Lächelnde Fahrräder
Der Sommer war der letzte mit den Freunden und der erste ohne sie. Einer nach dem anderen verließ die Stadt. In meine anfängliche Freude über die beendete Schulzeit mischte sich die Trauer des Bewusstseins, dass es früher oder später mindestens genau so geregelt zugehen werde und ich war mir ziemlich sicher, dass dies der vielbeschworene Ernst des Lebens sei.
Ich verließ die Wohnung und fuhr in den Park. Achtlos warf ich mein Rad auf die Wiese und lief einen kleinen Hang hinab.
Meine Füße trugen mich immer schneller zu dem Platz, an dem ich so oft mit meinen Freunden gesessen hatte. Es war kein besonders auffälliger Ort. Etwas versteckt unterhalb der großen Wiese, lag er direkt am See. Die Erinnerungen an die letzten Jahre, ja, selbst die Gedanken an diesen Sommer, holten mich wieder ein. Deshalb war ich hierher gekommen und doch wurde ich zunehmend trauriger. Es war nicht mehr der Ort den ich kannte. Niemand lag da und wartete. Die Wasseroberfläche war glatt und nicht einmal der Wind traute sich zu wehen. Ein perfektes Nichts, grün und saftig, klar und glänzend, still und ruhig, bot sich mir dar. Ich nahm einen kleinen Stein von der Wiese, schleuderte ihn in die Luft und schaute zu, wie er mit einem leisen Pfeifen im Wasser landete. Er wurde sofort begierig von ihm geschluckt. Die kleinen Wellen verliefen sich schnell und auch die Enten schien das alles nicht zu stören. Sie zogen ihre Bahn als wäre nichts geschehen.
Frisbeescheiben, die vielen Fahrräder die auf der Wiese lagen, Musik, der Geruch von gegrillten Würstchen, das Gefühl, wenn ich an einem warmen Sommerabend zuviel Wein getrunken hatte, das Gewirr der Stimmen, das Schweigen am Feuer, Sonnenauf- und Sonnenuntergang, all das bemächtigte sich meiner Gedanken und in dieser ebenso wirren wie phantastischen Ansammlung von Gefühlen, Gerüchen und Lauten lag ich da und träumte.
„Verfluchtes Fahrrad!“
Eine wütende Stimme holte mich schneller als mir lieb sein konnte in die Realität zurück.
„Wem gehört dieses verdammte Fahrrad?“ schrie die unbekannte Stimme erneut.
Ich rappelte mich langsam den Hang hinauf.
„Und wieso liegt dieses Ding hier mitten auf der Wiese?“ fuhr die Stimme fort.
Kurz darauf blickte ich in das Gesicht eines Mädchens, aus dessen Mund noch immer unaufhaltsam ein Schwall Wörter sprudelte.
„Ist wohl dein Haufen Schrott, den ich da übersehen habe?“ fauchte sie mich an und deutete mit ihrer Hand auf etwas, das vorher mal mein Fahrrad gewesen sein mochte.
„Aber es hat immer hier gelegen.“ versuchte ich mich zu rechtfertigen. „Und früher lagen noch viel mehr von denen hier.“
„Es ist mir egal was früher war und überhaupt – warum liegt denn mitten in der Wiese ein verfluchtes Fahrrad.“
Ihre Wortwahl war zwar noch immer dieselbe, aber die Wut in ihrem Tonfall hatte sich in ungläubiges Entsetzen gepaart mit hilflosem Fragen verwandelt.
„Weil, na weil da unten doch unser Platz ist.“ versuchte ich ihr zu erklären. „Und wieso fährst Du überhaupt mitten über die Wiese?“
„Ich wollte an den See, wenn es Dir recht ist. Und falls Du jetzt fragen solltest, warum ich gerade an dieser Stelle ans Wasser wollte, wenn doch da vorn der Weg bis ran führt, dann spar Dir das.“
„Ich hatte nicht vor Dich danach zu fragen, aber seltsam ist es schon, findest Du nicht?“ gab ich zu bedenken.
„Ja, mindestens wohl genauso seltsam wie im Gras herumliegende Fahrräder!?“
Ich wusste nicht was ich ihr darauf erwidern sollte und setzte mich schweigend neben sie. Ich atmete ein oder zwei Mal laut ein und aus, in der Hoffnung sie zu irgendeiner Reaktion zu bewegen. Nichts geschah. Ihr Schweigen durchbrach unaufhörlich die Stille.
„Kann ich Dir irgendwie helfen.“ fragte ich vorsichtig.
„Mir ist nichts passiert, aber ich fürchte, meinem Rad hingegen schon. Kannst ja mal nachsehen.“ sagte sie trotzig.
Ich stand auf und schaute es mir genauer an.
„Wir haben da jetzt wohl einen grünen und einen gelb-blauen Schrotthaufen.“ rief ich ihr zu.
„Auf diese schlechten Witze kann ich verzichten.“ sagte sie.
„Tut mir leid, aber ich fürchte, das ist die Realität.“
„ Das ist eine verfluchte Realität hier.“ rief sie und lies sich zurück ins Gras fallen.
‚Genau, das hier ist eine verfluchte Realität‘ stimmte ich ihr innerlich zu.
Wenig später trotten wir schweigend durch den Park. Die Stille wurde nur vom rhythmischen Quietschen unserer beiden verbeulten Räder durchbrochen, die abwechselnd den Takt anzugeben schienen.
Kurz vor dem Ende des Parks, als die grauen Häuser der Stadt schon wieder zwischen den Wipfeln der Bäume hindurch zu lugen begannen, trennten sich unsere Wege.
„Eine gute Fahrt brauche ich Dir wohl nicht zu wünschen.“, sagte ich und blickte auf ihr Vorderrad. Von oben gesehen machte es einen kleinen Bogen in meine Richtung, um wenige Zentimeter danach wieder umzukehren. Es schien, als würde es mich anlächeln, kurz, ganz kurz nur.
‚Wenn Fahrräder ganz sind, lächeln sie nie‘, war ich mir sicher.
„Ich Dir aber auch nicht“, sagte sie und riss mich erneut aus meinen Träumen.
„Also, ich muss dann, schieben dauert ja auch länger als fahren.“ sagte sie und ohne das ich etwas entgegnen konnte, entfernte sich das Quietschen langsam. Kurz darauf war es nicht mehr zu hören.
Ich stand noch immer an der Stelle, wo sie sich verabschiedet hatte und schaute mich ziellos um. Mein Blick fiel auf mein Rad. Es war genau so verbeult wie ihres und es lächelte auch.