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Mondläufer

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14.08.2004
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Mondläufer

Diese Augen. Diese riesigen, grauen Augen. Sie starren mich an. Nein nicht mich. Sie sehen durch mich hindurch, scheinen mich nicht wahrzunehmen. Sie machen mir Angst.
„Warum siehst du mich nicht an? Warum sprichst du nicht über dich?“
Diese Augen. Ihr Ausdruck bleibt gleich, doch ein Lächeln huscht über sein bleiches Gesicht.
„Wir müssen alle zusammenhalten, doch das können wir nur, wenn wir uns kennen!“
Ein erneuter, vergeblicher Versuch ihn zum Sprechen zu bringen.
Er dreht sich um und geht, hinaus in die kalte, klare Nacht. Wieder alleine, wieder schweigend, wieder ziellos.
Schon oft sah ich ihn durch die leeren Gassen wandern. Nicht verträumt, schnellen Schrittes, sicher.
Er ist ein Rätsel. Ist noch ein Junge und erinnert doch an einen Greis. Nichts durch seine Stimme oder seine Bewegungen. Seine Augen verleihen ihm dieses Alter. Was hat er erlebt, das ihn innerlich so altern ließ? Ich weiß es nicht. Doch ich werde nie aufhören nach dem Menschen in diesem scheinbar leeren Körper zu suchen.
Ganz alleine sitzt er dort am Hafen. Ich gehe auf ihn zu, doch er hört mich nicht kommen. Ohne ein Wort der Begrüßung setze ich mich zu ihm und starre wie er anscheinend gedankenverloren auf die raue See.
Ich sehe, dass er friert und auch ich fröstle, doch wage ich nicht mich ihm zu nähern.
Wir sitzen schon lange und schweigen und jetzt, wo ich die Kälte kaum mehr ertrage, rücke ich doch ein Stück näher an ihn heran. Wie ein aufgeschrecktes Tier blickt er zu mir herüber. Doch dann sehe ich etwas in seinen Augen, was mir die Angst vor ihm nimmt.
Nur ein kurzes Aufleuchten, ein Funke, der im Wind erlischt. Doch dieses Leuchten war so warm, so menschlich, dass ich nicht umher kann meinen Arm um ihn zu legen.
Er sagt nichts. Und doch ist mir auf einmal, als könne mir in seiner Gegenwart nichts mehr geschehen. Müde sinkt mein Kopf in seinen Schoß.

„Der Mond“, durchbricht seine klare laute Stimme die Stille.
„Der Mond, weißt du, er ist gütig. Im Mondlicht wirkt alles sanfter, als im grellen Tageslicht. Er lässt scharfe Konturen verschwimmen, er mildert Dinge ohne sie zu ändern. Er legt seinen grauen Schleier zarter Ungewissheit über uns. Und wir, wir können uns beruhigt treiben lassen, umgeben von dem sanften Nebel. Die Nacht ist zu schade um sie zu verschlafen, der Tag zu hart um ihn zu leben.“
Seine Worte graben sich tief in mein Gedächtnis
Wie Recht er hat. Wie oft ist der Tag zu grell, zu wild, zu stark, um ihn schadlos zu überstehen.
„Die Nacht tröstet den Menschen. Sie gibt ihm die Chance wenigstens ein wenig Ruhe zu finden. Ich brauche die Nacht. Ohne sie stürbe ich. Zu scharf sind die Bilder des Tages. Am Tag schaue ich durch alles hindurch.
Ich schließe mein inneres Auge vor den Eindrücken, die auf mich niederprasseln. Erst in der Nacht öffne meine Augen und sehe die Welt. Vielleicht nennt ihr das „ vor der Realität fliehen“, aber habe ich nicht das Recht, selbst zu wählen, ob ich die ganze Wahrheit wissen will, oder nur die verschönte Version des Lebens hören?
Wie begrenzt ist unsere Zeit in dieser Welt, wieso sollten wir uns mit Dingen belasten, an denen wir nichts ändern können? Ich wurde in diese Welt geworfen, als ein Straßenjunge in den Gassen Russlands. Auf mich alleine gestellt, dem harten Winter ausgesetzt, ohne jemanden der mich wärmt.
Wieso darf ich dann nicht wenigsten diese schrecklichen Bilder zudecken. Mit der Decke, die ich mir übergeworfen habe und nicht an dem Anblick dieser grausam Welt zugrunde zu gehen.
Wenn ich sterbe, dann nicht an einem gebrochenen, blutenden Herzen. Ich werde erfrieren, oder verhungern, doch im Tod werden nicht die grellen Bilder des Tages in meinem Kopf sein, sondern die ruhigen, die zarten Bilder der Nacht.“
Wie eindeutig diese Worte sind. Wie wahr, wie schonend vermittelt.
„Gehen müssen wir sowieso irgendwann. Warum dann in Erinnerung an einen brutale Wahrheit, von der wir uns nichts kaufen können.“
Mein Mondläufer. Mehr als diese Worte sprach er nicht zu mir. Doch diese Worte verbinden uns, liegen auf unseren Seelen, als Schutz vor dieser Welt. Des Nachts treffen wir uns und öffnen gemeinsam die Augen.

Mein Mondläufer ist sehr krank. Er hustet stark, hat hohes Fieber und Schüttelfrost. Und doch kann ihn nichts von seinen Mondnächten abbringen. Er hat keine Angst vor dem Tod. Er ist des Lebens müde. Er hat alles gesehen was er sehen wollte und übersehen was ihn hätte kränken können.
Mein Mondläufer. Jetzt liegt er in meinem Schoß und keucht. Er ist noch blasser als sonst. Doch auch das vertuscht unser Mondlicht. Er sieht die See, er sieht den Hafen, all das, was ihm vertraut ist sieht er sich noch einmal an. Im Mondenlicht.
Und nun, nun sieht er mich an. Er sieht nicht mehr durch mich hindurch, sondern er blickt mir in die Augen, tief, innig und wissend. Dann schließt er seine Augen. Er verschließt sie vor der Welt, bevor ein neuer Tag anbricht. Für immer.

 

lieber jo!
ich finde, dass es "nich interprtieren können" fast nicht geben kann, denn was auch immer du dir denkst, wenn du eine geschichte liest, kann ja nichts falsches sein...
vielleicht kann es sein, dass es nicht das ist, was sich der autor gedacht hat, beim schreiben dieser geschichte, aber falsch?!
nunja...
ich bin überzeigt, dass du meine geschichte richtig verstanden hast!

liebe grüße,
frotte

 

Hallo wieder,

also, dein Wunsch sei mir Befehl.

Erst mal möchte ich schon mal prinzipiell sagen, dass ich die Geschichte mag, soviel steht fest. Aber sie ist ja auch von dir (nein, ich schleime nicht, das ist einfach so bei deinen Storys).
Dass du Stimmungen schön beschreiben kannst, habe ich auch schon gesagt. Jetzt versuche ich mich mal mit den schwierigeren Part: Interpretieren.

Der Mondläufer ist ein Straßenjunge, das sagt er ja selber. Wer aber ist der/die Prot (ich würde zu einer "die" tendieren, frag' mich nicht, warum)?
Aus

„Wir müssen alle zusammenhalten, doch das können wir nur, wenn wir uns kennen!“

schließe ich, dass auch sie auf der Straße lebt. Dass sie auch andere kennt, aber zu dem Mondläufer selber noch keinen Zugang gefunden hat. Sie scheint auch noch nicht "aufgegeben" zu haben. Sie scheint an dieser Stelle noch Hoffnung zu hegen, wogegen der Mondläufer schicksalsergeben ist.

Es geht ihm schlecht, aber er nimmt das hin. Er wird nicht lange leben, aber das macht ihm nichts. Statt dessen "flüchtet" er sich in die Schönheit der Nacht. Er kämpft nicht, aber er lässt es zu, dass es in seinem traurigen Leben schöne Momente gibt. Und dadurch leidet er nicht.
Sein Leben mag kurz sein und ihm fehlt es am Lebensnotwendigen, aber es ist reich an Bildern, an Gedanken und Gefühlen, während die, die alles haben die Schönheit des Lebens vielleicht gar nicht sehen können oder sehen wollen.

Seine Armut, die Zeit, die er hat um zu sehen und nachzudenken machen sein Leben erst zu dem Leben, das er möchte. Seine Realitätsflucht hält ihn nicht am Leben, aber das muss sie auch nicht. Er hat mehr gesehen und gefühlt, als andere, also kann er jetzt auch sterben.

Und diese Zufriedenheit, diese Faszination vermittelt er auch deiner Prot. Auch sie ist schließlich fähig, das Schöne im Leben zu sehen, trotz ihrer traurigen Lage.

So, das war mein Gedankensturm. Ich hoffe ja nur, dass ich auch nur annährend an den Sinn deiner Geschichte heran gekommen bin.

Ich lese gerne noch mehr von dir!

Gruß,

Ronja

 

hallo ronja!
ja, sie ist ein mädchen, und ja, er ist ein junge:-)
was soll ich noch hinzufügen, zu einer interpretation, die so schön ist...besser hätt ich meine dintentionen etc selbst kaum erklären können!
danke für die antwort auf diese geschichte, die mir so ganz besonders am herzen liegt...frag mich nicht warum:-)

liebe grüße
frotte

 

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