigen Beinarbeit und der Gewissheit, dass die Macht mit einem war, stellte sich einem nur noch die Frage: Wer wird Millionär? Ein anderer, aber es machte Spaß zu sehen, wie es einer nicht wurde, der Blödhammel, das hätte ich aber auch noch gewusst.
Das Blonde war nicht mehr ganz so kühl, rutschte aber noch ganz gut, es hatte angefangen zu regnen und hagelte mögliche Antworten, Nachschub im Schrank, falls nötig, aber erst mal das Publikum befragen. Nur keine Sorge, da waren ja noch der Telefonjoker, die Werbepause und die News.
Hacken überkreuz, am Bauch gekratzt, am Laukühlen genippt.
Katzenfutter gab es jetzt auch in Sahnesauße, Spendenaufrufe kamen nicht nur von Misereor, bei dem großen M hatten sie jetzt die Thai-Wochen, man trug die Röcke wieder kürzer, schokoriegelsüchtige Jogger blieben schlank und fit, irgendjemand hatte in der Hochzeitsnacht eine neue, bisher unbekannte Geschlechtskrankheit entdeckt, die Oscarnation befand sich immer noch im Krieg mit der Ölnation, das Wetter würde wie immer relativ mies werden für die ozongeschädigte Jahreszeit, Glas leer, Mist, ein neues Blondes, bevor die Millionen den Bach rauf oder runter gingen. Regentropfen an der Fensterscheibe, prasselndes Flimmern, nervtötend und laut, abgerissene Körperteile und schwarzes Gold, runter mit der Jalousie, der erste Schluck, ein grinsender Schaumschnauzer. Ab ins Wohnzimmer, auf das Sofa geplumpst, ein Kissen im Nacken, Füße wieder hoch, am Bauch gekratzt, ein Schluck Blondes, kühl, wie es sein soll.
Herrlich eben.
Flimmern, Kategorie: Ethik. Abgelehnt.
Nächster Versuch: Mikrobiomolekulartechnik. Kein Problem, schließlich war man ja nicht von gestern.
Die Zahlen kletterten höher, den Nullen entgegen, es winkten naseweiße Traumstrände, Stechuhren wähnten sich zum Schein ängstlich arbeitslos, flimmerndes Blecken der teuren Dritten, Applaus, Applaus, Applaus, am Bauch gekratzt, Resonanz, was zum Knabbern stand immer in Griffweite unter dem Tisch, Kauleistenarbeit, eine letzte Frage, alles oder nichts, verdammt mutig, PENG, durchgerasselt, das hätte ich aber jetzt wirklich noch gewusst, Blödhammel, blöder. Aufblinkende Nullen, Trostpreis, der Nächste bitte und...Werbung. Schon wieder? So was aber auch, die wollen einen wohl für dumm verkaufen, als ob man nicht merken würde, was da vor sich ging, man war ja schließlich bei der Sache. Ein Transparentes, ab zum Schrank, wieder blond und kühl, weiße Krone, Flimmern im Off.
Spitzenbesetzte Dessous machten jede Art des Beischlafs zu einem Erlebnis, die Fahrt im neuen Landrover aus Übersee war besser als jeder Fick, Autofahren lohnte sich nur, wenn man eine Raubkatze im Tank hatte und Kühe waren lila, immer, auf allen Weiden und Kanälen, neue Anschläge auf international vulnerable Ziele, Flaggen wurden zu Eltern geschickt, Zahlen kletterten in die Höhe, die Krankheit war unheilbar, noch, zumindest für die nächsten zehn oder zwanzig Jahre, bis die nächste kommen würde und das Wetter war das Wetter. Irgendwie doof, die Runde. Trommelnder Regen, Glotze aus, am Bauch gekratzt, Katzenwäsche im Bad, ab ins Schlafzimmer, Wecker gestellt, laut gegähnt, in die Federn gehauen, jeden Abend, morgens dasselbe, andere Richtung.

 

Ich klammere die Aussage mal aus (was wiederum keine Aussage über die Aussage deiner Geschichte sein soll ;)). Bemerkenswert finde ich den Fluß, der deine Geschichte bestimmt. Außergewöhnlich variationsreiche, anschauliche Sprache, gut!

 

„Nur arbeiten und Fernsehen, das ist doch kein Leben.“
Aufrüttelnd.
Revolution!

Nunja. Sprachlich streckenweise interessant, in der schieren Masse von aufgezählten Medienschnipseln aber auch ermüdend, zumal die meisten Soundbites davon zu den Standardprotagonisten solcher TV-Satiren gehören (Werbung, Spielshows, Serien).
Inhaltlich, und das weißt du sicher selbst, ist das irgendwie eine ganz abgedroschene Nummer. Ich nenne das die Zuviel-Satiren, meist treten sie in Verbindung mit neuer (in diesem Fall schon ziemlich alter) Technologie auf, und sie zeigen immer ausführlich, was unweigerlich passieren wird: Die Leute stumpfen ab und werden doof. Beispiele: Das Handy. Unweigerlich werden die Leute nur noch telefonieren (oder wahlweise SMS schreiben), darüber alle ihre „wahren, echten“ Beziehungen zu Menschen verlernen, mit niemandem kann man sich mehr normal unterhalten, weil ständige das Handy piepst, die Kultur ist dem Untergang geweiht und der Faschismus regiert.
Der Computer: Unweigerlich werden alle zu blassen, gefühlsverkrüppeten Nerds, die nur noch von Pizza und Cola ernähren, alle ihre sozialen Kontakte abbrechen, die Kultur ist dem Untergang geweiht und der Faschismus regiert.
Die Popmusik: Unweigerlich werden alle Jugendlichen zu grölenden, hirnlosen Tanzzombies, unterminieren die Werte der Gesellschaft, Vergewaltigen alles und jeden im Drogenrausch, die Kultur ist dem Untergang geweiht und der Faschismus regiert. Und das alles wegen Elvis.
Ich bin sicher, als die Eisenbahn noch neu war, da gab es Satiren darüber, dass die Leute jetzt nur noch Eisenbahn fahren werden, nie mehr irgendwo zu Fuß hingehen, ihre Beine verkümmern und fallen schließlich ab, die Kultur... etc.
Dem zugrunde liegt eigentlich immer die Binsenweisheit: Zuviel von etwas ist ungesund. Mehr Binsen als Weisheit, zumal das Feindbild des Stumpfis meist nur konstruiert wird, um sich davon abzuheben. Somit geht der Stumpfi eine symbiotische Beziehung zum Kulturverfechter ein, denn der braucht ihn zur Konstruktion des eigenen Selbstbilds.

 

Hi Leutz.
Jaaaaaa, es gibt sie, die Zuviel-Satiren. Ich wollte halt auch mal. Ist das sinnvoll oder gar nötig? Wer oder was kann das schon von sich behaupten? Wenn ihr euch meine anderen Geschichten anschaut, werdet ihr merken, dass sie sich stilistisch sehr von dieser hier unterscheiden. Diese Art der Wortkonstellation und Satzbauweise ist für mich ein Experiment, welches erst begonnen hat. Zum Sinn nochmal: ein Ding an sich ist kein Gift (ach, das ist aber nicht ganz neu), es gibt ne Menge Dinger, die zum Gift werden können, wenn nicht gar alle (auch das ist nicht neu).
Es muss auch nicht neu sein, es ist immer gültig.
Der Kern des Ganzen ist letztendlich der Gedanke des Prots. sich veräppelt zu fühlen, obwohl man doch weiß, was vor sich geht, obwohl man es eigentlich nicht weiß. Ich hoffe ihr könnt damit was anfangen und vielen Dank nochmal für die ausführlichen Antworten.
MfG.
Alex

 

Hi Alexander,
Traurigerweise ist das ein Teil unserer Kultur, nicht Goethe, nein wir Heutigen gestalten unsere Lebenskultur. Und der Konsumpegel steigt proportional mit unserer Unzufriedenheit, Vereinsamung, dem Zerfall der Familie und steigender beruflicher Belastung. Totzdem kann sich der Einzelne ein Stück weit heraushalten, die Löcher füllen mit guten Büchern, eigener Kreativität und vor allem die Glotze ausschalten oder noch besser, ganz abschaffen. Trotzdem wird der Konsumzwang nie ganz auszuschalten sein. Und ich fand mich schon mehrmals Sonntags an der Tankstelle, um für mindestens dem doppelten Preis, irgendeinen Mist zu kaufen, der ohnehin wieder nur krank macht und nicht satt. Satt im Sinne von zufrieden.
Gut geschrieben. :)
Gruß, Eusebia

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Zao,
anscheinend hast Du meine Kritik nicht richtig gelesen oder falsch verstanden, denn ich betonte, daß eben NICHT Goethe unsere Kultur ausmacht. Bei Deinen angesprochenen TV - Sendungen zur Wertung gegen die Abschaffung der Glotze, kann ich leider nicht mitreden, denn ich lebe seit gut zwanzig Jahren fernsehfrei. Ich habe nicht behauptet, daß gute Bücher und Fernsehen sich ausschließen! Nur birgt die visuelle Fertigsuppe eben gewisse Verblödungsgefahren. Mir fehlt´s jedenfalls nicht.
Gruß, Eusebia

 

Einigt euch darauf, dass Gothe gleich Kultur, aber Kultur nicht unbedingt gleich Goethe ist, und lasst das bitte nicht zur Diskussion über den Verblödungseffekt von Medien werden - das geht zur Not auch über PM. Zurück zur Geschichte!
;)
...para der Präventive

 

Okay, okay. Ich finde die Geschichte jedenfalls gut. Kultur hin und her. An Zao, wir müssen das nicht unbedingt ausdiskutieren. (Flüster: Kenne sogar den Film Apocalypse Now, es gibt nämlich noch Kino.)
Gruß, Eusebia

 

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