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Moses
Es war ein kühler Winterabend. Ernst wählte vorzugsweise einen Vorstadtpark aus, um in ihm die Nacht zu verbringen. Dieser war dunkel, und um diese Zeit waren keine Menschen mehr unterwegs. Es hätte Ernst auch nicht mehr gestört, denn er hatte sich schon längst mit Rotwein betäubt. So konnte er immer die ganze Nacht ungestört durchschlafen, bis Spatzengezwitscher und Hundegebell ihn allmählich in die nüchterne Welt zurückbrachten. Es war für ihn schon sehr wunderlich, als er dann doch in jener Nacht unerwartet aufwachte. Es war still und dunkel. Ernst fühlte, dass die Wirkung des Alkohols so langsam nachließ, denn er bekam Sehnsucht nach einer warmen Wolldecke. "Einfach weiterschlafen", murmelte er leise, aber irgendwie wollte ihm das nicht gelingen. Ernst versuchte sich aufzurichten, aber er scheiterte schon im Ansatz. Sein Körper fühlte sich vom Alkohol schwer an, als hätte es eines Krans bedurft, ihn aufzurichten.
"Na, dann bleibe ich halt liegen, ich muss sowieso nicht pinkeln", entschied er , als er im selben Moment Schritte vernahm. Ernst versuchte, sie zu deuten. Es waren leichte Schritte. Da war jemand, der versuchte, keine Geräusche zu machen. Ernst dachte, dass es Unsinn sei, zu schleichen, in diesem Park war sowieso keine Menschenseele. Auf einmal konnte er den Umriss einer Frau erkennen. Ja, es war eindeutig eine Frau, das sah Ernst an ihrer Bewegung. Sie näherte sich ihm und trug einen Korb in ihrem Arm. Ernst wusste nicht, ob er nun aufspringen sollte oder ganz ruhig liegen bleiben. Vielleicht war er ja auch gar nicht gemeint. Der Mann hielt seinen Atem an, die Frau schien ihn tatsächlich nicht gesehen zu haben. Sie ging geradewegs zu der Parkbank, die seiner versetzt gegenüberstand. Ernst sah, dass es kein Korb sondern ein Karton war, den sie auf die Parkbank stellte. Sie beugte sich über ihn. War es ein Kuss, den diese Frau dem Karton gab? Ernst war auf einmal hellwach. Die Frau wollte gerade gehen, als er aufsprang und laut rief:
„Was machen Sie da?“ In dem Moment fing eine kleine Babystimme an zu schreien. Die Frau erschrak heftig und wollte weglaufen.
„Wollen Sie wirklich, dass ich zur Polizei gehe? Reden Sie mit mir“, rief Ernst lauter. Die Frau blieb stehen, dachte einen Bruchteil von einer Sekunde nach und kam panisch und wild gestikulierend zurück.
„Nein, tun Sie das bitte nicht“, sprach sie in einem Akzent, der ihre südländische Abstammung verriet. „Sie werden mich töten!“
„Wer wird Sie töten?“, hakte Ernst nach, wobei er sich nun doch über seine leicht lallende Stimmer ärgerte.
„Meine Familie“, antwortete sie knapp.
„Nun setzen Sie sich erst einmal“, sprach der Mann beruhigend und deutete mit seiner Hand zu der Parkbank, auf der der Karton mit dem Neugeborenen stand. Das Babyweinen verstummte.
Die junge Frau setzte sich verkrampft, dabei klemmte sie ihre beiden Hände zwischen ihren Knien ein.
„Nun erzählen Sie mal“, forderte Ernst die Frau auf.
„Ich kann Ihnen das nicht erzählen, ich habe wirklich keine Zeit. Sie ahnen nicht, in welche Situation Sie mich bringen.“ Ernst sah die Angst in dem Gesicht der Frau.
„Was soll ich denn nun tun“, fragte er. „Ich kann doch die Kleine nicht so einfach hier zurücklassen.“
„Es ist ein Junge“, korrigierte die Frau kurzatmig.
„Ich kann aber nicht einfach so meine Augen verschließen!“ Die Frau sprang auf und erklärte:
„Gehen Sie zur Polizei, damit besiegeln Sie mein und sein Schicksal.“ Damit deutete sie auf das Baby in dem Karton und lief schnellen Schrittes in Richtung Ausgang des Parks.
„Aber was soll ich denn tun“, wiederholte Ernst seine Frage.
„Nehmen Sie ihn“, antwortete sie, ohne sich dabei umzudrehen.
„Sie haben ein gutes Herz, und vielleicht wird er Ihr eigenes Leben verändern.“ Ernst schüttelte ungläubig den Kopf, als er über diesen absurden Vorschlag nachdachte.
„Wie heißt er denn“, rief er der Frau hinterher, die nur ihre Arme emporhob und zurückrief:
„Geben Sie ihm einen Namen.“ Danach war sie nicht mehr zu sehen. Ernst setzte sich auf die Bank und nahm den Karton auf seinen Schoß. Das Baby schlief wieder. Der Mann nahm den Karton unter seine Jacke und achtete darauf, dass der Kleine genug Sauerstoffzufuhr hatte. Er musste ihn warm halten, das wusste er.
Ernst hatte die ganze Nacht so gesessen. Er hatte darüber nachdenken müssen, was er tun sollte. Wenn er zur Polizei geht, werden die Beamten ihm sehr viele Fragen stellen. Der kleine Mensch würde in ein Heim kommen. Bald würden die ersten Parkbesucher erscheinen. Er könnte den Karton hier abstellen und schnell verschwinden. Diese Idee gefiel ihm am besten, so hatte er bisher seine Probleme immer lösen können. Ernst stand auf und schüttelte wieder den Kopf. Er hielt den Karton fest unter der schmutzigen Jacke und verließ den Park. Er musste fast eine halbe Stunde laufen, bis er zu dem Supermarkt kam, auf dessen Parkplatz seine Freunde und er sich täglich treffen. Meistens war er der erste, aber an diesem Morgen waren schon Martha, Leonard und Ulf mit ihrem Frühstück beschäftigt. Ernst sah eine offene Schachtel Kekse, eine Tüte mit Brötchen und bereits zwei leere Bierflaschen. Ulf sah ihn als erster:
„Ah, der Ernst kommt, der Ernst kommt.“ Dabei bewegte er sich unruhig und ruderte mit seinen Armen, die in einem zerschlissenen Wintermantel versteckt waren. Leonard blieb dabei seitlich von Ernst stehen, ließ seinen Kopf nach vorne fallen und hob gleichzeitig seinen linken Arm kerzengerade zum Gruß in die Luft. Martha setzte sich desinteressiert auf den Mauervorsprung. Sie schien bereits wieder betrunken zu sein.
„Hallo Freunde“, begrüßte Ernst die Runde, „ich brauche Euren Rat.“
„Klar, Ernst“, rief Ulf spontan aus und schlug mit seiner flachen Hand gegen seine Brust, „du kannst mich alles fragen.“ Ernst setzte den Karton behutsam neben Martha ab. Die Frau riskierte einen Blick und vergrub danach müde ihren Kopf in ihre Hände. Leonard verkeilte seine beiden Daumen in den Mantelaufschlag und beugte sich vorsichtig über den Karton.
„Scheiße“, rief der große Mann aus. Ulf humpelte herbei und schaute neugierig. Als er sah, was es zu sehen gab, wendete er leicht geneigt den Kopf zu Ernst und fragte gedehnt:
„Weißt du, was das ist? Das ist ein Baby. Ein Baby ist das!“ Ernst blickte nur kurz zu dem kleinen Knaben und meinte:
„Ja, das ist ein Baby.“
„Wo zum Teufel hast du es her?“, fragte Leonard.
„Er wurde im Park ausgesetzt.“ Ulf sprang auf und ab und fuchtelte wieder wild mit seinen Armen:
„Pipo, Pipo, komm her, das musst du sehen!“ Ein kleiner Mann trat der Runde bei, blickte kurz in den Karton und meinte:
„Ihr müsst zu den Bullen gehen.“
„Nein“, erwiderte Ernst energisch.
„Nein?“ Leonard beugte sich zu Ernst hinunter: „Was gedenkt der Herr zu tun?“
„Ich werde ihn aufnehmen“, entgegnete Ernst knapp.
„Du hast deinen letzten Verstand wohl auch schon weggesoffen“, wusste Pipo.
„Du bist völlig übergeschnappt“, bestätigte Ulf, und Leonard erhob seinen Finger und sagte:
„Du kannst ihn nicht behalten, du kannst ihn doch nicht zu einem Pennbruder, wie wir es sind, aufwachsen lassen!“
„Ich werde aussteigen und versuchen, dem Kleinen ein Zuhause zu geben“, erklärte Ernst energisch.
„Das Baby braucht warme süße Milch“, meldete sich Martha zu Wort, ohne ihre Position zu verändern.
„Gib ihm eine Flasche Bier“, scherzte Ulf.
„Wartet“, rief Pipo, der sogleich den Supermarkt betrat.
„Es wird sehr schwer für dich werden, Ernst, wenn du versuchen möchtest, den Kleinen zu behalten“, belehrte Martha mit müder Stimme. „Er ist nicht registriert, er hat keine Krankenversicherung, er braucht aber Impfungen. Seine Schulpflicht beginnt mit sechs Jahren, spätestens dann hast du ein Problem.“ Ulf blickte Martha schief an und fragte:
„Wieso weißt du das alles? Hast Du selbst Kinder?“
„Ich war mal Hebamme“, war ihre Antwort, dabei stemmte sie sich hoch und grub das Baby aus dem Karton. Windeln müssen gewechselt werden, und der kleine Mann braucht eine ordentliche Wäsche. Pipo kam aus dem Laden und brachte eine Tüte Milch, ein Glas Honig und eine Babyflasche. Martha schaute auf den Sauger und nickte den Kopf.
„Ja, du hast gut aufgepasst, Pipo!“ Der kleine Mann lächelte stolz. Leonard brachte einen alten Topf mit Regenwasser und Ernst entfachte ein kleines Feuer. Es lag schon Routine darin, denn sie brauchten manchmal eine Feuerstelle für ein Mittagessen. Martha kramte einen Löffel aus ihrer Handtasche und bereitete dem Kleinen eine warme, süße Milch.
„Wie heißt er eigentlich“, wollte Ulf wissen. Ernst schwieg eine kurze Weile, bis er dann antwortete:
„Ich werde ihn Moses nennen.“
„Moses?“, fragten ungläubig Ulf und Leonard gleichzeitig.
„Ja, Moses. Weil ich ihn quasi gefunden habe, wie Jesus den kleinen Moses im Fluss gefunden hatte.“
„Das war nicht Jesus“, rief Leonard aus.
„Genau“, bestätigte Ulf sofort, „das war nämlich Johannes der Säufer.“ Dabei lachte er laut und rostig.
„Du kannst ihn nicht Moses nennen, kein Mensch hier heißt Moses“, erklärte Leonard, und Martha nickte leicht.
„Nenn ihn doch Moriz“, schlug Pipo vor.
„Er heißt Moses“, versteifte sich Ernst und ging zu Martha herüber, die gerade das Baby in ihrem Arm hatte und ihm die Flasche gab.
„Wirst du mir helfen Martha?“, fragte er. Martha hob ihren Kopf und zog eine Augenbraue hoch.
„Ich kann ihm aber nicht die Brust geben, Ernst“, antwortete sie.
„Danke Martha!“
„Scheiße, Ernst, Scheiße. Hier nimm erst einmal einen Schluck“, bot Ulf dem frischerklärten Vater an und reichte ihm die Flasche Rotwein, die sich Ernst ganz mechanisch griff. Er hielt sie in seinen Händen und starrte darauf.
„Nein“, sagte er dann bestimmt, „wenn ich jetzt davon trinke, werde ich es nicht schaffen. Mit diesen Worten stellte er die Flasche auf den Boden.
„Martha, bitte gib auf Moses acht, ich werde in ein paar Stunden zurück sein.“ Martha nickte.
Das Leben auf offener Straße hatte Ernst vergessen gemacht, wer er oder wie alt er war. Er wusste gerade noch seinen Namen und erinnerte sich an das Sparbuch, in dem sein Name stand und das er immer mit sich führte. Er wusste nicht einmal, wieso er dieses Sparbuch hatte. Auf ihm waren gut fünftausend Mark. Die Beträge waren natürlich noch nicht in Euro umgerechnet, und die Zinsen waren auch noch nicht vermerkt. In ihm war sein Personalausweis. Er schaute auf ihn und erkannte, dass er nächsten Monat ablaufen würde. Das Foto ähnelte ihm nicht mehr. Ernst ging in den nächsten Drogeriemarkt und kaufte einige Hygieneartikel. Mit diesen Errungenschaften besuchte er das städtische Schwimmbad. Die Badehose hatte er bereits angezogen, denn sie diente gleichzeitig als Unterhose, was sich als praktisch erwies, denn so konnte sie immer gleich mitgereinigt werden, wenn Badetag war. Ernst duschte diesmal besonders gründlich und putzte anschließend seine Zähne. Mit seinem Rasierzeug schloss er sich auf der Toilette ein, denn er benötigte den Spiegel dort.
Als der Mann das Schwimmbad verließ, steuerte er direkt eine Bekleidungsboutique an. Der Anzug würde nun den Hauptteil seiner Monatsunterstützung kosten. Ernst versuchte einen günstigen Anzug zu finden und kaufte gleichzeitig ein Paar Socken und einen Bund richtiger Unterwäsche. Auch ein Paar neuer, schwarzer und glänzender Schuhe mussten her. Es blieb sogar noch Geld übrig für einen anständigen Haarschnitt. Der Frisör hatte wahrlich ein Wunder vollbracht, als er das hoffnungslos zerzauste Haar in Form brachte. Ernst schaute abschließend zufrieden in den Spiegel. Die Spuren seines Daseins als obdachloser Trinker konnten natürlich nicht vollständig beseitigt werden, aber er sah jetzt schon ganz passabel aus. Ernst probierte sein neues Erscheinungsbild sogleich aus und eröffnete bei der Bank ein Konto. Der wache Bankangestellte vergaß nicht, Ernst daran zu erinnern, dass sein Personalausweis im kommenden Monat ablaufen würde, dennoch schrieb er die Zinsen gut, transferierte das Geld vom Sparbuch und ließ nur fünfzig Euro stehen und zahlte ihm abschließend fünfhundert Euro aus.
Zwei Stunden später hatte er eine möblierte Wohnung gefunden. Er hatte sich dem Vermieter als alleinerziehender Vater vorgestellt.
Die Sachbearbeiterin beim Sozialamt staunte nicht schlecht, und sie brauchte auch eine Zeit, bis sie Ernst erkannte. Sie sah, dass dieser Mann sich aufrappeln wollte. Sie telefonierte enthusiastisch mit der Arbeitsvermittlung und konnte für ihren Hilfesuchenden tatsächlich eine Tätigkeit für zu Hause erringen. Sie fragte Ernst auch gar nicht erst, wieso es unbedingt eine Heimarbeit sein musste; welche Gründe er auch gehabt hatte, es war für sie mehr als zweitrangig. Bei der Arbeitsvermittlung erklärte man ihm, dass die Arbeit, Kugelschreiber zusammenbauen, nach geleisteter Stückzahl bezahlt werden würde. Es war keine Arbeit, die ein großes Vermögen einbrachte.
Währenddessen beschäftigte sich Martha mit Moses. Sie vergaß für wenige Stunden, wer sie war und erinnerte sich mit einem Lächeln an eine Zeit, in der sie die Hebammentracht mit großem Stolz trug. Es war sehr lange her, dass sie ein Baby in ihren Armen hielt, und sie schaute unentwegt zu dem Kleinen.
Ulf konnte nichts mit Kindern anfangen. Er hatte früher auch schon keinen Bezug zu ihnen gehabt. Sein Leben war schon immer der Alkohol und nicht das nerventötende Geplärre verwöhnter Bälger. Es störte ihn jetzt eher, dass der Kleine Abwechslung und Aufregung in die Gruppe brachte, und so stand der magere Mann mehr unbeteiligt in der Runde.
Leonard war der stets Belehrende, er hatte zu jedem Thema ein umfangreiches Wissen zu präsentieren. Doch diesmal sprach er nicht so viel. Er bemerkte, dass Martha genau wusste, wie sie mit dem Baby umzugehen hatte. Leonard stiegen Bilder der Erinnerung an seine beiden Söhne in den Gedanken auf. Sie mussten nun erwachsen sein. Er hatte sie seit damals nicht mehr gesehen. Der große Mann wurde zunehmend ruhiger. Es gab für ihn nichts zu sagen. Er war beschäftigt mit seinen nebelhaften Erinnerungen, beschäftigt mit der Frage, wer er gewesen war; wer er gewesen war, bevor Linda ihn mit den Jungs verließ.
Pipo war erst seit einem guten Jahr in dem Freundeskreis. Er trank nicht einmal viel Alkohol und war meistens ziemlich besonnen. Martha fand in ihm einen Ansprechpartner. Sie erzählte ihm viel Fachliches über Kinder, während sie das Baby in ihren Armen wiegte. Pipo war ein interessierter Zuhörer, und als Moses gewickelt werden musste, ging er Martha zur Hand. Er hatte sich immer eine Familie gewünscht, und er hatte eine gefunden. Er hatte sich damals für zwölf Jahre bei der Armee verpflichtet und wurde zu den Pionieren versetzt . Er hatte eine Spezialausbildung bekommen und wurde sogar zum Feldwebel befördert. Nach den zwölf Jahren wurde sein Vertrag nicht verlängert, und er hatte sich verloren gefühlt. Jetzt waren die Pennbrüder seine Familie.
Ernst war fertig. Er hatte es geschafft, innerhalb von wenigen Stunden wieder zurück in der Gesellschaft zu sein. Er war verblüfft, wie schnell das ging. Die anderen würden staunen, wenn sie ihn sehen, und er beeilte sich, den Treffpunkt zu erreichen. Die Fahrt mit der U-Bahn zerrte an seinen Nerven. Was ist, wenn die Bande zur Polizei gegangen war? Er machte sich Sorgen, und die U-Bahn konnte nicht schnell genug fahren. Ernst hatte es noch nie so eilig gehabt. Buchhalter war er gewesen. Er erinnerte sich nun sehr gut. Fast zwanzig Jahre lang hatte er die Buchhaltung für seinen mittelständigen Arbeitgeber gemacht. Gewissenhaft! Das war seine Aufgabe gewesen. Eines Tages hatte dieser Computer vor ihm gestanden. Höllendinger! Junge aufstrebende EDV-Gelehrte waren gekommen, und hatten Frau Poncher, die Lohnbuchhaltung, und ihm in einer stürmischen Geschwindigkeit das neue Buchhaltungsprogramm erklärt.
„Wenn Sie Probleme haben, dann rufen Sie uns an. Wir werden Ihnen beistehen“, hatten die Computerwesire ganz einfühlsam gesagt. Nach zwei Monaten wurde der Lohnbuchhaltung und ihm gekündigt. Aus betrieblichen Gründen! Fünftausend Mark Abfindung für zwanzig Jahre!
Ernst wurde aus seinen Erinnerungen gerissen, beinahe hätte er die Haltestelle verpasst. Er rannte zu dem Supermarkt, und rennen war er gar nicht mehr gewöhnt. Er sah sie nicht. Sie waren alle weg. Seine Panik verdoppelte sich beim Laufen, bis er endlich die Bewegung von Martha hinter den parkenden Fahrzeugen wahrnahm. „Martha“, rief Ernst erleichtert, und die Frau kam mit dem Bündel im Arm auf ihn zu.
„Wo sind die anderen?“
„Weg! Sie sind abgehauen“, antwortete die frühere Hebamme, dann musterte sie ihren Gegenüber von Kopf bis zur Sohle und nickte leicht.
„Martha, komm, lass dir zeigen, was ich schon alles geschafft habe“, forderte Ernst, und sie machten sich auf den Weg. Sie brauchten fast eine dreiviertel Stunde, bis Ernst Martha stolz seine Wohnung präsentierte. Die Frau nickte ein weiteres Mal.
„Du wirst es schaffen, Ernst, du wirst es schaffen“, wusste sie und legte Moses auf das Bett.
„Nicht nur ich, Martha. Schau doch, du bist ganz vernarrt in den Kleinen. Komm zieh mit mir hier ein, und lass uns gemeinsam einen neuen Weg gehen.“ Ernsts Augen wurden ganz groß, als er so beschwörend auf die Frau einredete. Martha schwieg, sie schien nachzudenken, so glaubte der Mann.
Dann plötzlich drehte sie sich um und ging zur Ausgangstür.
„Martha!“, rief er ihr nachdrücklich hinterher. Sie drehte sich um, schaute ihm in die Augen und antwortete:
„Nein, Ernst. Das ist deine neue Welt.“ Damit machte Martha kehrt und verließ schnell die Wohnung und das Haus.
„Nie wieder“, so dachte sie und unterdrückte dabei ihre Tränen, „werde ich ein Baby auf den Arm nehmen.“ Und sie erinnerte sich an die schrecklichen Szenen, als sie damals die kleine Natalie auf der Station fallengelassen hatte.
Ernst blieb zurück. Neunundfünfzig Jahre war er, das hatte er nachrechnen müssen. Neunundfünfzig Jahre, und zum ersten Mal Vater. Er würde es schaffen. Endlich hatte er wieder eine Aufgabe, er wurde gebraucht, von dem kleinen Menschen in dem Bett vor ihm.
Er schaute Moses eine lange Zeit an. Viele Probleme lagen vor ihm, aber er vertraute darauf, dass er sie alle meistern werden würde.