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Nicht Allein
Nicht allein
Sie war nie allein. Immer war die Mutter bei ihr. Was sie tat oder nicht tat, sie begleitete sie, wie ein Schatten, wie der Schatten der Trauer, der sich seit jenem Tag über ihr Herz gelegt hatte. Sabrina gefiel sich, so geschminkt, mit dick umrandeten Augen und knallrotem Lippenstift. Aber die Mutter verspottete sie nur. „Was? So geschminkt willst du etwa auf die Straße gehen? Mal abgesehen, dass dir die Farbe des Lippenstifts ganz und gar nicht steht, hast du dich eigentlich schon mal gefragt, was die Leute draußen denken, wenn jemand so herumläuft? Und wegen Martin brauchst du dich doch gar nicht mehr zu schminken. Du interessierst ihn doch gar nicht mehr. Wie naiv bist du überhaupt?“ Sie lachte. Hämisch, wie Sabrina meinte. „Tut mir leid!“ schob die Mutter nach. Sabrina wollte ihr nicht sagen, wie sie sie hasste. Sie wollte nicht sagen, wie sie sich wünschte, einmal, nur einmal, allein zu sein, eigenständig handeln zu dürfen. Sie wollte nicht sagen, wie heuchlerisch dieses „Tut mir leid“ klang, dass sie immer sagte, wenn sie Sabrina kritisiert hatte. Noch schwieg Sabrina. Noch. Die Mutter setzte noch einmal nach: „ Irgendjemand muss es dir ja sagen.“ Aber Sabrina schwieg.
„Wir müssen reden“ hatte Sabrina gesagt. Die Mutter hatte nur milde gelächelt: „Das tun wir doch gerade, Liebling.“ Brennende Wut war in Sabrina hochgestiegen. Doch sie hatte sich beherrscht. Sie hatte solchen Hass in ihrem Herzen verspürt, sie konnte ihn nicht in Worte fassen. „Was verlangst du eigentlich von mir? Gebe ich dir nicht alles? Was willst du denn noch?“, hatte die Mutter plötzlich gefragt. „Ich will kein Geld, kein schönes Haus, ich will, was keine Sache der Welt ersetzen kann: Liebe, Vertrauen, eine richtige Familie.“, hatte Sabrina gesagt. „Soso, wenn du mir sagen kannst, wie deine poetischen Begriffe in der Realität aussehen, kann ich sie dir gern geben. Erklär mir mal was jemand hat, der geliebt wird.“, hatte die Mutter bissig gemeint. „Ich weiß nur, dass ich es nicht habe.“ Sabrina hatte diese Worte fast geschrieen, doch sie merkte, dass sie an ihrer Mutter abprallten. Irgendwann, das wusste sie, würde eine Zeit kommen, wo sie selbstständig sein würde. Irgendwann, ja das wusste sie genau, würde sie allein sein dürfen. Sie fragte sich nur, wann „Irgendwann“ war. War sie bis dahin schon in ihrem Selbstmitleid erstickt?
Damals waren sie eine glückliche Familie gewesen. Und - Papa hatte sie ernst genommen. Er hatte nie gesagt, ihr stände ein Kleid nicht, er hatte nie ihr Benehmen bemängelt. Dann war dieser unselige Tag gekommen. Ein kalter Novembertag. Die Mutter hatte sie von der Schule abgeholt. Den ganzen Weg hatte sie kaum ein Wort gesagt. Zuhause hatte sie Sabrina auf den Schoß genommen, als wäre sie ein kleines Kind und gesagt: „Dein Papa ist heute morgen gefunden worden.“ Sabrina hatte nicht verstanden. „Erschossen.“ Sie hatte es gefühllos gesagt, keine Spur von Kummer, kein Anflug von Schmerz. „Wir werden zu meinem neuen Freund ziehen“ Es hatte ein paar Sekunden gedauert, bis Sabrina den Sinn der gesagten Worte verstanden hatte. Sie hatte eine unbeschreibliche Trauer gefühlt, sie war zu traurig um zu weinen, zu traurig um zu schreien. Als ihr schwarz vor den Augen wurde, sah sie klarer als je zuvor, dass ihr nicht nur der Vater genommen worden war, nein auch ihre Mutter hatte sie an einen Gunther verloren – „ Wir könnten sie doch auf ein Internat geben.“ Ihre Seele blutete.
Sabrina konnte ihn von Anfang an nicht leiden. Sie hasste sein Aussehen, sie hasste die Worte, die er sprach, sie hasste die Art wie er mit anderen umging, und vor allem hasste sie es, dass sie ihn nicht hassen konnte, ohne die Mutter zu verletzen. Oft träumte sie, dass ein Engel mit Flügeln zu sprach. „ Sie braucht dich. Do bist das einzige was sie hat. Aber sie liebt dich nicht. “
Sie lies alles über sich ergehen. Nicht einmal die Einsamkeit war so schlimm, dass sie sie nicht ertragen konnte. Anfangs musste sie diskutiert haben. Musste geweint haben. Sie wusste es nicht mehr so genau. Nun lies sie alles ohne ein Wort über sich ergehen. Doch sie hatte nicht aufgegeben, keine Sekunde die Hoffnung auf ein eigenständiges Leben aufgegeben.
Das Schweigen, das die Mutter mehr als jedes böse Wort reizte, war Sabrinas stiller Widerstand, ihr stiller Triumph. Dieser Triumph lies sie nur kurz durch die Gitter der Realität in die Freiheit schauen, doch lange genug, um die Hoffnung auf ein Leben ohne die Mutter wieder aufleben zu lassen.
Martin war der, der ihr einen Rettungsring zugeworfen hatte, als sie fast in ihren heimlichen Tränen ertrunken wäre, der einzige Strohhalm an dem sie sich verzweifelt klammerte. Martin war diese Hoffnung.
Der Traum. Der Engel sprach zu ihr: „Hass ist das Salz des Lebens. Du empfindest nur Hass auf deine Mutter. Die Wunden in deiner Seele können nicht verheilen, solange das Salz des Hasses hineingestreut wird. “ Die Flügel des Engels waren schwarz wie jene kalte Novembernacht. Sie blickte durch seine Augen. Sie sah sich selbst in der Vergangenheit. Ein kalter Novembertag. Die Mutter holte sie von der Schule ab. Den ganzen Weg sagte sie kaum ein Wort. Dann wollte sie Sabrina in den Schoß nehmen. Dieses Mal aber wandte sich Sabrina ab. Und dann sah sie ihn. Er stand an der Absperrung, hatte eine unförmige Reisetasche in der Hand. Sabrina sah in ein vertrautes Gesicht. Sie rannte und rannte, spürte seinen Atem in ihrem Nacken, und fiel zu Boden. „Willst du nicht aufstehen?“ Es war eindeutig Gunthers Stimme. Sabrina wusste, es hatte keinen Zweck zu widersprechen.
„Steh sofort auf!“ hallte kurz darauf die befehlende Stimme durch die Wohnung. Aus dem Alptraum erwachend murmelte Sabrina: „ Warum gehst du mir nach? Verschwinde! ... Du machst mir Angst.“ „Was redest du da? Du solltest in die Psychiatrie mit deinem Verfolgungswahn!“, fuhr Gunther sie an. Er stand an ihrem Bett und wusste nicht, wie Recht damit hatte. Sabrina hatte sich immer wieder vor der Realität geflüchtet. Jetzt verfolgte sie deren Schatten. Sie musste wieder einmal einsehen, dass sie im Herzen der Mutter keinen Platz hatte, dass der Hass bleiben würde und dass sie nur noch hier lebte weil sie seine Tochter war, weil ER noch in ihrem Innersten war.
Widerstrebend kroch sie aus dem Bett und ging schlaftrunken in die Küche. Der Tisch von gestern war noch nicht abgeräumt. Auf ihrem Platz lagen Toast, Butter und ein Messer. Daneben lehnte an einer Tasse Kaffee ein Brief. Sabrina öffnete ihn. Es war Martins Handschrift, fast fünf Seiten. Sie las nur die letzten Zeilen:
„... Du musst lernen, dich selbst herauszuholen. Darum, mein Schatz, ist es sicher besser für uns, wenn wir ab jetzt getrennte Wege gehen. Ich wünsche dir noch viel Glück auf deinem weiteren Lebensweg und werde dich immer in guter Erinnerung behalten. Dein Martin.“
Eine Träne tropfte auf den Brief. „Du bist nicht allein“, waren die ersten Worte ihrer Mutter, „ Du bist ganz bestimmt nicht allein.“ Sabrina blickte auf das Messer.