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Lilly fängt Träume
Lilly fängt Träume [überarb.]
Tim kann nicht schlafen. Immer wieder wälzt er sich im Bett herum, bald nach rechts, bald nach links – müde wird er nicht. Ganz im Gegenteil, das muntert ihn auf, was ihn um so mehr ärgert. Er will endlich einmal vom Sandmännchen träumen, das von Land zu Land und von Ort zu Ort reist, um allen Kindern Schlaf zu schenken, und viele aufregende Geschichten hört.
Seufzend stützt Tim den Kopf auf die Hände und betrachtet den Sternenhimmel. ‚Wie wär es erst, wenn der Sandmann von da oben hinunter kommen und mir Gute Nacht wünschen würde?’, denkt er. Es wäre ein wahres Glück, und seine Freunde würden bestimmt staunen.
Da bemerkt Tim einen Stern, der sich bewegt und irgendwie näher kommt. Was ist das? Der Stern scheint wirklich zu ihm hinunter zu schweben, nein, er fliegt sogar atemberaubend schnell. Ist es wahrhaftig das –? Tims Herz beginnt zu pochen. Bald erkennt er, dass in diesem Stern etwas ist, etwas Lebendiges. Tim strahlt übers ganze Gesicht. Egal, wie sein Wunsch auch in Erfüllung gegangen sein mag, jetzt ist er gespannt wie ein Flitzebogen.
Dann ist Tim doch verdutzt, um nicht zu sagen, sogar ein bisschen enttäuscht. Es ist nicht das Sandmännchen, sondern ein Mädchen in einem weißen Kleide, das wie ein Gespenst durch das Glas schlüpft und sich auf den Fenstersims setzt. Es lässt seine Füße baumeln und scheint ein bisschen zu verschnaufen. Aber dann sagt es mit einer lieblichen, samtenen Stimme: „Hallo!”
„Hallo ... Wie heißt du?”, fragt Tim.
„Ich heiße Lilly!”, sagt es freundschaftlich und fügt dann hinzu: „Ich bin gekommen, um mich bei dir zu entschuldigen.”
„Warum willst du dich bei mir entschuldigen?”, fragt Tim verwundert.
„Weil ich dir keine Träume mehr fangen kann”, sagt Lilly mit dem Blick nach unten. „Mein Kescher hat ein Loch”, erklärt sie und zaubert flugs ein kescherartiges, glitzernes Dingsbums hervor, das ganz offensichtlich ein Loch hat, ein ziemlich großes dazu. Wahrhaftig, damit kann sie keine Träume mehr fangen.
Tim wird einiges klar. „Ich verstehe jetzt unser Problem”, sagt er. Aber plötzlich kommt ihm eine Idee, und gespannt fragt er: „Kennst du das Sandmännchen?”
„Na klar!”, ruft sie, „Das ist mein neuer Kollege. Ich bin ja erst seit Kurzem bei der Traumfängerei, und er hat sich mir sehr freundlich vorgestellt.”
„Er ist nicht nur nett, sondern soll auch sehr weise sein”, erklärt Tim, „Vielleicht weiß er Rat, wie der Kescher zu flicken ist.”
„Na, worauf warten wir dann noch?”, freut sich Lilly und verwandelt den kaputten Kescher geschwind in eine Art Fluggerät.
Lillys Zauberkünste überraschen Tim schon genug, doch die plötzliche Erscheinung verwirrt ihn völlig: Zwei Polstersitze, die an einem Paar Flügel festgebunden sind.
„Damit kann man fliegen?”, fragt Tim argwöhnisch, aber Lilly lacht nur.
Es geht hoch hinauf. Über die lichterne Stadt, über Feld und Länder, und das weite, schwarze Meer. Es ist so windig, dass es Tim und Lilly das Haar zerzaust. Aber bald ist Stille; um sie herum stehen Millionen von Sternen. Jeder von ihnen, das erkennt Tim plötzlich, enthält irgendetwas Merkwürdiges: Reigen tanzende Musiknoten, verknotete Fieberthermometer, Regentonnen mit Zipfelmützen, Hundskatzen mit Schweinsnasen, gefesselte Grabwichte, Hexengestalten, Teddybären, kurzhalsige Kuschelgiraffen, Pfeife rauchende Elfen, rosablaue Kaugummibäume und was weiß der Himmel noch alles.
„Das alles sind Träume, die wir fangen”, erzählt Lilly stolz, während Tim sich umsieht und Bauklötze staunt.
„Und meine, meine Träume sind auch darunter?”, ereifert sich Tim. „Alle Träume”, versichtert Lilly geheimnisvoll und dann, kichernd, ruft sie: „Gleich sind wir da!”
Es dauert aber noch ein ganze Weile, bis sie die weiße Hütte des Sandmännchens auf einer Wolke vorfinden. Und Tim hickst vor Freude, denn auf der Bank vor dem Häuschen sitzt dasselbe gerade und strickt.
Da blickt der kleine Mann schon auf und erhebt sich lächelnd zur Begrüßung.
„Hallo, meine Lilly”, brummt er, als sie gelandet sind. „Wen hast du uns da mitgebracht?”
„Ich bin Tim!”, nimmt dieser das Wort an sich, schließlich ist er glücklich und da darf man das.
„Er kann nicht schlafen”, erzählt Lilly, „und das hat mir leidgetan. Mein Kescher hat nämlich ein Loch und so kann ich für Tim natürlich keine Träume fangen.”
„Ach...”, erwidert der Sandmann und legt den Kopf schief. Er schaut in die Ferne und murmelt vor sich hin, während er sein Barthaar um die Stricknadel zwirbelt. Aber plötzlich kommt ihm wohl ein guter Gedanke. Er strahlt über das ganze Gesicht und bricht schließlich in ein schallend' Lachen aus.
„Ja natürlich!”, ruft er freudig aus. „Wie kann es anders sein? Was meint ihr denn, wie ich mich darüber gewundert habe. Literweise Schlafsand habe ich auf dich geschüttet, Tim. Aber nach jedem Handvoll musste ich feststellen: ‚Potzblitz, ist der Junge denn immer noch wach!?’ Leider hatte ich irgendwann den ganzen Sand verbraucht, und aus Wut habe ich den Sack in eine Mülltonne geworfen. Deswegen sitze ich ja nun hier und stricke mir einen Neuen.”
„Warum konnte ich denn nicht schlafen?”, will Tim endlich wissen.
„Ach, das ist ganz einfach, komm einmal her. Lilly, gib mir doch kurz deinen Kescher... Danke. Also schau: Hier, die kleinen glitzernden Fäden, die ganz dicht und fein wie Seide miteinander verwoben sind, siehst du sie? Was meinst du, wie sie heißen?” Da Tim nur mit den Schultern zuckt, sagt es das Sandmännchen selbst: „Das sind Glückssträhnen.”
„Glücksträhnen?!”
„Ja. Das Netz besteht also aus Glück.”
„Und warum hat das Glück ein Loch?”, fragt Tim staunend.
„Das kann nur eines sein:”, erwidert der Sandmann mit dem Brustton voller Überzeugung. „Der unbeugsame Wille! Wolltest du nicht unbedingt einschlafen, um von mir zu träumen? Wolltest du die Müdigkeit nicht buchstäblich herbei zerren?”
„Ja, das wollte ich”, murmelt Tim, ein bisschen betreten. „Aber das habe ich doch nicht gewusst!”
Da lacht der Sandmann abermals. „Ja, freilich! Und dieses Problem ist gar nicht mal so selten, ich habe schon einige Träumekescher flicken geholfen. Das Ding ist eben, dass das Glück den Willen meidet wie Katzen das Wasser.”
Tim und Lilly sehen sich an. Das ist nicht leicht zu verstehen.
Der Sandmann nimmt das Strickzeug wieder zur Hand, das er vorher kurz abgelegt hat, und fährt fort:
„Ihr wisst ja, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Das gilt für die Schule, das gilt manchmal fürs Spiel. Aber eben nicht immer, vor allem, wenn es ums Schlafen geht –”
„Dann müssen wir Glück haben!”, unterbricht Tim eifrig.
„Aber nein, nein, wo denkst Du hin! Das Glück mag kein Muss im selben Satz, ist es doch scheu und lässt sich nicht bitten. Sag einfach: Du hast Glück, wenn du Glück hast. Nicht mehr und nicht weniger.”
„Ahja, hmm...”, sagt Tim nachdenklich.
Dann kommt der Sandmann beschwörend mit dem Gesicht an Tims und raunt: „Das beste ist, du willst gar nicht schlafen! Dann wachst du gewiss morgens auf und erkennst, dass du es dennoch getan, und vielleicht sogar geträumt hast. Das Loch in Lillys Kescher wird zuwachsen und sie kann dir wieder schöne Träume bringen.”
Da fasst Tim Hoffnung und muss lächeln. „Das werde ich tun!”, ruft er, „Ich werde wieder nach Hause fahren. Und wenn ich im Bett liege, werde ich nicht auf mein Glück warten und einschlafen wollen, damit ich von dir träume. Der Schlaf soll kommen oder auch nicht, auch wenn ich die ganze Nacht wach liege.” Und kichernd fügt er hinzu: „Dann muss ich am nächsten Tag vielleicht nicht in die Schule...”
Und so beenden sie die Zusammenkunft. Der Sandmann zeigt Tim noch den Schlafsand in dem großen Kristallkübel, in welchem er ihn zubereitet, und dann verabschiedet er die Kinder. Er winkt ihnen noch ein Weilchen, während sie zur Erde zurück kehren.
Allmählich verblasst alles. Schließlich öffnet Tim die Augen und blinzelt der Sonne zu. ‚Heute werde ich doch zur Schule gehen’, sagt er zu sich selbst. Er reckt und streckt sich, der Tag kann kommen.