Online-Service
Online-Service
Werbemail, noch ein Werbemail ... Gelangweilt ging Lisa ihren Posteingang durch, öffnete jedes Mail – Wozu hatte sie einen Viren-Schutz? –, um sie nach flüchtigem Durchlesen zu löschen. Unglaublich, wie viele schon früh morgens da waren! Und noch eines. „RE: Ohne Betreff“ stand da. Re? Der Absender war ihr unbekannt: Online-Service, das sagte ihr nichts.
„Hallo Frau L.,
wir freuen uns, Sie im Kreis unseres Dienstes begrüßen zu dürfen und danken für ihre Online-Anmeldung beim Seitensprung-Service!“
Wie bitte? Seitensprung-Service? Das konnte nur ein schlechter Scherz sein! Alarmiert las sie weiter.
„Zeitgleich mit diesem Mail an Sie haben wir zehn Mails an interessierte Herren verschickt, welche Ihrem Anforderungsprofil entsprechen. Wie von Ihnen gewünscht, gaben wir Ihre Telephonnummer an, mit dem Hinweis, dass Sie ab 19:00 Uhr abends und an den Wochenenden erreichbar sind.“
„Was soll das denn?“, murmelte Lisa halblaut. „Soll das ein Witz sein?“
„Selbstverständlich ist dieser Dienst für Sie kostenlos. Ihre Daten werden absolut vertraulich behandelt und nicht an andere Dienste weitergegeben.
Mit freundlichen Grüßen
Irina Kofler
Kundenbetreuung beim Seitensprung-Service“
Einige Sekunden starrte Lisa fassungslos auf den Bildschirm. Wer auch immer das war, sie würde es herausbekommen! Entschlossen klickte sie auf „Antworten“.
„An den Seitensprung-Service
Da es sich um eine Verwechslung handeln muss, bitte ich Sie, meinen Namen und Telefonnummer sofort aus ihrem Verzeichnis zu streichen, sowie die von Ihnen angeschriebenen Herren zu benachrichtigen, dass sie bei mir NICHT anrufen können!
Mit freundlichen Grüßen
Lisa Loipert“
Wer mochte das gewesen sein? Wer hatte sie bei einem solchen Service angemeldet? Sie hatte nicht einmal gewusst, dass es so etwas gab!
Der Schock kam, als sie mittags wieder in ihr Mailprogramm sah.
„Mailer-Daemon: Ihr Mail konnte nicht zugesandt werden. Die Adresse des Empfängers ist unbekannt.“
Hektisch sah sie nach: Doch, sie hatte die richtige Adresse angegeben, es stimmte alles. Und jetzt?
Sowie Robert um achtzehn Uhr nach Hause kam, erzählte sie ihm alles, zeigte ihm das Mail, ihre Antwort darauf, die nicht angekommen war.
Er wurde merkwürdig stumm, aber wenn sie angenommen hatte, dass er nach des Rätsels Lösung suchte, hatte sie sich getäuscht.
„Versuchst du, mich darauf vorzubereiten, dass abends jemand anrufen könnte?“, fragte er sie direkt. „Jemand, der sich nicht an deine Tagesfreizeit hält?“
Im ersten Moment war sie sprachlos, konnte nicht glauben, dass er ihr das unterstellte. „Du glaubst doch nicht etwa ...?“
Aber er schüttelte nur den Kopf und verschwand in sein Arbeitszimmer.
Als um Punkt sieben Uhr das Telephon klingelte, blieb ihr beinahe das Herz stehen, hatte sie doch immer noch gehofft, es könnte ein Scherz gewesen sein. Sollte sie überhaupt abheben? Ja, denn sonst würde sie den von Robert geäußerten Verdacht noch unterstützen!
„Hallo?“
„Hallo Lisa! Ich habe deine Nummer von dem Service bekommen …”
Also stimmte es! Wer hatte ihr das nur angetan?
„Wie sieht es bei dir aus, hättest du auch mal tagsüber Zeit?“, sprach der Anrufer nichtsahnend weiter.
„Nein!“, sagte sie schnell. „Das ist ein Irrtum! Sie hätten meine Nummer gar nicht bekommen sollen!“
„Aber im Profil steht doch ...“
„Ich bin nicht bei diesem Service, das ist eine Verwechslung! Rufen Sie nicht mehr an!“
Als sie sich umdrehte, nachdem sie aufgelegt hatte, sah sie Robert in der Tür stehen. Stumm wandte er sich ab, nahm seinen Mantel und verließ das Haus.
Noch weitere fünf Anrufe erhielt sie im Laufe des Abends. Manche akzeptierten ihre Erklärung, einige fragten genauer nach, ließen sich die ganze Geschichte erzählen, aber einer ließ sich nicht abspeisen.
„Ich habe fünfhundert bezahlt, um deine Nummer zu bekommen!“
„Nur für meine Nummer?“, fragte sie ungläubig.
„Nein, für fünf Nummern. Die anderen ... Uninteressant. Aber jetzt will ich etwas bekommen für mein Geld! Ich werde morgen vorbeikommen!“
Bevor sie noch etwas sagen konnte, hatte er aufgelegt.
Erst spät in der Nacht kam Robert zurück. Sie stellte sich schlafend, als er ins Bett kam, aber sie roch den Dunst nach Alkohol und Kneipe, den er verströmte. Entgegen seiner Gewohnheit wollte er am nächsten Morgen weder Kaffee noch Frühstück, zog sich nur schweigend an und verließ das Haus. Als sie am Vormittag in seinem Büro anrief, musste sie sich von seiner Sekretärin sagen lassen, dass er nicht gekommen wäre. Was würde die jetzt über sie denken?
Nach dem Einkaufen fand sie einen Brief vor, obwohl der Postbote noch nicht da gewesen war, ohne Poststempel. Neugierig öffnete sie ihn. Die Handschrift war ihr unbekannt, und sie brauchte eine Weile, bis sie erkannte, dass er mit Feder und Tusche geschrieben war.
„Hallo Lisa,
nach Deinen Ausflüchten gestern Abend bin ich neugierig geworden. Du scheinst eine interessante Frau zu sein, mit der ich durchaus etwas anzufangen wüsste. Ich werde Dich eine Weile beobachten, um zu entscheiden, ob es sich lohnt, näheren Kontakt zu Dir aufzunehmen. Erst dann werde ich Dich aufsuchen.
Stefan“
Er wusste, wo sie wohnte! Würde er sie jetzt verfolgen, ihr nachstellen? Verzweifelt rief sie erneut im Büro an, aber Robert war nicht dort.
Er kam an diesem Abend sehr spät, murmelte nur, dass er müde sei, und ging schlafen. Mit ihm war nicht zu reden, aber er bereitete ihr im Moment das geringste Kopfzerbrechen. Wem konnte sie alles anvertrauen? Ihr fiel niemand ein, denn sie wollte nicht, dass die Geschichte im Freundeskreis durchgehechelt würde!
Zwei Tage später fand sie einen weiteren Brief vor.
„Lisa,
was ich bisher gesehen habe, gefällt mir recht gut. Aber du scheinst Dich allzu sehr an Dein kleinbürgerliches Umfeld angepasst zu haben, das musst Du ändern! Ich erwarte andere Kleidung, und auch eine andere Frisur. Du solltest Deine Haare blondieren lassen!
Stefan“
Sie hatte ein sehr ungutes Gefühl in der Magengrube, nachdem sie die Zeilen gelesen hatte, und es steigerte sich noch durch den Brief, den sie am nächsten Tag mittags vorfand.
„Lisa,
ich muss mir wirklich überlegen, ob ich noch mehr Zeit in Dich investiere, denn Du scheinst meine Anweisungen nicht ernst zu nehmen. Das solltest Du aber!
Stefan“
Lisa achtete normalerweise nicht auf andere Kunden, wenn sie einkaufen ging, und schon gar nicht drehte sie sich zu den hinter ihr Wartenden um, während sie ihre Waren in eine Tasche packte. Aber irgendetwas veranlasste sie, am nächsten Tag genau das zu tun: Sie richtete sich auf, wandte sich um und sah genau in die Augen eines vielleicht Dreißigjährigen, der sie anstarrte. Wie gehetzt bezahlte sie, rannte nahezu zu ihrem Wagen und fuhr davon, ständig mit einem Auge im Rückspiegel, um zu erkennen, ob ihr jemand folgte.
Drei Tage lang kam kein weiterer Brief. Sie ging nicht aus dem Haus, um dem Unbekannten nicht wieder zu begegnen, verkroch sich in ihrem Heim mit den vergitterten Fenstern und Rollläden. Allabendlich kontrollierte sie Haus- und Terrassentür, ob sie abgeschlossen waren. Der Umstand, dass Robert sich zwei Tage lang nicht blicken ließ, machte alles noch schlimmer.
Aber endlich kam er wieder, und diesmal ließ sie nicht zu, dass er sich sofort in sein Arbeitszimmer verzog.
„Hier!“, sagte sie nur und knallte die Briefe vor ihm auf den Tisch. „Solche Briefe habe ich bekommen! Der Typ scheint mich zu beobachten, und einmal habe ich ihn auch gesehen, im Supermarkt! Kann man denn gar nichts dagegen tun?“
Robert las die Briefe und gab sie ihr mit einem Achselzucken zurück. „Was erwartest du? Wenn du zu so einer Agentur gehst, musst du damit rechnen, dass du an einen Psychopathen geraten kannst!“
„Aber ich bin nicht bei dieser Agentur!“, schrie sie ihn an. „Ich weiß nicht, wer denen meine Telephonnummer gegeben hat!“
„Unsere!“, korrigierte er sie leise. „Es ist unsere, und du machst nicht nur unsere Ehe dadurch kaputt, sondern auch mein Zuhause!“
„Bitte, Robert, ich traue mich kaum mehr aus dem Haus! Kannst du mir nicht helfen?“
„Wie denn? Soll ich dich zum Einkaufen begleiten? Soll ich mich auf die Lauer legen, um den geheimnisvollen Briefschreiber abzufangen? Mach dich nicht lächerlich! Ich habe anderes zu tun!“
Wütend biss sie sich auf die Lippe. „Das kann ich mir denken ... Ins Büro gehst du jedenfalls nicht mehr!“
„Lisa, ich bin selbstständig! Ich muss keine Rechenschaft ablegen, und ich werde es auch nicht vor dir! Sieh zu, wie du aus diesem ... Mist wieder herauskommst! Und jetzt lass mich allein!“
Am nächsten Abend kam er früher nach Hause, wollte gemeinsam mit ihr essen, schien sehr aufgeräumter Stimmung zu sein. Erleichtert fragte sie nicht nach, wollte auf keinen Fall seine Laune trüben, denn jetzt brauchte sie ihn mehr als je zuvor!
Auch im Bett verhielt er sich wie früher, war rücksichtsvoll und zärtlich, verzichtete hinterher sogar auf seine Zigarette.
Als sie neben ihm in der Dunkelheit lag und nichts hörte außer seinen gleichmäßigen Atemzügen, die ihr verrieten, dass er eingeschlafen war, rückten ihre Ängste weit weg, schienen irreal, wie ein böser Traum. Fast hätte sie wieder glücklich sein können.
Eine Überraschung bereitete Robert ihr am nächsten Abend, als er nicht alleine nach Hause kam. „Das ist Sven“, stellte er ihr seinen Begleiter vor, „ein Bekannter von mir.“
Bekannter? Sie hatte den Namen noch nie gehört, aber sie fragte nicht nach, ärgerte sich nur, dass sie mit dem Abendessen improvisieren musste. Und sie wunderte sich, als Sven sich nach dem Essen neben sie auf die Couch setzte, während Robert in dem Einzelsessel Platz nahm. Für ihren Geschmack saß Sven zu nahe bei ihr, aber sie konnte nicht ausweichen. Natürlich hätte sie aufstehen können, oder ihn bitten, ein wenig von ihr abzurücken, aber das wäre ihr unhöflich erschienen.
Robert räusperte sich. „Tja, Lisa, kommen wir nun zum eigentlichen Zweck unseres Treffens“, begann er.
Sie erstarrte, als Sven plötzlich den Arm um ihre Schultern legte, aber Robert sprach weiter, als wäre das nichts Besonderes. „Ich glaube, und in gewisser Hinsicht scheinst du das ja auch so zu sehen, das dir etwas Abwechslung fehlt. Gestern Abend hatte ich wieder diesen Eindruck – es ist alles Routine, immer gleich. Nun, Sven wäre gerne bereit, dem abzuhelfen. Keine Angst, er ist nicht pervers, hat keine anormalen Ambitionen, will nur ein wenig Spaß haben! Wie du ja auch ...“
Lisa wartete nicht ab, was er noch sagen wollte, schüttelte Svens Arm ab, sprang auf und rannte ins Schlafzimmer. Wütend verriegelte sie die Tür, konnte aber nicht verhindern, dass sie die beiden Männer lachen hörte.
War das seine Rache, weil er glaubte, sie würde ihn betrügen? Er konnte das unmöglich ernst gemeint haben! Obwohl ... Wenn sie sich an Svens Blicke erinnerte, die mehr als einmal während des Essens etwas länger als notwendig auf ihr geruht hatten ... Er hatte es so gemeint!
Das Haus war leer, als sie am nächsten Morgen aufstand, es war auch nicht zu erkennen, ob Robert überhaupt geblieben war, oder ob er gemeinsam mit Sven gegangen war. Wie betäubt erledigte Lisa ihre Hausarbeit, setzte sich danach ins Wohnzimmer und starrte ins Leere.
Stunden später riss ein Telephonanruf sie aus ihrer Lethargie.
„Lisa?“
„Ja, wer ist denn da?“
„Stefan.“
Entsetzt knallte sie den Hörer auf die Gabel, wartete angstvolle Minuten am Telephontisch, aber es kam kein weiterer Anruf. Trotzdem ahnte sie, dass es noch nicht vorbei war.
Sie sollte Recht behalten, denn am nächsten Morgen lag ein weiterer Brief im Eingang.
„Lisa,
eine letzte Chance gebe ich Dir noch: Finde Dich um 15:00 Uhr vor dem Eingang zur Stadtbücherei ein!
Stefan“
Wütend warf sie den Brief zu den übrigen. Dieser Einladung würde sie ganz sicher nicht folgen! Sorgfältig verschloss sie den Eingang, verriegelte die Terrassentür, versuchte sich durch einen angeblich spannenden Film abzulenken und verbrachte eine schlaflose Nacht.
Wie jeden Morgen ging sie ihren Posteingang am PC durch, als ihr eine Nachricht auffiel: „RE: Kein Betreff“! Sie musste sich überwinden, um sie zu öffnen.
„Hallo Frau L.,
leider haben Sie den Erwartungen unserer (zahlenden) Kunden nicht entsprochen. Sie zeigten sich wenig kooperativ und verweigerten mehrere Treffen. Daher sehen wir uns gezwungen, Sie aus unseren Listen zu streichen.
Sollten Sie damit nicht einverstanden sein, kontaktieren Sie uns bitte.
Mit freundlichen Grüßen
Irina Kofler
Kundenbetreuung beim Seitensprung-Service“
Erleichtert lehnte Lisa sich zurück. Sollte dieser ganze Alptraum nun ein Ende haben?
Robert kam am Abend nach Hause, gab sich wie immer, als wäre nichts gewesen.
„Was ist los, Lisa?“, fragte er beim Abendessen. „Stimmt etwas nicht?“
„Das weißt du ganz genau!“, fauchte sie zurück. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, mit diesem Sven?“
„Ach das!“ Er lächelte. „Du hast vor einigen Wochen gesagt, dass dir langweilig wäre, dass du allmählich versauern würdest im immer gleichen Trott. Ich wollte dir nur etwas Abwechslung verschaffen – genau wie mit der Anmeldung zu diesem Seitensprung-Service. Ich dachte, das würde dich amüsieren!“
Ihr war, als fiele ihr ein Stein vom Herzen. „Du warst das? Das ist aber eine seltsame Methode, um Abwechslung in meinen Alltag zu bringen!“
„Hat doch funktioniert, oder?“ Er grinste. „Deshalb auch der Ehestreit – du solltest etwas Anderes haben als das tägliche Einerlei!“
Endlich befreit von ihren Ängsten war sie gerne bereit, ihm alles zu vergeben.
Aber am nächsten Tag war trotzdem ein neuer Brief da:
„Lisa!
So war es nicht geplant, dass Du wieder mit Deinem Mann zusammen bist! Ich werde mir ernsthaft etwas überlegen müssen!
Stefan“
...