Kurz vor zwölf
Der alte Wächter ist müde. Doch wie im Schlaf schleppen sich die alten Füße die rauen Steinstufen empor. 30 Jahre sind sie diesen Weg gegangen, sie kennen jeden Absatz, jeden Riss im alten Gemäuer. Oben angekommen halten sie inne, der alte Mann stellt seine Lampe ab und fährt mit seiner Hand über sein verschwitztes Gesicht während er sich außer Atem an die warmen Wände der Kathedrale lehnt. Jedes Jahr fällt es ihm ein bisschen schwerer die vielen Stufen zu erklimmen, doch bisher ist er jeden Abend hier heraufgekommen, um einen wachsamen Blick über die Stadt zu werfen. Die knorrigen Hände umfassen das vertraute Geländer, früher wollte er nur für ein paar Monate bleiben, bis er eine besserer Stellung gefunden hatte, doch es gefiel ihm und aus Monaten wurden Jahre, er wurde älter und seine Chancen auf eine neue Stellung schwanden. Die Leute gewöhnten sich an seine raue Stimme, die sie jeden Abend in den wohlverdienten Schlaf rief. Der alte Mann holte tief Atem, gleich würde seine dunkle Stimme wieder über den Dächern seiner Stadt erschallen. In die engen Kaufmannsgassen, über den alten Marktplatz bis zur stolzen Burg dringen. Sein liebevoller Blick streifte über die sich niemals ändernden Dächer seiner Stadt.
Doch heute war alles anders. Sein gewohnter Ruf erstarb an seinen blauen Lippen, denn in den Fenstern des kleinen Theaters gleich rechts neben der Kathedrale sah er die roten Flammen eines Feuers tanzen. Er rieb seine alten Augen, konnte er seinem müden Blick noch trauen? Doch wahrhaftig das Theater brannte, schon sah er die ersten Flammen aus den Schiefern des Daches züngeln. Entsetzt hielt der alte Nachtwächter den Atem an, so etwas war noch nie dagewesen.
Er musste die Leute warnen, Hilfe holen, vielleicht drohten die Flammen auch die Kathedrale zu erfassen. Doch das Feuer bannte seinen Blick und lähmte seine Glieder. Während er auf dem Glockenturm der Kathedrale stand und ins sengende Feuer hinunterstarrte, kroch eine kalte Furcht an ihm empor. Er war nicht vorbereitet auf diesen Augenblick und er malte sich aus wie er mit hilflosen Gestottere versuchte die Leute zu alarmieren. Die meisten würden vermutlich weiterschlafen und falls doch welche kommen sollten, würden sie sich wahrscheinlich schrecklich über sein Gestammel amüsieren. 30 Jahre hatten seine Bürger stets mit großem Respekt zu ihm auf seinen Turm emporgeschaut, doch weil er heute nicht die richtigen Worte fand, würden sie von nun an johlend mit dem Finger auf ihn zeigen. „Schaut her, der alte Tattergreis, der beim kleinsten Feuer schon die Nerven verliert“! Der alte Mann ballte die Fäuste. Dies durfte nie passieren! Schon gar nicht bei einem so kleinen Feuer wie diesem, von hier oben wirkte es geradezu niedlich wie die Stützpfeiler des Theaters wie Streichhölzer einknickten und das Dach ähnlich wie bei einer zu lange gebackenen Pastete zusammensackte. Sollte man deshalb soviel Aufhebens machen und die braven Bürger und sich selbst aus der lieb gewonnenen Ruhe reißen?
Der alte Mann sog noch einmal kräftig die kühle Abendluft ein, dann erklang er wieder, sein fester Ruf über den Dächern der Stadt.