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Kurzer Abriss

Seniors
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11.06.2004
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1.057
Zuletzt bearbeitet:

Kurzer Abriss

Zuerst habe ich es gar nicht recht realisieren wollen. Ich habe gar nicht richtig darüber nachgedacht. Es ist passiert, gut, und ich habe es gesehen, auch richtig, aber begriffen, also so richtig durchdacht und alles, habe ich es nicht.
Sie ist einfach umgefallen. Wie alt war sie? Vielleicht knapp über sechzig. Sie saß am Fuß der Treppe. Auf der untersten Stufe - sie war nicht sehr groß. Sie saß am Rand. An die Mauer gelehnt. Mit ihrem schmutzigen rosa Anorak. Und einer Wollmütze. Wie? Ich weiß nicht mehr, welche Farbe die hatte.
Sie ist einfach umgefallen. Einfach so.
In ihrer Hand war so eine Plastikdose. Vielleicht so eine, wo normalerweise Eis drin ist. Welches? Keine Ahnung, woher soll ich das wissen? Und ich ging an ihr vorbei. Ich kam die Treppe herunter. Ich weiß noch, dass links an der Wand Werbung hing. Für irgendeine Metzgereikette. Ich weiß nicht mehr für welche, ich achte ja nicht auf so was. Und eine Ankündigung. Ein Musical oder so, aber du weißt ja, wie sehr ich Musicals hasse. Ich hatte es eilig. Ich sah auf meine Uhr. Ich weiß, wann meine U-Bahn fährt, ich hab alle Zeiten im Kopf. Und ich rannte an ihr vorbei und hab auf die Uhr gesehen.
Es war kalt. Schweinekalt. Ich hab extra meinen Mantel angezogen. Morgens hatte es noch ein wenig geschneit. Schneeflocken, die wie Asche aussehen. Aber ich trage keine Mütze. Das zerdrückt meine Frisur. Und ich darf meine Haare nicht zerdrücken. Ich muss ein gewisses Aussehen wahren. Was würden meine Kunden denn sagen?
Und als ich so an ihr vorbeilaufe, meinen Aktenkoffer in der Hand, da kippt sie einfach nach vorne auf den schmutzigen Boden. Ich erinnere mich noch genau an das Geräusch, das ihr Kopf gemacht hat, als er auf das Pflaster schlug. Ich dachte noch: Da hat irgendjemand eine schwere Einkaufstüte fallen lassen.
Ich dachte noch: Hoppla, was soll denn das? Es war mir fast ... - ach! Beinahe hätte ich mich nicht einmal umgedreht.
Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, dass auch die sterben. Und wie sie sterben. Und wo.

 

Hallo Jo!

Ich mach's kurz und knapp: Danke schön.

In diesem Sinne
c

 

Hi chazar,

habe mir fürs erste eine kurze von dir ausgesucht, wegen der späten/frühen Stunde.

Eine erschreckende,traurige Geschichte.
Du bringst mit guten knappen Worten, dass immer gleichgültiger werdende Verhalten der Menschen auf den Punkt.
Dein Prot geht einfach davon aus, dass die Person tot umgefallen ist.
Also, warum sich kümmern, ist ja eh nichts mehr zu machen.
Dabei könnte die alte Frau doch nur Ohnmächtig geworden sein, oder?

Habe etwas ähnliches selbst schon mal erlebt.
Ein Penner war rücklings von einer Bank, in den dahinterstehenden Busch gefallen. Der Mann war sehr groß sehr dick und sehr betrunken. Er lag wie ein fetter Maikäfer auf dem Rücken. Ich wollte ihn hochziehen, keine Chance.
Geholfen hat mir niemand. Habe den Krankenwagen gerufen.
Die Sanitäter sind auch nicht gerade nett mit ihm umgegangen.
Da habe ich gedacht, dass es für manche Menschen besser wäre zu sterben.
Auf der anderen Seite hätten sie bestimmt ein glücklicheres Sein.

Eine gute, zum nachdenken anregende KG.

lieben Gruß,col.

 

Hi Coleratio!

Da hatte ich schon fast alle Hoffnungen aufgegeben, dass ich hier noch mal eine Kritik lesen würde und dann kommst du...

Danke jedenfalls.
Ich habe nie eine derartige Situation erlebt, aber eine derartige Frau habe ich tatsächlich in einer Müncher U-Bahnstation sitzen sehen, auch an den Treppen, mit der selben schmutzigen Jacke. Ich fand diesen Anblick so unglaublich traurig. Normalerweise mache ich das nie, dass ich reale Figuren in meine Geschichten einbaue und ich habe es seither auch nie wieder gemacht, aber diese Frau ging mir nicht aus dem Kopf. Und sie tut es auch heute nicht.

Danke dir.

In diesem Sinne
c

 

Servus,

eine sehr schockierende Geschichte. Der Protagonist verhält sich gleich doppelt schändlich: Er versucht, sich vor einem Zuhörer/Leser für seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben und Sterben von Obdachlosen zu rechtfertigen. Gleichzeitig wird deutlich, dass er sich für diese Rechtfertigung schämt.
Das Denkmuster: Schäm dich für den Gedanken, dass du dich eigentlich für deine Gleichgültigkeit schämen solltest.

Sehr, sehr gelungen! Die KG erinnert mich in vielen Dingen an die "Zeugenschranken"-Szenen in Max Frischs "Andorra". Das finde ich toll! :thumbsup:

Gruß
Artnuwo

 

na aber hallo, chazar!

Aber ich trage keine Mütze. Das zerdrückt meine Frisur.
das fand ich sehr toll.

Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, dass auch die sterben. Und wie sie sterben. Und wo.
auch sehr schöner letzter absatz.

wie war es anders zu erwarten:
chazar, ich bin begeistert.
du schreibst so gut, dass man, selbst in so nem winzigen text, sich alles gut vorstellen kann.
du baust selbst in kurzen texten eine tolle atmosphäre auf.

Bis bald,
Tama

p.s.: du musst dich geehrt fühlen, meine erste geschichte in alltag, die ich lese. ;)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi ihr zwei!

@Artnuwo: Schön, dass meine Intention so gut rüberkommt.
Ich hab Andorra noch nicht gelesen, steht aber auf meiner Wenn ich mal zu viel Zeit hab Liste. (Ja so eine hab ich...)
Danke, ein sehr schönes Kompliment...

@Tama:

chazar, ich bin begeistert.
du schreibst so gut, dass man, selbst in so nem winzigen text, sich alles gut vorstellen kann.
Ich zitiere das unter anderem deshalb, dass man es gleich noch ein zweites Mal lesen kann. :D
Vielen, vielen Dank.
Und ich fühle mich geehrt.

In diesem Sinne
c

 

Hi Blackwood!

Also ganz ehrlich: deine Kritiken freuen mich sehr - auch wenn das erst die zweite ist, die ich von dir lese.

Ich mag keine allzu kurzen Texte.
Ich auch nicht. Aber diesen hier mochte ich schon. Ein alter Festplattentext, den ich nicht verkümmern lassen wollte.

ielleicht braucht es eine größere Anzahl 'kurzer Anrisse', um die Haltung dauerhaft zu verändern. Du verstehst?
Sehr gut sogar. Ich sehe das haargenauso.

„Khazar“ (eigentlich Darya-e Khazar, Darya-e ist ‚Gewässer’) ist der persische Name fürs Kaspische Meer. Ob der Wortstamm der selbe ist wie in „Kasper“ (nee, natürlich der Name Caspar), kann ich nicht sagen, scheint aber wahrscheinlich. Mein alter Lateinlehrer – Sprachprofi – wüsste es sofort.
Nette Info, vielen Dank. Kann ich ab jetzt damit angeben. :D

Es passt besser in die eigentlich doch atemlose, da eben erlebte Erzählweise, wenn da nur steht: Es war kalt.
Stimmt, wird verbessert.

In diesem Sinne
c

 

Hallo chazar,
super Text. Kurze Sätze. Und eine glaubhafte lebendige Sprache des Prots. :thumbsup:
Nur eine Kleinigkeit.

Ein Musical oder so, aber du weißt ja, wie sehr ich Musicals hasse.

Die Stelle würde ich ändern, oder hat es einen bestimmten Grund, dass Du da jemanden, der Dich auch kennt, konkret ansprichtst?

Mit bestem Gruß
falky

 

Hallo Falky!

Dieser Text bereitet mir sehr viel Vergnügen, weil alle ihn schön finden. Dabei war ich mir anfangs richtig unschlüssig, ob ihn überhaupt jemand lesen will... So kann es gehen...

»Ein Musical oder so, aber du weißt ja, wie sehr ich Musicals hasse.«
Die Stelle würde ich ändern, oder hat es einen bestimmten Grund, dass Du da jemanden, der Dich auch kennt, konkret ansprichtst?
Nein, es gibt da niemanden, den ich konkret anspreche. Aber der Prot spircht mit jemandem.
Die Stelle werde ich so lassen.

Vielen Dank.
Man liest sich
c

 

Hallo chazar!

Hat auch im mir im Großen und Ganzen gut gefallen. Du vermittelst Stimmung. Was mir weniger gefallen hat, war auch dieses direkte Ansprechen. Da im Text kein Gegenüber ist, fühlt man sich als Leser angeprochen. Allerdings an Stellen wie

Und einer Wollmütze. Wie? Ich weiß nicht mehr, welche Farbe die hatte.
Vielleicht so eine, wo normalerweise Eis drin ist. Welches? Keine Ahnung, woher soll ich das wissen?
oder so, aber du weißt ja, wie sehr ich Musicals hasse.
finde ich die Fragen, die mir da in den Mund gelegt werden, ziemlich unmöglich. Nein, ich würde nicht nach der Farbe der Mütze, nach der Eissorte fragen und ich weiß auch nicht, ob der Prot Musicals mag oder nicht, es ist mir auch egal.
Fragen an den Leser sind nicht verboten, aber diese Fragen verärgern mich. Vor allem, weil ich keinen Grund sehe, warum Du sie einbaust. Warum sprichst Du den Leser an?

Wenn das nicht wäre und die Gleichgültigkeit an manchen Stellen nciht shcon Klischeeartig rüberkommen würde, wäre ich hellauf begeistert.

schöne Grüße
Anne

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Anne!

Na, so hat eben jeder seinen eigenen Geschmack. Ich werde das nicht ändern, es war auch nicht meine Intention, den Leser anzusprechen, sondern sozusagen nur die eine Seite des Dialogs aufzuschreiben. Und der fiktive andere, mit dem unser Prot spricht, fragt eben komische Fragen.

Danke für deine Meinung.

In diesem Sinne
c

 

Hallo Lukas!

Exakt. Das war auch mein Gedanke.
Ich hoffe jetzt einfach mal, dass es dir auch gefallen hat - du schreibst nichts darüber.

alla mohl auch dir (ich hoffe, ich hab dich nicht beleidigt...)
In diesem Sinne
c

 

Hi Chazar,

gibt es eigentlich irgendwas, das du nicht schreiben kannst?

Wie manche andere, bin ich auch kein Fan von kurzen Geschichten. Meistens fehlt dann doch irgendetwas.
Du schaffst es hier eine Szene zu erzählen, die trotzdem eine Geschichte wird. Deinen Prot. kann man sich richtig vorstellen - so der Typ erfolgreicher Geschäftsmann, der sich um nichts anderes mehr kümmert.

Den Endsatz fand ich besonders schön...

Die Verliebte *g*
Bella

 

Hi Bella!

Ähm, gibt es irgendwas von mir, das du noch nicht gelesen hast?

gibt es eigentlich irgendwas, das du nicht schreiben kannst?
Jupp, ne Ganze Menge - aber ich verstelle mich gut.

Danke dir für das Lob - mal wieder.
Und ja, ich mag auch keine kurzen Geschichten. Meistens jedenfalls nicht. Es gibt aber ein paar Ausnahmen.

In diesem Sinne
c

 

Hier kann man sich so richtig seinen Kommentar aus dem zuvor schon gesagten zusammenbasteln. Ja, der Text ist kurz und ein wenig unbefriedigt läßt er mich dann doch zurück, obwohl ich erstaunt bin, welche Kraft er dann doch entwickelt. Die Unzufriedenheit resultiert aber weniger aus der Kürze, als aus dem Gefühl heraus, daß Du das an manchen Stellen noch besser machen könntest.

Der Verweis auf Frischs Andorra, die Sequenzen zu Beginn der Bilder, ist m.E. berechtigt. Die Erzählung klingt wie eine Rechtfertigung und wirkt deshalb entlarvend.

Die Kritik von Maus, nach den vom Leser implizierten Fragen, kann ich voll und ganz unterstützen. Ich verstehe ihre Funktion, hielte es aber für besser, wenn der Protagonist sie sich selbst stellte. Also zum Beispiel an der Stelle

Mit ihrem schmutzigen rosa Anorak. Und einer Wollmütze. Wie? Ich weiß nicht mehr, welche Farbe die hatte.

alternativ:

Mit ihrem schmutzigen rosa Anorak. Und einer Wollmütze. Wenn ich mich nur erinnern könnte, welche Farbe die Mütze hatte.

Ich hoffe, es wird daraus verständlich, was ich meine: Die Frage, die niemand gestellt hat, ist für die Erzählerin von Interesse.

Gerne gelesen.

 

Hi cbrucher!

Danke fürs Lesen.

Die Kritik von Maus, nach den vom Leser implizierten Fragen, kann ich voll und ganz unterstützen. Ich verstehe ihre Funktion, hielte es aber für besser, wenn der Protagonist sie sich selbst stellte.
Das ist sicher eine berechtigte Kritik, aber ich teile sie so leider nicht. In der jetzigen Form gefällt mir der Text besser. Trotzdem Danke für deine Meinung.

Grüße
c

 

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