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Momentaufnahme

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10.08.2022
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Momentaufnahme

Es ist nachts. Halb drei. Ich liege im Bett, starre in die Dunkelheit. Dabei ist es nicht ganz dunkel, nicht schwarz – das hätte vielleicht etwas Tröstendes – sondern eher ein diffuses Grau, das Schemen gut erkennen lässt. Der Rollladen, auch ganz nach unten ausgefahren, kann die Lichter von draußen nicht komplett abschirmen. Ich schließe die Augen. Noch schlimmer. Noch weniger schwarz, dafür Farben und Formen, Umrisse, die sich vor meinen Augen formatieren, bewegen, sich auflösen, um neuen Platz zu machen. Etwas wie bei diesen Kaleidoskopen, die man als Kind, in billigen Plastikdosen betrachten konnte. Doch es ist nicht die fehlende Dunkelheit, die meinen Kopf dröhnen lässt, es sind die Gedanken. Gedankenfetzen, die wild durcheinanderrufen. Manchmal konzentriere ich mich darauf, sie zu zählen, denn wenn ich weiß, wie viele Gedankenebenen es gibt, könnte ich sie vielleicht besser im Zaum halten. Aber die Aufgabe scheint unlösbar. Wenn ich mir eines wünschen dürfte, nehmen wir an, eine Fee gäbe mir einen Wunsch frei, ich würde mir Urlaub aus meinem Kopf wünschen. Einfach einmal NICHTS denken, in einer alles durchdringenden Ruhe versinken. Keine Gedanken an Vergangenes, an das Jetzt, an die Zukunft, keine Querschläger, die wahllos anfangen zu zählen, kein Ohrwurm, keine Stimme, die mich selbst anspricht, keine Stimmen, die sich gerade um etwas streiten, keine Stimme, die sich laut Ruhe wünscht und das Gegenteil erzeugt. Bewusste Bewusstlosigkeit sozusagen.

In meinem Brustkorb wird es eng. Ich merke, wie Panik in mir hochsteigt. Ganz leise, fast schleichend bahnt sie sich ihren Weg durch meinen Körper. Doch ich kenne sie zu lange, als dass sie sich vor mir verstecken kann. Nur in ihrer Schnelligkeit ist sie mir manchmal voraus. Heute nicht. Ich versuche, sie zuzulassen und genau hinzuspüren. Sie ist nun in meinem Kopf angekommen, es fühlt sich heiß und kalt zugleich an, ein wenig so, wie wenn man lange nicht geraucht hat und der erste Zug der Zigarette einen Nikotinflash im Kopf auslöst, der einen kurz glauben lässt, dass man gleich umkippe. Ich kippe nicht um, das weiß ich. Stattdessen greife ich zu meinen Tabletten neben mir auf dem Nachtisch. Das wars dann mit dem Beobachten und Aushalten, denke ich mir. Beim nächsten Mal dann. Beim Öffnen der Tablettendose zittere ich so sehr, dass mir gleich drei auf die Hand und eine auf den Boden fällt. Es ist eben knifflig, wenn die zitternde rechte auf die zitternde linke Hand trifft. Ich widerstehe der Versuchung gleich alle drei zu nehmen und schließe die Dose wieder. „Beruhigen, beruhigen, beruhigen“, sage ich mir. Und das mit der ersten Gedankenstimme. Ich setze mich auf. „Beruhigen, beruhigen, beruhigen“. Dann überlege ich, welche vier Dinge kann ich sehen, welche drei fühlen, welche zwei hören und was kann ich riechen. Ich weiß, dass die Übung albern klingt, ich selbst finde mich albern, während ich dabei bin, aktiv meinen Ring am rechten Ringfinger fühlend wahrzunehmen. Es ist schwer, die erste Gedankenreihe vorne zu lassen, das „ich bin albern“ nicht zu präsent werden zu lassen, weil „ich bin albern“ ist zu kurz und lässt die Panik dankend wieder herein. Ich habe die Übung zu schnell ausgeführt und fange noch mal von vorne an. Dieses Mal ist es deutlich schwieriger.Ich glaube, ich bin für sowas gut geeignet. Als Kind habe ich mir selbst Aufgaben gestellt und diese so ehrgeizig erfüllt, als ginge es um etwas außerhalb von mir. „Ich muss, bevor der Bewegungsmelder ausgeht, die achte Stufe erreicht haben“, „Ich muss, bevor Mama mich ein zweites Mal ruft, unter der dritten Lampe stehen“, „Ich muss das Auto, das mich gerade überholt hat, bis zur roten Ampelphase eingeholt haben“. Ich denke, man erkennt ein Muster, und auch ein wenig den Grund, warum ich gerade unbedingt einen zweiten Geruch finden muss. Ich merke langsam, wie die Anspannung etwas weniger wird.

Ich stehe auf und laufe in die Küche, öffne das Fenster, setze mich auf die Fensterbank und zünde mir eine Zigarette an. Meine Hand zittert noch immer, was nervig ist, weil ich sehr aufpassen muss, dass mir die Zigarette nicht aus der Hand und nach unten fällt. Dann würde sie nämlich auf dem Balkon von Valerie und Frieder landen und naja, eventuell wurde sich darüber letztens freundlich, aber bestimmt beschwert. Wobei, die Beschwerde hatte mir imponiert. Valerie klingelte bei mir, sprach das Problem kurz an und zog dann einen Aschenbecher hervor, den sie mir schenkte. Das finde ich einen sehr pragmatischen und lösungsorientierten Ansatz. Ich entschuldigte und bedankte mich. Dass es nicht an einem fehlenden Aschenbecher lag, erklärte ich ihr nicht. Wie auch?

Ich ziehe an der Zigarette, höre das Verglimmen der Glut, beobachte, wie der Rauch sich in sich selbst umwickelnden Kreisen nach oben zieht, bis er sich schließlich auflöst. Auflösen, ein schönes Wort, denke ich mir. 1. Auflösen und etwas ist weg oder 2. Auflösen und etwas – meist eine Lösung – ist da. Ich merke, wie ich deutlich ruhiger werde. Ich halte kurz inne, dann inhaliere ich einen großen Zug, beinahe achtsam. „Achtsames Rauchen“, denke ich. Der Nachthimmel ist sternenreich, nur an manchen Stellen von seichten Wolken überdeckt. Ich wünschte, ich wäre irgendwo, wo es keine Lichter gäbe, wo die Dunkelheit und das Sternenzelt so imposant sein müssen, dass es einem den Atem verschlägt. So jedenfalls stelle ich es mir aus den Dokus über Afrika vor. Ich glaube, in so einem Moment fühlt man sich, obwohl die eigene Unwichtigkeit seiner Existenz so klar vor Augen, lebendig. Resonanz, würde Dr. Hartmut Rosa dazu sagen. Alltag ist das Gegenteil von Resonanz. Ich weiß nicht, ob Herr Rosa da mitgehen würde, aber für mich ist es so. Wie soll man in den immer gleichen Routinen, im Trott der Arbeit und der wenigen Zeit für Privates, das eben auch zumeist irgendwie durchgetaktet ist, Resonanz erfahren? Andererseits: „Es schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort“, schießt es mir plötzlich durch den Kopf. Ein Hoch auf Frau Witte und ihren Deutschunterricht. Kurz denke ich über diesen Leitspruch nach. Das Zauberwort muss wohl in einem selbst liegen und ich glaube, in mir liegt aktuell gar nichts, und schon gar kein Zauberwort. Vielleicht habe ich das Gedicht auch nicht mehr ganz richtig im Kopf, ich nehme mir vor, morgen mal eine Interpretation dazu zu lesen. Die Zigarette ist verglimmt, sicherheitshalber drücke ich sie zusätzlich noch am Aschenbecher aus. Kurz bleibe ich noch sitzen, der kalte Nachtwind lässt mein zu großes T-Shirt etwas flattern, ich bekomme Gänsehaut. Aber es fühlt sich gut an, so als würde die klare, kalte Luft meinen erhitzten Kopf beruhigen. Ein kleiner Anflug oder besser gesagt, eine Ahnung von Ruhe überkommt mich.

Ich schließe das Fenster, stehe auf und laufe auf Zehenspitzen wieder ins Bett – nicht weil ich besonders leise sein will, sondern weil ich keine Socken trage und die Fliesen durch das offene Fenster deutlich an Temperatur verloren haben. Durchgefroren kuschle ich mich ins Bett. Ich mag mein Bett. Trotz der vielen schlaflosen Nächte hier, trotz der vielen Tränen. Meine Bettdecke ist dick. Was jetzt im Winter naheliegend erscheint, aber ich behalte sie auch im Sommer. Ich mag das Gefühl der Geborgenheit, das sie mir vermittelt. Ich ziehe die Decke bis ganz nach oben, achte darauf, dass sie meinen ganzen Körper dicht umschließt. Mein Blick fällt auf die Uhr, Viertel nach vier. Wenn ich jetzt aufstehen würde, könnte ich so viel erledigen. Da meine To-do-Liste seit quasi zwei Wochen nur neue To-dos und keine Haken bekommen hat, hätte ich sogar relativ viel Auswahl. Wobei „Rechnungen begleichen“ das Dringlichste wäre. Wieso fehlt mir zu alldem momentan einfach die Kraft? Ich nehme mir schon so wenig vor und scheitere dann doch jeden Tag. „Morgen dann“, sage ich mir, und glaube es sogar wirklich ein bisschen. Je mehr die Wärme in meinen Körper steigt, desto müder werde ich. Jetzt, in dem Moment, ist mein Kopf moderat laut, die vielen, sich überlappenden Gedanken, das Dröhnende sind verschwunden. Ich merke, wie ich mehr und mehr in Schlaf verfalle und denke: „Morgen dann!“, dann schlafe ich ein.

 
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Hey Tigris8!

Ich hab deinen Text gern gelesen und finde ihn als Momentaufnahme - wie es der Titel ja auch bereits aussagt - auf jeden Fall gelungen. Für eine Kurzgeschichte passiert mir da wiederum etwas zu wenig bzw. ist mir das Ganze etwas zu unfokussiert und Gedankenstrom-artig.
Ich mag durchaus dieses Kleinteilige, dieses Auserzählen von vermeintlich unbedeutenen Details wie diesen

und laufe auf Zehenspitzen wieder ins Bett – nicht weil ich besonders leise sein will, sondern weil ich keine Socken trage und die Fliesen durch das offene Fenster deutlich an Temperatur verloren haben.
gerne und finde, du beschreibst diese auch gut.

Auch sind für meinen Geschmack schöne Gedanken/Betrachtungen/Überlegungen wie diese hier dabei:

Auflösen, ein schönes Wort, denke ich mir. 1. Auflösen und etwas ist weg oder 2. Auflösen und etwas – meist eine Lösung – ist da.

Ich würde aber sagen, diese sind eher assoziativ und erzählen mir oft nicht viel über den Protagonisten, seine Situation und was denn nun tatsächlich seine Angst ausmacht. Dadurch bleiben das Wesen/die Hintergründe dieser Angst für mich etwas abstrakt.

Ein bisschen Kleinkram:

Es ist nachts. Halb drei.
Als Einstieg in eine Kurzgeschichte vielleicht nicht so spannend.

ein diffuses grau
"ein diffuses Grau", oder?

Ich habe die Übung zu schnell ausgeübt
Weiß nicht, ob ich diese Wortdoppelung so schön finde.

„Ich muss bevor der Bewegungsmelder ausgeht, die achte Stufe erreicht haben“, „Ich muss bevor Mama mich ein zweites Mal ruft, unter der dritten Lampe stehen“
Ich glaube, hier müssten Beistriche stehen:
„Ich muss, bevor der Bewegungsmelder ausgeht, die achte Stufe erreicht haben“, „Ich muss, bevor Mama mich ein zweites Mal ruft, unter der dritten Lampe stehen“
Meine Hand zittert noch immer, was nervig ist, weil ich sehr aufpassen muss, dass sie mir nicht aus der Hand und nach unten fällt.
Über die Formulierung musste ich kurz nachdenken, weil es ein bisschen so klingt, als würde dem Prot. seine Hand bald aus der Hand fallen.
:)
Wobei die Beschwerde hatte mir imponiert.
Glaube, hier müsste auch ein Komma stehen:
"Wobei, die Beschwerde hatte mir imponiert"
„Achtsames Rauchen“ denke ich
Komma:
„Achtsames Rauchen“, denke ich
lässt mein zu großes T-Shirt etwas flackern
"flattern", oder?

Trotz der vielen schlaflosen Nächten hier
"Trotz der vielen schlaflosen Nächte"
Was jetzt im Winter nahliegend erscheint,
"naheliegend"
To-Do’s
"To-dos"

das sich viele überlappende
Hm, das klingt nicht ganz rund, finde ich.

„Morgen dann“, sage ich mir, und glaube es sogar wirklich ein bisschen.
Hier entlässt du uns aus der Geschichte mit einer bittersüßen Note, der ich durchaus was abgewinnen kann und doch frag ich mich, was ich nun aus dem Text mitnehmen kann. Der Prot. erlebt diesen Zustand der Angst (ich nehme an, vielleicht so etwas wie eine Panikattacke), den er schon öfters erlebt hat, beruhigt sich wieder und schläft ein. Eine Entwicklung findet da meinem Gefühl nach nicht wirklich statt. Der Text bleibt da eben tatsächlich eine Momentaufnahme, gut geschrieben, mit schönen Gedanken und Details, keine Frage.

Ich hoffe, du kannst etwas mit meinen Ausführungen anfangen!


LG, Markus

 

Lieber Markus,

vielen Dank für dein Feedback und die Mühe, die du dir gemacht hast. Da waren ja wirklich noch einige Flüchtigkeitsfehler drin, danke für deine Korrekturen! ("mein zu großes T-Shirt flackert" haha). Ich habe alles angepasst und hoffe, es liest sich nun zumindest etwas flüssiger.

Zum Inhaltlichen: Du hast recht, eine Entwicklung findet gar nicht statt. Irgendwie fällt es mir (noch) sehr schwer, wirkliche Geschichten zu erzählen. Mit dem Titel "Momentaufnahme" hatte ich versucht, das Ganze etwas zu retten. Vieles, was ich mir gedacht habe bzw. was ich teilweise gedanklich einfach vorausgesetzt habe, bspw. dass die Protagonistin weiblich und so Mitte Ende 20 ist, wird im Text an keiner Stelle herausgearbeitet. Auch die Vergangenheit und Persönlichkeit derselben, hab ich mir zwar gedacht, aber nicht beschrieben.. Ich muss da mal einen Weg finden, das anders zu lösen. Trotzdem hat mich dein Feedback sehr gefreut und vor allem, dass du meinen Text gerne gelesen hast :)

Liebe Grüße
Victoria

 

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