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Nachts, wenn alles schläft
Nachts, wenn alles schläft
Was war das nur? Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten hatte sie dieses merkwürdige Blinken gesehen. Wie von einer Lampe, die man kurz an- und dann wieder ausschaltet. Aber sie konnte nicht ausmachen, woher das Blinken kam.
Sie stand auf dem Balkon ihrer Wohnung und blickte hinab auf ihre kleine Welt. Vom 9. Stock konnte sie die halbe Stadt überblicken.
Es hatte wieder angefangen zu schneien. Der Schnee legte sich sanft auf Häuser und Straßen. Friede schien eingekehrt, die Hektik des Alltags vergessen zu sein.
Sie liebte diesen Anblick, besonders in den Abendstunden, wenn die Lichter der Stadt alles in vollkommene Schönheit verwandelten. Bei Tageslicht sahen die meist alten Häuser nicht so prächtig aus. Aber jetzt... Sie lächelte. Kaum zu glauben, wie schön es war.
Ihr Blick blieb an dem großen Eckhaus auf der anderen Straßenseite hängen. Das Mystery-Haus, wie sie es nannte. Etwas war unheimlich an dem Haus. Es war immer dunkel, seine Vorhänge stets geschlossen.
An manchen Abenden jedoch hatte sie gesehen, wie sich der Vorhang an einem der unteren Fenster ein wenig bewegte. Licht war auf die Straße gedrungen und sie hatte die Umrisse einer Gestalt, die aus dem Fenster blickte, ausmachen können. Eines Nachts hatte sie sogar gedacht, die Gestalt hätte direkt zu ihr hinaufgesehen. Sie war erschrocken und sofort in den schützenden Schatten ihres Balkons zurückgetreten. Als sie sich kurze Zeit später wieder hervor gewagt hatte, war die Gestalt verschwunden. Das Haus hatte wieder im Dunkeln gelegen.
Bei dem Gedanken an dieses Erlebnis schüttelte sie den Kopf. Sie schämte sich für ihr Verhalten und schimpfte sich eine dumme Kuh. Selbst wenn die Gestalt sie gesehen hatte, was hätte schon passieren können.
Heute konnte sie keinen Lichtschein ausmachen. Alles wirkte ruhig. Sie fragte sich wie schon so oft, wer wohl in dem Haus wohnte. Es wirkte immer so verlassen. Vielleicht hausen dort Vampire, überlegte sie schmunzelnd.
Ihre Gedanken drifteten einen Moment ab und verweilten bei romantischen Drakulageschichten, als plötzlich eine Bewegung sie zurückholte. Was war das nur? Diesmal war sie sicher, etwas gesehen zu haben.
Es schien ihr, als schleiche jemand um das Mystery-Haus herum. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte ihren Blick zu schärfen. Sollte sie sich doch getäuscht haben? Nein, jetzt sah sie es ganz deutlich. Jemand bewegte sich auf eines der Fenster im Erdgeschoss zu. Ob das der Besitzer ist, fragte sie sich zweifelnd. Was machte er um diese Zeit da draußen? Und wieso schleicht er durch seinen Garten? Hatte ich also Recht, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugeht! Die Neugier hatte sie gepackt. Sie überlegte, ob es sie zur Spannerin machte, wenn sie sich ihren kleinen Feldstecher holte. Ach was!
Gerade als sie sich abwenden und zurück in die Wohnung eilen wollte, sah sie, wie die Gestalt sich ruckartig an dem Fenster zu schaffen machte und es dann öffnete. Das ging alles ziemlich schnell und ließ sie innehalten. Wenn das der Besitzer ist, warum zum Teufel bricht er dann in sein eigenes Haus ein?
OK, atme, versuchte sie sich zu beruhigen. Was mache ich jetzt? Ich muss die Polizei rufen, ist doch klar! Hm… aber bis die hier sind, ist der Einbrecher längst weg. Ihre Gedanken rasten. Sie konnte unmöglich untätig hier herumstehen. Aber was sollte sie tun? Wenn das wirklich ein Einbrecher war, war er bestimmt bewaffnet. Ich riskiere es, dachte sie trotzig. Er darf nicht davon kommen. Nächstes Mal könnte er bei mir einbrechen!
Fieberhaft überlegte sie, wo sie ihr Pfefferspray hingetan hatte. Richtig, schwarze Handtasche.
Kurz entschlossen rannte sie zu ihrer Garderobe, nahm das Spray aus der Tasche und griff sich den Tennisschläger, der an der Wand lehnte. Dann verließ sie die Wohnung und lief zum Aufzug. Ungeduldig wartete sie, bis die Tür sich öffnete. Auf dem Weg nach unten schalt sie sich eine Idiotin. Und was mache ich, wenn ich da bin? Den Einbrecher mit meinem Tennisschläger verjagen? Dem werden vor Angst bestimmt die Knie zittern, wenn er mich damit sieht. - Aber welche anderen Möglichkeiten hab ich? Irgendwas muss ich tun, es wird mir schon was einfallen, versuchte sie sich Mut zu machen.
Sie stürmte aus dem Aufzug und rannte über die Straße bis zur Einfahrt des Hauses. Sie blieb stehen und sah sich um. Niemand zu sehen. Dann schlich sie weiter bis zum dem Fenster, durch das der Eindringling ins Haus gelangt war. Atemlos lauschte sie. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Ein dumpfer Schrei drang aus dem Haus und ließ sie zusammen fahren. Oh mein Gott, ich bin verrückt! Was mache ich hier? Doch nun gab es für sie kein Zurück mehr. Kurz entschlossen kletterte sie durch das Fenster.
Der Raum, in dem sie sich befand war dunkel. Sie wartete, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sie konnte Umrisse von Möbeln ausmachen. Mattes Licht drang durch einen Türspalt am anderen Ende des Raumes. Lautlos bewegte sie sich darauf zu. Sie umfasste den Tennisschläger fester und spähte durch den Türspalt. Der Flur lag schwach beleuchtet vor ihr. Sie schlüpfte hinaus, als ein Geräusch sie erstarren ließ. Schritte! Ihr brach der Schweiß aus. Ich werde sterben. Und niemand wird mich je hier finden! Panik drohte sie zu übermannen. Doch dann hörte sie, wie sich die Schritte entfernten. Eine Tür wurde geöffnet und leise wieder geschlossen.
Einige Minuten verharrend lauschte sie angestrengt. Nichts war zu hören. Sie atmete tief durch und ging weiter. Zu beiden Seiten des Flures befanden sich Zimmer. Die Türen waren geschlossen und sie wagte nicht, sie zu öffnen.
Am Ende des Flurs befand sich ein weiteres Zimmer. Die Tür hierzu stand weit offen.
OK, Miss Marple, du hast es nicht anders gewollt. Da musst du jetzt durch. Pfefferspray und Tennisschläger in Bereitschaft, betrat sie das Zimmer. Rasch erfasste sie den Raum. Bücherschränke, Schreibtisch, eine große Glastür führte zur Terrasse. Rechts daneben stand ein Sofa… Ihr entfuhr ein Schrei. Hinter dem Sofa schauten ein Paar Schuhe hervor. Dort lag jemand! Vorsichtig ging sie weiter. Oh mein Gott, ein Toter!
Der Mann lag auf dem Rücken, Arme und Beine von sich gestreckt. Sein Kopf war zur Seite gerollt, so dass sie ihn nur im Profil sehen konnte. Jedoch nicht zu übersehen war die hässliche Wunde, die auf seiner Stirn klaffte. Der Einbrecher hat ihn umgebracht! Ich muss hier raus, dachte sie. Doch sie war wie gelähmt. Ihre Beine gehorchten ihr nicht. Unfähig, sich zu bewegen, stand sie da und blickte auf den Mann hinab. Sie hatte noch nie eine Leiche gesehen.
Mit einem Mal bewegte sich die Leiche. Fassungslos hielt sie den Atem an. Der Mann schlug die Augen auf und griff sich stöhnend an den Kopf. Dann erblickte er sie. Verblüfft starrte er sie an. Sie starrte zurück, nicht minder verblüfft. Er sah aus, als würde er überlegen. Sein Gesicht hatte angenehme Züge, daran konnte auch die Wunde an der Stirn nichts ändern. Er ist äußerst attraktiv, dachte sie bei sich.
„Was machen Sie hier, wer sind Sie?“, fragte er schließlich.
„Ich… äh… ich hab gesehen, wie jemand in das Haus eingebrochen ist“, stotterte sie. „Ich wollte helfen“.
„Mit einem Tennisschläger bewaffnet? Sehr wirkungsvoll.“
Ächzend setzte er sich auf und betastete die Wunde an seinem Kopf. „Trotzdem, Sie haben mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Er hat mich ganz schön erwischt.“
„Aber ich hab doch gar nichts getan.“ Sie blickte verlegen auf ihre Waffen.
„Anscheinend doch, sie haben ihn aufgeschreckt. Wahrscheinlich hat er Panik bekommen und ist abgehauen. Er hätte mich sonst nicht am Leben gelassen, immerhin hab ich ihn gesehen.“
Er stöhnte wieder. „Helfen Sie mir auf? Mir ist ganz schwindelig.“
„Natürlich.“ Mit drei Schritten war sie bei ihm. Sie ließ den Schläger fallen und steckte das Pfefferspray in ihre Hosentasche.
„Vielleicht dachte er, Sie wären tot. Ich dachte es jedenfalls.“ Sie wich seinem Blick aus.
„Na ja, wer weiß. Jedenfalls ist er jetzt weg. Das allein zählt.“ Er stützte sich auf sie. „Lassen Sie uns raus gehen. Ich kann etwas frische Luft vertragen. Mir ist übel.“
Sein Arm auf ihre Schulter gestützt, gingen sie zur Terrassentür. Zunächst langsam, wurde sein Schritt immer schneller, drängender. Als hätte er es plötzlich eilig.
Ein unbestimmtes Gefühl bereitete sich mit einem Mal in ihr aus. Irgendetwas stimmte hier nicht. Als sie draußen waren, ließ er sie los und ging ein paar Schritte allein weiter. Dann drehte er sich zu ihr um.
Sie schreckte zurück. Sein Gesicht hatte plötzlich jegliche Attraktivität verloren. Es war zu einer gefährlich grinsenden Fratze geworden. Seine Augen blitzten auf. Schlagartig wurde ihr bewusst, was nicht stimmte. Der Mann trug eine Jacke. Sie fluchte innerlich, dass sie es nicht eher bemerkt hatte. Sehr unwahrscheinlich, dass man eine Jacke in seinem eigenen Haus trägt!
„Vielen Dank auch“, höhnte er. „Du warst mir eine große Hilfe. Doch leider muss ich jetzt auf dich verzichten. Ich hab’s ein wenig eilig.“
Er griff in seine Jackentasche und zog ein Stück Wäscheleine hervor. Mit beiden Händen umfasste er die Leine und kam langsam auf sie zu. „Damit du keine Dummheiten machst…“
Sie wich zurück. Panisch sah sie sich um. Die Terrasse war an zwei Seiten von hohen Mauern umgeben. Der einzige Fluchtweg wurde vom Einbrecher versperrt. Zurück ins Haus kam nicht Frage, da würde er sie sofort einholen.
Ihre Gedanken rasten. Ich muss an ihm vorbei, dachte sie. Wenn ich das schaffe, habe ich eine Chance. Sie war eine schnelle Läuferin und er gehandikapt durch seine Kopfverletzung. Er kam immer näher. Sie deutete eine Bewegung in Richtung Mauer an und fingerte das Pfefferspray aus ihrer Hosentasche. Der Einbrecher folgte ihrer Bewegung und gab den Weg in den Garten frei.
Jetzt oder nie, sagte sie sich, schoss auf ihn zu und sprühte ihm eine Ladung Pfeffer direkt ins Gesicht. Er heulte auf. Mit einer Hand griff er sich an die Augen, seine andere umklammerte ihr Handgelenk. Seine Finger waren wie Stahl. Er stürzte zu Boden und riss sie mit sich. Die Spraydose flog in hohem Bogen davon. Sie schrie und trat verzweifelt nach ihm. Doch er ließ nicht los.
„Du Miststück“, jaulte er, „das wirst du mir büßen!“
Wie wild wand sie sich unter seinem Griff, aber es gab kein Entkommen. Ihre langen Haare fielen ihr ins Gesicht. Für einen Moment konnte sie nichts sehen.
Dann hörte sie eines dumpfes Geräusch und sie war frei. Sie fiel auf den Rücken. Rasch strich sie sich die Haare aus dem Gesicht.
Der Einbrecher lag bewegungslos auf dem Boden. Ein junger Mann stand über ihn gebeugt, einen Baseballschläger in der Hand. Er drehte sich um und lächelte sie an. „Jetzt wird er wohl eine zweite Beule bekommen. Und seine Augen sehen scheußlich aus.“
Er kam auf sie zu und streckte ihr seine Hand entgegen. „Hallo, ich bin Ben, ich wohne hier.“
Immer noch unter Schock ergriff sie automatisch seine Hand. „Marie, ich wohne gegenüber.“ Sie deutete mit dem Kopf in Richtung ihres Hauses.
Er zog sie hoch. „Ich muss mich wohl bei dir bedanken. Ohne dich wäre er über alle Berge.“ Er grinste. „Das nenne ich Nachbarschaftshilfe. - Ich dachte eigentlich, der erste Schlag hätte ausgereicht.“
Sie klopfte sich den Schnee von ihrer Jeans. „Und ich dachte, er würde hier wohnen. Na ja, am Anfang zumindest. Wo kommst du auf einmal her? Und was zum Teufel ist passiert?“
„Ich war wohl auf dem Sofa eingenickt.“ Er zeigte ins Arbeitszimmer. „Ein Geräusch machte mich wach und ich hörte, wie jemand durchs Haus schlich. Ich griff mir meinen Baseschläger und versteckte mich.“ Er hob den Baseballschläger und deutete damit auf Maries Tennisracket. „Viel wirkungsvoller übrigens als das da“, schmunzelte er. „Als der Kerl dann ins Arbeitszimmer kam, hab ich ihm eins übergezogen. Na ja, zwei um ehrlich zu sein. Beim ersten Mal hab ich ihn nicht richtig getroffen. Dann hab ich die Polizei gerufen und bin raus, vors Haus, um auf sie zu warten. War mir etwas zu unheimlich hier drin mit dem Typen.“ Ben schaute rüber zum Einbrecher. „Tja und dann hab ich Schreie gehört und bin zur Terrasse gelaufen, wo ich euch kämpfen sah.“
Marie rieb sich ihr schmerzendes Handgelenk. „Gerade zur rechten Zeit, würde ich sagen.“
„Ich frage mich, was der hier wollte. Mein Haus sieht nicht gerade aus, als wäre ich reich.“
„Wahrscheinlich nicht, aber es ist eine Einladung an jeden Einbrecher!“
„Wieso denn das?“ Verdutzt blickte er sie an.
„Weil es meistens dunkel ist. Jeder muss denken, dass niemand zuhause ist!“, ereiferte sie sich.
„Nun, ich arbeite meist nachts. Ich bin Schriftsteller. Mein Rhythmus ist etwas ungewöhnlich, ich weiß… aber woher weißt du, dass das Haus oft dunkel ist?“
Sie antwortete nicht.
Er blickte in Richtung ihrer Wohnung.
„Da drüben wohnst du also“, stellte er fest. „Rein zufällig im 9. Stock?“ Verlegen lächelte sie ihn an.
In der Ferne hörten sie Polizeisirenen, die sich langsam näherten.