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Kurz vor Sonnenaufgang

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30.12.2002
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Kurz vor Sonnenaufgang

Kurz vor Sonnenaufgang

Der Absprung war geglückt. Er breitete die Arme und Beine aus und die kühle Nachtluft glitt zischend über die Ränder seiner Gleitflügel. Täuschend weit unter ihm lag die Gebirgskette und irgendwo in diesem schwarz aufragenden Massiv lag seine Einflugsschneise.
Er gewann Abstand zur grünen Wand und richtete sich nach dem Polarstern aus.
Die Berge rasten heran und er ging parallel zu ihnen, so gut er konnte. Neben ihm flog Niemandsland vorüber und dann der Wald auf seinem hohen Hügel, aber er war bereits außer Reichweite der gierigen Äste. Er hielt seinen Kurs besser als erwartet.
Dann war die Schneise heran und er stürzte sich kopfüber in den freien Fall. Die Berge um ihn herum wuchsen bis in schneegekrönte Höhen hinauf. Er glitt an kleinen Tälern, Bergen, Gletschern und Erhebungen vorbei und begann sich wieder nach Norden hin auszurichten, flog er doch gefährlich nahe an dem Schneisenrand entlang.
In großer Tiefe tauchten die mondbeschienen Schneekuppen einer neuen, unerwarteten und hohen Bergkette auf. Er steuerte entgegen, verlor aber die Kontrolle über seinen Fall und stürzte nahe an einer Bergspitze vorbei. Er gewann die Kontrolle zurück, war jedoch wieder zwischen die spitzen, hochaufragenden Felskuppen geraten.
Sich immer nach Norden wendend entfernte er sich immer weiter von den aufgetürmten Felsen neben ihm und bevor es ihm bewusst wurde, hatte er auch schon die neue Bergkette linksseitig überwunden und fiel an einem gewaltigen, eingefrorenen Gebirgssee vorbei.
Die Sterne zu seiner Rechten wurden von Schwärze verschlungen und spitze Schneeflocken flogen ihm ins Gesicht und ließen ihn erblinden. Böiger, sturmartiger Wind warf ihn zur Seite. Wieder verlor er die Kontrolle über seinen Fall. Seine Arme wurden hin und hergerissen; er überschlug sich zu mehreren Seiten hin und in seiner Angst dachte er, es wollte nie wieder aufhören zu kreisen und wartete auf den unvermeidlichen Aufschlag. Dann war plötzlich alles still. Keine Schneeflocken klatschten mehr gegen seinen Körper und auch der mörderische Wind war verschwunden.
Er stabilisierte sich und sah, als er die Augen öffnete, dass er die Wolkenwand durchbrochen hatte, die hinter ihm immer kleiner wurde, während der Himmel vor ihm in unermeßliche Weiten ging. Er drehte sich und steuerte wieder auf die Wolkenwand zu und ging dann parallel zu ihr.
Und plötzlich färbten sich die Wolken weit unter ihm rot und während er an der Wolkenwand entlang in die Tiefe flog, schob sich die Morgensonne darunter hervor und wurde zu dem ersehnten Boden, dem er entgegenfiel.

Gruß, Andreas

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Andreas,

deine Kurzgeschichte über einen waghalsigen Sturz mit einem Fallschirm über ein Gebirge gefällt mir gut. Vor allem die sprachlichen Umschreibungen in dem Text sind gelungen, und ich konnte mich die Berg- und Talkulisse anschaulich vor Augen führen.

Was aber ist mit deinem Protagonisten geschehen? Er verlor die Kontrolle, wartete auf den Aufschlag am Boden – stattdessen bleibt er jedoch parallel (?!) zu den Wolken in der Luft, ehe er in die Tiefe flog, der Morgensonne entgegen – müsste letztere nicht über ihn sein?
EDIT: Es geht ja um einen Sonnenaufgang. :idee:

Viele Grüße,

Michael :)

 

Hallo Michael,
schön, dass es dir gefällt. :)

Zu deinen Fragen:
Zuerst einmal handelt es sich nicht direkt um einen Fallschirm, sondern um einen dieser Gleitanzüge, die dem Springer Flugmembranen ähnlich eines Flughörnchens verleihen. Leider kenne ich die genaue Bezeichnung dieser Anzüge nicht.

Zudem fällt der Protagonist nicht gen Boden, sondern nach Osten, dem Sonnenaufgang entgegen. Deshalb fällt er bereits seit seinem Absprung parallel zum Boden und nicht erst zum Schluss.

Der Ausgang der Geschichte ist offen: Erreicht der Protagonist den "Boden", sprich: Die Morgensonne, oder zerschellt er doch irgendwann an der grünen Wand?
Eine explizite Antwort gebe ich als Autor nicht vor.

Gruß, Andreas

 

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