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Nichts als Staub im Wind

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15.05.2002
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Nichts als Staub im Wind

Es war ein alter Abend. Das Alpdrücken hatte begonnen.
Tina saß gemütlich in ihren Fernsehsessel gekuschelt da und schaute sich das Spätprogramm an, während ihre Hände eine dickbäuchige Tasse voll dampfenden Tees umfasst hielten. Das Licht in dem kleinen Zimmer war ausgeschaltet, so dass man nicht die liebevolle, aus vielen Geschäften und Ländern zusammengetragene Einrichtung betrachten konnte. Hin und wieder traf jedoch ein schimmernder Strahl von der Mattscheibe auf eine der vielen ziselierten Marmorvasen oder enthüllte die Leinwand eines altertümlich anmutenden Portraits, welches die Wand an der gegenüberliegenden Seite des Raumes zierte. Es war ruhig. Bis auf das leise Gemurmel des Nachrichtensprechers ließ sich kein Geräusch vernehmen.
Tina hatte vor Schreck kurz den Atem angehalten, denn das, was der Mann von News-TV ihr gerade mitgeteilt hatte, musste auch die ganze übrige zuschauende Welt erschüttert haben. Langsam wagte die junge, zierlich gebaute Frau wieder Luft zu holen. Sämtliche ihrer Adern hatten sich einen Augenblick so angefühlt, als ob sie von Eiswasser durchströmt gewesen seien. Selbst jetzt hielt ein leichtes Zittern ihren Körper gefangen und ließ sie ihr ansonsten verschüttetes Getränk auf das kleine Beistelltischchen an ihrer Seite absetzen.
Tina verfolgte in grimmigem Entsetzen mit, wie der ordentlich gescheitelte Enddreißiger dort vor ihr in einem sonoren, scheinbar unbeteiligten Tonfall von der unfassbarsten Katastrophe berichtete, die ihrer schönen blauen Welt jemals widerfahren war. Bilder verlassener Ortschaften wurden vom Sender an den entsprechenden Textstellen des verhärmten, ihrer Meinung nach seelenlosen Herren dort vor der Kamera eingeblendet. Nicht eine Schweißperle hatte sich auf seiner Stirn gebildet, keine Kluft zerfurchte seine hohe Stirn, obwohl doch auch ihm klar sein musste, wie knapp auch er selbst vor seinem unabwendbaren Ende stand. Wieder wurde eine gruselige Szenerie von einem Gebäudewald gezeigt, der den Zuschauer aus leeren gähnenden Fenstern und Eingängen anstarrte. Kein Lebewesen, keine Bewegung erfüllte die hohen Häuserschluchten. Nur der Schatten des todesmutigen Filmteams überstrich kargen Betonboden und einsame Parklandschaften.
Tina keuchte und beugte sich vor, als wenn sie das Geschehen dort draußen, wenn sie es nur näher betrachtete, auch besser verstände. In ihren Ohren hatte sich schon vor einigen Minuten, kurz nachdem der visuelle Kollapsbericht so unvorbereitet über sie hereingebrochen war, ein ständiges, unangenehmes Summen eingenistet und beabsichtigte wohl auch nicht, so schnell wieder daraus zu verschwinden. - Ein Traum! - Sie heischte nach Erleichterung, wollte aufwachen und diese irrwitzige Phantasie abschütteln, wie lästige Schneeflocken, die sich im Haar verfangen hatten, einfach die Augen öffnen und gleichzeitig vor dieser surrealen Situation verschließen können. – Nichts davon gelang, denn die Realität war der Traum des Universums und der verzweifelte Schrei, den die kleine Menschfrau nun ausstieß, nicht laut genug, um es daraus zu erwecken.

Draußen, vor den verschlossenen Vorhängen zuckte plötzlich ein Blitz in gleißender Helligkeit auf, aber die donnernde Antwort der Erde blieb aus. Tina erhob sich aus ihrer hockenden Position und ging zum Fenster, öffnete es und blickte hinaus auf die blinkende Silhouette ihrer Heimatstadt, die sich wie ein dunkler Teppich voll von darauf schlafenden Glühwürmchen unter ihr ausrollte. - Ihre Angst war verschwunden. Warum, das wusste sie nicht, aber es war schön, sich vor dem letzten Moment nicht zu fürchten und mit einem klaren Kopf auf den Tod zu warten. - Sie lehnte sich auf die Brüstung hinaus und füllte ihren Brustkorb mit dem gerade aufgekommenen warmen Abendwind. Einzelne Luftfinger griffen nach ihrem langen, glatten Haar und verzwirbelten es zu einer nach irgendeinem chaotischen Ordnungssinn sicherlich modischen Frisur. Ein weiterer Blitz erfüllte das hohe Firmament und knipste die Sterne darauf fort, wie Tina es so gerne mit den Nachrichten getan hätte, wenn nicht jeder Sender das gleiche Endzeitszenario gezeigt und eine unerklärliche Faszination an der ‚Apokalypse live!’ nicht die Ausschalttaste zur Tabuzone erklärt gehabt hätte.
Das Leuchten verging und hinterließ noch einige Momente lang einen schimmernden Schleier auf ihren Augen. - Der Wind wurde stärker. Weit fort am Horizont konnte Tina die schrecklich schöne Blüte der Verdammnis sehen. Eine zweite, herzblutrote Sonne, welche ihr Gesicht in ein verzehrendes Licht tauchte.
Ihre Haut prickelte leicht, denn der Schmerz der glühenden Hitze, die in diesem Augenblick über sie hinwegschwappte war zu stark für ihre zusammen mit ihrem restlichen Körper schnell zu Asche zerfallenden Nerven. Sekunden später war nur noch Wüste, wo einstmals eine kurze Existenz geglommen hatte. Eine sanfte Bö strich über den geschmolzenen Sand entlang, der langsam zu schmutzigbraunem Glas erstarrte. Niemand würde sich an das fröhliche Mädchen erinnern, das einst hier lebte und liebte, weil keiner übriggeblieben war, um diese Gefühle zu hegen. - Eine wunderschöne, vergängliche Blume...
Der Planet drehte sich in seinem äonenwährenden Rhythmus weiter fort und irgendwo, weit draußen, fernab jeder Zeit, wälzte sich etwas Großes, Allmächtiges in seinem unruhigen Schlaf auf die andere Seite.

 

Hallo Marcus

Das Thema deiner Story ist nicht gerade eins meinr Bevorzugten, dies spielt aber keine Rolle.

Als Leser würde ich mir wünschen, den Grund für ihre Panik etwas früher zu erfahren, etwa an der Stelle wo das "todesmutige Kamerateam" auftaucht.

Mir gefällt deine bildliche Sprache sehr gut. Hier drei tolle Beispiele:

"diese irrwitzige Phantasie abschütteln, wie lästige Schneeflocken, die sich im Haar verfangen hatten ....."

"Einzelne Luftfinger griffen nach ihrem langen, glatten Haar und verzwirbelten es ....."

"die sich wie ein dunkler Teppich voll von darauf schlafenden Glühwürmchen unter ihr ausrollte....."

Lieber Gruss
Muchel

 

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