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Nur Stunden
Man erzählt keine Geschichten über das Leben, das Leben erzählt sie von selbst. Man kann sich in vielen Momenten sicher sein, dass man die Einzige ist, die über alles den Überblick haben zu scheint, denn es gibt wohl wenige Leute, die sich für diesen Überblick überhaupt zu interessieren scheinen. Es war wahrscheinlich einer dieser Augenblicke, wo ich in meinem persönlichen Ärger über nämlich genau jene Eigenschaft der Menschen, mit geschlossenen Augen vor sich hin zu starren, fest hing, und glaubte, nie jemals vom Gegenteil überzeugt werden zu können, als man mich zwang, einem gewissen Unbekannten die Hand zu schütteln.
"Na wunderbar, noch einer, der das Leben nur in seiner kleinen, persönlichen, und unintelligenten Blickweise sieht", dachte ich spontan, weil man mir antrainierte, von Beginn an, gleich alle positiven, ohnehin nur nebensächlichen Gedanken, auszuräumen. "Naja, werfen wir mal einen kurzen Blick auf die Person, der ich gerade die Hand geschüttelt hab’, sonst kann ich mir ja nicht mal merken, wer noch am Untergang unserer ehemals leicht sozial angehauchten Welt, was uns mittlerweile ja fast schon "peinlich" erscheint, beteiligt ist". Widerwillig, weil ich nicht aus meinem Ärger um die absolute Verblödung der Menschheit herausgerissen werden wollte, hob ich also meinen Kopf etwas an, um nicht nur die eben geschüttelte Hand zu sehen.
"Sieht eigentlich gar nicht aus, wie der übliche Seh-Nix-Hör-Nix-Riech-Nix-Schmeck-Nix-Will-auch-gar-nicht-Mensch aus. Eigentlich überhaupt nicht. Eher nach dem Teil der Menschheit, der mit viel Übung fast so einen Überblick, wie ich ihn hatte, erreichen konnte."
"Aber der erste Eindruck täuscht des öfteren", dachte ich mir, und so befand ich mein Gegenüber einfach für nicht gut genug, um mich näher mit ihm zu beschäftigen. Wieso denn auch? Ich trug gerade den gesamten Weltschmerz in mir. Ich hatte keine Zeit für hirnlose Gespräche, die einen nirgends hinführten. Zwischenmenschliche Kontakte waren schlichtweg unnötig, wenn der eine sowieso nicht verstehen würde, was der andere zu sagen hatte. Ich beschloss also, nach einem kurzen gekünsteltem Lächeln, das absichtlich meine Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen sollte, mich umzudrehen, und zu gehen. "Wohin?" war bloß die Frage.
"Klo!"
Begeistert von meinem intelligenten Geistesblitz, da man auf der Toilette seine Ruhe haben würde, und in Stille nachdenken können würde, schlenderte ich auf den mittlerweile schon heiß ersehnten Ruheraum zu. Als ich dort war, hatte ich dann auch noch eine Frage mehr zu klären, nämlich die, warum Menschen immer nur Dreck und Gestank hinterließen. Es war wirklich eine seltsame Welt, in der wir lebten.
Nachdem ich etwa 15 Minuten schweigend, denkend und ohne irgendwie ein Geräusch zu erzeugen, auf dem Klo gesessen hatte, und ich von außen schon mehrere Beschwerden gehört hatte, warum denn manche nur so lang brauchten, ihr Fäkalien loszuwerden, zwang ich mich dazu, dem Feind ins Auge zu sehen. Ich würde es wirklich wagen. Ich würde hinausgehen, und eine Nacht lang so tun, als fände ich das Geplänkel über "saufen, knutschen, Sex" und was es sonst noch war, auch ganz lustig, und dann nach Hause fahren. Es würde sicher schnell vorübergehen.
"Du warst aber lange weg". Ich kannte ihn erst seit 15 Minuten, und er redete schon mit mir, als wäre ich sein persönliches Dienstmädchen, das gefälligst zu gehorchen hatte. "Hm, Machos, meine besondere Spezialität.... Frühstück? Nein, würde zu schwer im Magen liegen... Als Mittagessen ist er besser geeignet.", dachte ich bei mir und legte mir in wenigen Augenblick ein paar nette Worte zurecht.
"Naja, die Toilette hat einen wunderbaren Anstrich, der mich viel mehr beeindruckt, als die hier anwesende Gesellschaft. Reines Weiß, versteht sich von selbst."
"Du bist die Erste, mit der ich rede, die das auch so empfunden hat. Kommt wahrscheinlich daher, dass nicht besonders viele Leute stundenlang das WC besetzen, um dort nachzudenken. Eigentlich besetzt nie jemand etwas, um nachzudenken, nachdenken würde weh tun", war seine Antwort, die er schnell parat hatte.
"Frechheit, unsägliche Frechheit, bringt mich zum Schmunzeln!" sagte ich mir, und das auch noch, obwohl ich mit mir selbst jene Abmachung hatte, diesen Abend kein einziges Mal aus ehrlichen Gründen zu lächeln.
Nebenbei lief in relativ großer Lautstärke ein französischer Film, der einen Inhalt hatte, der mich irgendwie immer wieder hinriss, weil er auf irgendeine Weise das Kind in mir weckte. Ohne es zu wollen, schwelgte ich für wenige Augenblicke in Erinnerungen, was anscheinend auch für die anderen Anwesenden nicht zu übersehen war.
"Wirklich schöner Soundtrack", sagte mein Gegenüber wieder. Es beschäftigte sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund mit mir, und meinen seltsamen Eigenschaften.
"Ja, der hat irgendwas. Ich weiß zwar nicht, wie ich’s erklären soll, aber er macht mich irgendwie glücklich." Sagte ich und musste ein weiteres Mal lächeln, obwohl ich mir das selbst verboten hatte. "Unheimlich", dachte ich. Ich hatte wider jede Abmachung mit mir selbst, gelächelt, und ich erzählte persönliche Dinge. Dinge, die bei mir normalerweise nicht an der Oberfläche blank lagen.
"Irgendwie find ich’s ungemütlich zu stehen. Was hältst du davon, sich hinzusetzen?", sagte er zu mir, und obwohl ich ihm recht gab, und mich auf der Stiege nebenan niederließ, war ich gegen alle Tricks gefeit. "Du glaubst doch wohl kaum, dass ich jemand bin, der sich wie ein naives Püppchen, nach einer halben Stunde zu irgendwelchen absoluten Dummheiten überreden lässt, die er nie ernst gemeint hat, und dann vielleicht auch noch bereut!" sprach ich, die pure Vernunft, mit gedachter Stimme. Es war Ewigkeiten her, dass ich mit einem Mann ein Gespräch unter vier Augen geführt hatte.
Wider Erwarten fing er an, mir mehr von sich zu erzählen, und auch mich noch so weit zu bringen, etwas mehr von mir selbst, von dem, was hinter der eiskalten Mauer war, auszupacken. Er hatte irgendetwas an sich, das mir so vertraut und warm schien. Aber auch meine Angst wurde immer größer, da ich nicht mehr sicher war, ob er es sich zum Ziel gemacht hatte, mich zu beeindrucken, oder ob er tatsächlich die Wahrheit sprach, denn in allem, was er erzählte, war er mir unwahrscheinlich ähnlich. Ich wollte mich nicht offenbaren, und doch tat ich es ständig, weil ich nicht anders konnte. Ich gab zu viel Preis. Ich dachte daran, dass er mich wohl auch bald so weit haben würde, ihm von meiner Unzufriedenheit und meiner Einstellung zum Großteil der Welt zu erzählen.
"Sie interessieren sich einfach nicht dafür, es hat keinen Sinn." Sagte er plötzlich, noch bevor ich den Mund aufmachen konnte. Ich sah in verdutzt an, denn ich war mir nicht ganz sicher, dass er das meinte, woran ich gerade eben gedacht hatte.
"Hast du jemals versucht, sie aus ihrer kleinen Welt rauszuholen, und sie dazu zu bringen, mehr zu sehen?" fragte ich, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, dass er vielleicht etwas anderes gemeint hatte, denn irgendetwas machte mich sicher. Das Gespräch schien mir, als hätte ich schon mein ganzes Leben darauf gewartet. Mein Gegenüber schüttelte den Kopf und antwortete. "Auch die Versuche interessieren sie nicht. Sie bleiben einfach immer am gleichen Standpunkt."
Gut, das ging jetzt wirklich zu weit. Wie konnte er es wagen, einen Gedanken mit mir zu teilen, der eigentlich dafür bestimmt war, von mir allein als leidvolle Aufgabe gedacht zu werden? Wie konnte er nur in allem was er sagte, mit all meinen Überzeugungen übereinstimmen? Wie konnte er durch ein einfaches Gespräch nur so sehr mein Herz berühren, obwohl ich jahrelang versucht hatte, mühsam eine Eismauer darum herum aufzubauen? Er hatte eine Situation geschaffen, in die ich nie geraten wollte. Ich wusste nicht mehr weiter.
"Äh, ich.. .schnell am Klo!" sagte ich, schon halb im gehen und beeilte mich, auf die Toilette zu kommen.
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was mit mir los war. Da glaubt man, einen Moment lang durchzublicken, und dann herrscht das absolute Chaos. Die Zeit am Klo verging viel zu schnell. Ich hatte nicht mal eine einzige Frage beantworten können, als ich draufkam, dass draußen ja jemand auf mich wartete. Mein Herz klopfte und mein Atem ging viel zu schnell.
Als ich zurückkam, fand ich mein Gegenüber lächelnd. Ich sah es fragend an und bekam nach einer Weile zur Antwort: "Ich mag es, wenn jemand über das gleiche nachdenkt, wie ich."
"Ich versteh nicht ganz...."
"Ich würde wirklich allzu gerne wissen, ob man Liebe auch durch eine Klowand hindurch spüren kann."
Ich schloss die Augen, und als ich sie wieder öffnete, hatte ich den wunderbarsten Kuss meines Lebens hinter mir. Etwas in mir hatte sich zwar noch immer gewehrt, aber irgendwann musste ja der Zeitpunkt kommen, wo ich das Richtige in mir zuließ.