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Reue
Der Kaffee schmeckte, als sei er im letzten Weltkrieg frisch aufgebrüht und von da an warmgehalten worden. Ich nahm trotzdem einen Schluck und schon war es passiert, das Kaffeepulver verteilte sich überall zwischen meinen Zähnen, ein Teil bahnte sich bereits seinen Weg in meinen Magen. In diesem Moment bereute ich das erste Mal, dass ich mich wie so oft in den letzten sechs Jahren, die wir nun befreundet waren, von Inga zu etwas hatte überreden lassen, was mir widerstrebte. Aber was hätte ich tun sollen? Diesmal hatte sie es wirklich geschickt angestellt. Hätte ich ihr die Wahrheit sagen sollen, als sie mir an meinem Geburtstag freudestrahlend den Gutschein für eine Zukunftsdeutung überreicht hatte? Ja, das hätte ich tun sollen, aber ich hatte es nicht, nun musste ich da durch.
»Bah, was ist das denn«, lispelte ich, während ich versuchte die Krümel mit Hilfe meiner Zunge aus meinem Mund zu schieben.
»Hey, das sollt du nicht mit trinken, da muss er doch noch gleich deine Zukunft draus lesen.« Inga schaute mich entsetzt an. Zukunft lesen, dass ich nicht lache, wenn dieser Wahrsager oder Scharlatan, wie ich ihn nannte, wirklich in die Zukunft sehen könnte, hätte er mich gewarnt, denn er hätte ja wissen müssen, dass ich die Hälfte des Kaffeesatzes verschlucken würde. Scharlatan ließ sich von all dem nicht beeindrucken. Er schob seinen kleinen pummeligen Körper durch das mit Möbeln verbaute Nebenzimmer, wedelte mit Räucherstäbchen um sich herum und murmelte unverständlich vor sich hin. Mit dem hochstehenden Kragen seines schwarzen Mantels, seinen dunklen Augenringen und seinen spitzen Ohren, erinnerte er mich an Graf Zahl aus der Sesamstraße. Plötzlich glaubte ich zu verstehen, was er sagte: »EIN Räucherstäbchen kommt mit auf die Rechnung, ZWEI Räucherstäbchen kommen mit auf die Rechnung, DREI ...« Ein moderiger Geruch stieg mir in die Nase.
»Was tut er da? Dass Zeug stinkt ganz fürchterlich«, murmelte ich naserümpfend, immer noch mit den kleinen braunen Bröckeln beschäftigt.
»Pst, stör ihn nicht, er reinigt den Raum, um die Aura unserer Vorgänger zu vertreiben und sich ganz auf unsere konzentrieren zu können.« Sie schien sichtlich beeindruckt von seinem Treiben, gebannt folgten ihm ihre Blicke. Meine Blicke jedoch wanderten durch die stinkende Aura derer, die vor uns auf ihn herein gefallen waren. Überall lagen Kerzenstumpen, abgebrannte Rächerstäbchen, standen leere Kaffeetassen mit anscheinend heißbegehrten, angeblich zukunftsweisenden Resten herum. Vielleicht hätte er den Raum vorerst von dem alten Geschirr unserer Vorgänger reinigen sollen. Je mehr ich mich umschaute, desto bewusster wurde mir, dass hier keine Räucherstäbchen sondern nur noch einige Flaschen Desinfektionsmittel helfen würden, um den Raum zu reinigen - wovon auch immer. Ich wollte gar nicht wissen, was all diese Flecken auf dem Teppich und den Möbeln verursacht hatte.
»Sooooooo«, theatralisch, mit gehobenen Armen wandte sich Graf Zahl zu uns, »wer von den Damen möchte zuerst einen Blick wagen?«
»Ich, ich«, rief Inga aufgeregt und trug ihre Tasse seinem Winken folgend in den Nebenraum. Prima, mit Chance würden Gestank und Qualm der Räucherstäbchen vielleicht ein wenig verflogen sein, eh ich ihm folgen musste. Ich hatte mindestens eine Stunde gewartet, bis die Tür sich öffnete und mir erneut der Geruch von alten Kartoffeln in die Nase stieg. Kreidebleich und mit rot unterlaufenen Augen trat Inga hinaus.
»Du Schlampe, warum tust du so etwas, ich dachte wir wären Freundinnen!«, brüllte sie mir entgegen, während ihr Gesicht sich innerhalb einer Zehntelsekunde von einem zarten Rosa in ein brennendes Rot verwandelte. Die kleinen Adern an ihren Schläfen pochten.
»Was tue ich?« Ich war verwirrt, mein Gehirn entsandte Fragezeichen in die entlegensten Synapsen, doch es war nirgendwo in meinem Kopf eine Antwort zu entdecken.
»Du hast ihn mir ausgespannt, einfach so, hast du hinter meinem Rücken etwas mit ihm angefangen! Immer dann, wenn ich auf Geschäftsreise war!« Das Pochen auf ihrer Stirn steigerte sich. Das Pochen meines Kopfes nahm in gleicher Weise zu. Ich spürte, wie er versuchte, lang verstorbene Zellen meines Hirns zum Leben zu erwecken, um vielleicht dort fündig zu werden.
»Was, von wem redest du?«
»Von meinem Mann!«, ihr Schreien wurde immer lauter.
»Inga«, versuchte ich ruhig zu sagen, »du bist nicht verheiratet. Und du hast auch keinen Job, welcher Geschäftsreisen beinhalten könnte. Wir beide stehen grad ein paar Wochen vorm Abi. Sag mal, hat der Typ dir Drogen oder so gegeben?«
»Nein, ich habe keinen Mann«, ihre Stimme hatte sich von einem Kreischen in ein wütendes Schnauben gewandelt. »Aber ich werde einen haben. Und ich werde auch einen Job haben und auf Geschäftsreise gehen. Und genau dann wirst du dich an ihn ranmachen. Frag ihn.« Ihre Hand zitterte als sie auf Scharlatan deutete, der im Nebenraum bereits wieder mit Ausräuchern beschäftigt war.
Langsam fand ich die ganze Geschichte lächerlich. Natürlich würde sie irgendwann einen Mann haben und vielleicht würde sie auch irgendwann besagten Arbeitsplatz besitzen, aber der Rest der Geschichte, einfach undenkbar.
»Inga, komm lass uns gehen. Der Typ hat dir nur Mist erzählt. Denk doch mal nach, bitte...« Ich wollte ihre Hand nehmen, doch sie stieß mich weg und rannte hinaus. Das war das zweite Mal, dass ich es bereute, dass ich mich hatte überreden lassen.
Aber es war auch das letzte Mal, dass Inga mich zu etwas überredet hatte, denn auch in den folgenden Wochen bis zum Abi ließ sie mich nicht mehr an sich heran. Danach verloren wir uns aus den Augen.
Das Telefonklingeln reißt mich aus meinem Gedanken. Komisch, ich hatte seit Jahren nicht mehr an Inga gedacht. Es dauert ein bisschen bis ich mich wieder von meinen Erinnerungen gelöst habe und die Gegenwart wahrnehme. Auf dem Display blinkt Andys Nummer.
»Hey«, flüstere ich in den Hörer.
»Habe ich dich geweckt, mein Baby?«
»Nein, war nur grad ganz in Gedanken.«
»Woran hast du gedacht? An mich?«
»An eine alte Freundin aus der Schule.«
»Ach so, ich hätte heute Zeit für uns, du auch?«
»Mmh, ich weiß nicht.« Mir war wirklich nicht nach Zweisamkeit zu Mute.
»Ach komm schon, hab nur heut Nacht sturmfreie Bude«, seine Stimme klang drängelnd, »Inga ist in Berlin zu einem Seminar.«
Es dauert ein paar Sekunden, bis ich realisiert habe, was er gerade gesagt hat. Ich weiß, dass er verheiratet ist, aber er hat nie den Namen seinen Frau erwähnt.
»Andy?«
»Ja?«
»Ruf mich bitte nie wieder an.«
Ich lege den Hörer auf die Gabel, ziehe den Telefonstecker aus der Buchse. Ich habe noch nie etwas so bereut wie diese Affäre.