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Nicht einmal eine halbe Lovestory
Der Himmel ist weiß, es sieht nach Schnee aus.
Er senkt den Kopf. Schaut wieder auf seine Schuhe. Vorne ist das Leder schon ein wenig abgenutzt. Nicht so, dass es schlampig aussieht, nur ein wenig. Schuhe, die oft getragen werden eben.
Mit ihm wartet noch eine alte Frau auf den Bus. Er schaut sie nicht an, weiß aber, dass sie wie eine typische alte Frau, die auf den Bus wartet aussieht, weil sie an ihm vorbeigegangen ist.
Wie lange ist das her? Eine Minute, oder weniger? Wie lange steht er hier eigentlich schon?
Sicher noch nicht so lange, die Busse fahren pünktlich.
Er überlegt, auf seine Uhr zu schauen, verwirft den Gedanken wieder. In dieser unnatürlichen Stille möchte er keine falsche Bewegung machen. Es ist nur eine alte Dame, doch er fühlt sich unwohl und beobachtet. Beurteilt.
Schritte nähern sich der Haltestelle, bleiben kurz vor dem Fahrplan stehen, gehen weiter. Verstummen etwa einen Meter neben ihm.
Er schaut nicht auf, lässt aber seine Augen von seinen Schuhspitzen ein wenig zur Seite wandern. Schwarze Schuhe. Damenschuhe.
Sie sehen nicht neu aus, Mode vom letzten Winter? Er kennt sich damit nicht aus. Doch sie sind an den Spitzen ein wenig abgenutzt. So wie seine, das gefällt ihm.
Auch die Beine, die in den Schuhen stecken gefallen ihm.
Mit einer steifen Bewegung beginnt er in seiner Tasche zu kramen, als suche er etwas. Die Bewegung und die Geräusche wirken im Schweigen zu heftig, zu laut. Die alte Frau räuspert sich.
Er fühlt sich unwohl, hat nun aber die Möglichkeit, das Gesicht der Frau mit den nicht mehr so neuen Schuhen zu sehen. Sie ist jung, etwa sein Alter. Vielleicht ein Jahr jünger?
Er kann Menschen nicht gut einschätzen.
Und sie ist hübsch. Sie sieht nett aus. Er würde sich gern mit ihr unterhalten.
Er rückt seine Tasche wieder zurecht. Streicht seinen Mantel glatt. Nimmt wieder die alte Position ein und schaut auf seine Schuhe.
Es ist wieder still. Zu still, um etwas zu sagen. Zu still, um irgendein Geräusch zu machen.
Dampfwolken steigen lautlos aus ihren Mündern auf.
Wie sie wohl heißt?
Ein Auto brummt vorbei.
Es wäre nichts Unhöfliches daran sie zu grüßen.
Aber zu still.
Ein Bus fährt vor. Nicht seiner. Die alte Frau steigt ein. Beschwerlich, aber sicherlich erleichtert der Stille zu entkommen.
Wenn sie denselben Bus nimmt, könnten sie sich weiter unterhalten. Wenn er jetzt anfangen würde zu reden.
Die junge Frau räuspert sich. Er räuspert sich ebenfalls. Die Frau nutzt die kurze Unterbrechung des Schweigens, um ein Buch aus ihrer Tasche zu holen. Er riskiert einen Blick. Kennt den Titel. Hat es auch gelesen. Fand es gut.
Ein mögliches Gesprächthema.
Aber immer noch zu still. Es wäre nett, sich über das Buch auszutauschen. Vielleicht würden sie sich anfreunden. Doch er wagt nicht einmal, den Blick zu heben.
Man muss auf die Leute zu gehen. Doch er bewegt sich nicht. Achtet nur darauf, dass sein Mantel nicht raschelt. Das seine Schuhe nicht auf dem Pflaster kratzen.
Die Frau auch. Er spürt ihr Unwohlsein ebenso wie die Kälte.
Gottverdammt, denkt er, wie kann es nur so still sein? Aber er weiß es. Er fährt oft Bus.
Er hustet leise. Befeuchtet die Lippen, um sie nach dem Buch zu fragen. Sieht doch nur seine Schuhe an.
Ein Bus fährt vor. Es würde sie sicher freuen, zu wissen, dass er das Buch auch gelesen hat.
Sie steckt das Buch ein. Er sieht ihren Rücken, als sie in den Bus steigt.
Er könnte auch einsteigen, es wäre kein großer Umweg. Der Fahrer sieht ihn an. Der Platz neben ihr ist frei. Es gibt bestimmt viele Themen, über die sich unterhalten könnten. Er könnte sie auf einen Kaffee einladen.
Die Tür schließt sich, der Bus fährt ab.
Er hebt den Kopf.
Der Himmel ist weiß, es sieht nach Schnee aus.