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Sandhai

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14.07.2004
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Sandhai

SANDHAI

Lydia stand vor dem großen, in Eichenholz gerahmten Spiegel am Ende des Schlafzimmers. Das weiße Nachthemd aus Wildseide umspielte ihren Körper und verschleierte den Blick auf eine große, nur langsam verblassende Narbe an ihrem Bein. Tränen liefen über ihre heißen Wangen. Ihr langes schwarzes Haar umrahmte wie Spinnweben ihr verzweifeltes Gesicht.
Zärtlich strich sie mit zitternder Hand über ihren wachsenden Bauch. Manchmal spürte sie eine kleine, wenn auch kaum wahrnehmbare Regung darin.
Immer wieder fiel Lydias verschwommener Blick auf ein kleines gerahmtes Bild auf dem Nachtkästchen neben dem nun viel zu groß gewordenen Bett.
Vertieft in ihrem schier endlosen Schmerz ging sie darauf zu und nahm den Bilderrahmen mit der Fotografie in ihre Hände. Flüchtig streichelte sie über das Glas. Eric lächelte ihr entgegen. Eric, mit dem sie noch einmal gemeinsam Urlaub machen wollte, bevor der langersehnte Nachwuchs kam. Sie hatten nichts davon geahnt, weder sie noch Eric, dass es ihr letzter Urlaub sein würde. Manchmal, wenn sie sich konzentrierte, glaubte sie sein stets gepflegtes dunkelbraunes Haar riechen zu können.
Seit Monaten brachte sie der Gedanke, dass ihr geliebter Mann vielleicht noch leben würde, wenn sie auf den alten Fischer gehört hätten, beinahe um den Verstand.
Er hatte sie gewarnt. „Die Fische sind aus der Bucht verschwunden und es ist zu kühl für diese Jahreszeit“, betonte er immer wieder.
Blackberry, wie ihn die Inselbewohner nannten, hatte den Ruf, etwas verrückt zu sein und sehr zum Übertreiben zu neigen. Vor allem, wenn er mal wieder zuviel Whisky getrunken hatte, was meistens der Fall war. Beinahe niemand schenkte ihm also Glauben, als er behauptete, dass sich das Wasser verändert habe.
Warum sollten sie auch? Auf Glovers Island hatte es noch nie Haie gegeben. Nur Robert, Blackberrys Enkel, vertraute auf das Gespür seines Großvaters. So wanderte er am Ufer einer Bucht entlang und beobachtete die See. Er entdeckte nicht weit entfernt Eric und Lydia, die schon fünf Sommer hier verbracht hatten. Die Bucht war offensichtlich nicht nur seine Lieblingstelle.
Das Wasser war klar und Lydia sammelte glänzende Muscheln für zwei Mobiles, die sie über die Kinderbettchen hängen wollte. Eric schwamm wie immer sehr weit ins Meer hinaus. Sie beide liebten die See und ihre unendliche Schönheit.
Eric hatte nicht einmal mehr die Zeit, ein letztes Mal ihren Namen zu rufen oder zu schreien, bevor mehrere Sandhaie ihn in Stücke rissen. Lydia bemerkte nichts von dem Angriff. Zu vertieft war sie in ihre Träume vom Glück zu viert. Dann zerriss ein entsetzlicher Schmerz den friedlichen Augenblick als Lydia die schillernde große Muschel in den Sonnenschein hielt. Der hellbraune Haifisch hatte mit seinen rasiermesserscharfen Zähnen Lydias Bein nur gestreift, bevor er zu einer erneuten Attacke ausholte.
Robert, der den Angriff auf Eric gesehen hatte lief so schnell wie möglich zu Lydia, um sie an den Armen aus dem Wasser zu reissen, bevor auch sie den Tieren zum Opfer werden konnte.
Nach der Beerdigung, die sie nur wie durch einen Nebelschleier wahrnahm, war Lydia zu ihrer Mutter gezogen. Sie wollte nur weg, weit weg. Sie konnte den Anblick des stillen Hauses nicht ertragen, in dem sie alles so beängstigend an Eric erinnerte.
Mehrfach war Lydia bei verschiedenen Ärzten gewesen. Die Kinder schienen extrem aktiv zu sein. Oft hatte Lydia starke Krämpfe. Doch mit einer derartig niederschmetternden Diagnose hatte sie auf keinen Fall gerechnet.
Sie hatte das Bild ihrer Babies doch gesehen. War es möglich, dass sich die Ärzte irrten? Wie konnte eines der Kinder einfach nicht mehr da sein? So etwas gab es nicht, oder? Jeder der Frauenärzte, die sie aufgesucht hatte, redete ihr ein, Dr. Stone wäre derjenige, der sich geirrt hätte. Es wären keine Zwillinge und man habe die Ultraschallaufnahme wohl falsch gedeutet. Das sei nicht so ungewöhnlich.
Lydia verfiel in schwere Depressionen. Als sie wenige Wochen später per Kaiserschnitt von einem kleinen Mädchen entbunden wurde, realisierte sie dies kaum.
„Willst du sie dir nicht wenigstens einmal ansehen, oder ihr endlich einen Namen geben? Lydia nimm dich zusammen, sie ist deine Tochter. Sie braucht dich. Sie ist gerade mal vier Tage alt.“ Alice hielt das kleine Bündel vor das Gesicht ihrer noch immer trauerndenTochter. Lydia sah verzweifelt zu ihrer Mutter auf, die es so gut mit ihr meinte. Behutsam nahm sie ihr das Kind aus den Armen. Durch einen Schleier aus Tränen sah sie ihre neugeborene Tochter an, und flüsterte: “Hi Erica, ich bin deine Mum.“ Sie drückte die Kleine an sich und roch den verführerischen Duft, den nur ein winziges Baby haben konnte. Sie vermied es dann, sich noch weiter dumme Gedanken um das falsche Ultraschallbild zu machen. Sie würde dieses Baby lieben, wie sie Eric geliebt hatte und immer noch liebte.
Erica war ein ungewöhnliches Kind, von Anfang an. Bereits mit sechs Monaten konnte sie laufen. Sie erforschte ihre Umgebung mit neugierigen, großen Augen. Lydia glaubte es lag am Babyschwimmen und war sehr stolz auf ihr kleines, gesundes Mädchen.
Die Kleine schien das Wasser genauso zu lieben, wie ihr Vater es geliebt hatte. Mit drei Jahren konnte sie schwimmen und war ein ausgesprochen fröhliches Kind, das Lydia und Alice von Herzen vergötterten.
Ihre Entwicklung war erstaunlich, darin waren sich auch die Ärzte einig, nur sprechen konnte sie nicht, obwohl man keinerlei Hinweise auf einen Defekt der Stimmbänder gefunden hatte. Voller Sehnsucht wartete Lydia auf den Tag, an dem sie das erste Mal „Mama“ aus dem Mund ihrer Tochter hören würde, aber Erica schwieg.
Ihr Schweigen war nicht das einzige Auffällige an ihr. Es war nur zu offensichtlich, dass Erica keine anderen Kinder mochte, egal welchen Alters.
Auf dem Spielplatz im nahe gelegenen Park kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit anderen Müttern, weil Erica die anderen Kinder schubste, biss und zwickte. Lydia unterließ es fortan, in den Park zu gehen.
Nur zwei Tage später las sie in der Tageszeitung, dass man den Spielplatz vorübergehend gesperrt hatte, weil ein kleiner Junge dort verschwunden war. Lydia war entsetzt. Nicht auszudenken, wenn ihrer Erica etwas passiert wäre. „Was sind das bloß für grausamen Menschen?“ dachte sie und liebevoll nahm sie ihre Tochter in die Arme und küsste die Kleine auf die Stirn.
Langsam kehrte der Alltag in Lydias Leben zurück, wenn auch die Trauer um Eric nie ganz schwand. Immer öfter verbrachte sie ihre Nachmittage mit Karen, einer alten Schulfreundin, die einen zweijährigen Sohn namens Paul hatte. Ein niedlicher Bursche, dessen Mund nie stillstehen wollte, ganz im Gegensatz zu Erica, die nach wie vor beharrlich schwieg. Lydia hoffte, Erica würde es gut tun, mit ihm zusammen zu sein. Vielleicht würde sie auch irgendwann sprechen, wenn sie merkte, dass Paul ständig vor sich hin brabbelte.
An einem Sonntag hatte Karen Lydia gebeten, am Abend auf den Kleinen aufzupassen, da sie doch mit ihrem Mann gemütlich Essen gehen wollte, um ihren vierten Hochzeitstag zu feiern.
Für Lydia war das kein Problem und Alice freute sich, dass ein bisschen Trubel ins Haus kam, wie sie es ausdrückte.
Schon lange hatten sie nicht mehr so viel Spaß gehabt, und auch Erica schien sich sehr wohl zu fühlen in Pauls Gesellschaft. Der Nachmittag verlief ohne Zwischenfälle. Auch das Abendessen war gelungen. Paul mochte Fischstäbchen mit Kartoffelbrei genauso gern wie Erica.
Gegen sieben Uhr brachten die beiden, vom Herumtollen mit den Kindern erschöpften Frauen, Paul und Erica zu Bett.
Nachdem Alice schon schlafen gegangen war, sah Lydia noch etwas fern. Sie landete beim hin- und herschalten auf einem Fernsehkanal für Tierdokumentationen. Normalerweise lief um diese Uhrzeit „Crocodile Hunter“, aber nicht an diesem Abend.
Gebannt starrte Lydia auf den Bildschirm. Ihr Herz schlug nicht mehr im Takt. Es raste um die Wette mit den Stichen die durch ihren hämmernden Kopf schossen.
„…ungewöhnliches Verhalten. Ein ausgeprägtes Revierverhalten zeichnet den Sandhai aus und so fehlt ihm jegliche Möglichkeit zur Kommunikation mit Artgenossen. Nur in der Paarungszeit dulden sie andere Sandhaie um sich. Ansonsten verteidigen sie ihr Revier mit aggressiven Attacken. So kommt es immer wieder vor, dass der Sandhai sogar zum Kannibalen wird. Das beginnt bereits im Mutterleib, wo nur der stärkste Sandhaifötus überlebt und geboren werden kann. Während der Geburt……“
Lydia stand schwankend aus dem Sessel auf und ging leichenblass und wie paralysiert auf das Kinderzimmer zu, in dem sie Erica und Paul mit Hilfe von Alice schlafen gelegt hatte.
Sie öffnete die Tür und sah ihre geliebte Tochter aufrecht in Pauls Bettchen stehen. Ihre runden, schwarzen Augen funkelten. Die kleine Erica lächelte und streckte die Arme nach Lydia aus. Sie nahm das Mädchen aus dem Bett und stellte sie vorsichtig vor sich auf den weichen Teppich.
Liebevoll strich sie ihr mit der linken Hand über die sandfarbenen Locken, während sie mit ihrer rechten Hand ein Taschentuch mit dem Mund anfeuchtete, um das Blut von Ericas Lippen zu wischen.

 

Hallo dotslash,

Ich habe bisher Muscheln am Strand gesammelt, Haie leben aber im Wasser. Somit stand Lydia für mich höchstens in der seichten Wellenbrandung und wie kann sich da ein ganzes Rudel Haie tummeln?
Irgendwie sollte man Lydia etwas weiter ins Meer stellen.
Nun, ich habe mir das so gedacht.
Alls Kind war ich mit meiner Familie auf der Insel KrK. Wir haben in einer Bucht nach Muscheln getaucht. Wie die Dinger heissen weiß ich nicht. Wir nannten sie Perlmuttmuscheln. Die haben etwa das Aussehen einer menschlichen Ohrmuschel und glänzen wunderschön. Am Rand sind einige kleine Löcher, durch die man gut auffädeln kann. Und wir haben sie im Wasser gefunden. So etwa hab ich mir das vorgestellt. In einer Bucht, die manchmal keinen Sandstrand hat, sondern manchmal auch nur von kleinen Felsen umrahmt ist, ist es fast unmöglich, dass die Muschel ans Land gespült werden. So liegen sie also in Ufernähe im Wasser. Das in seinem ganzen Umfang zu schildern wäre dann aber doch zu viel in der Geschichte, denke ich.
Werde aber noch etwas an dieser Textstelle ändern, da sich mein Gedanke ja nicht unbedingt in der Stelle wiederspiegelt. So hast Du also Recht, dies zu bedenken zu geben.
Hoffentlich konnte ich die Fragezeichen von Deinem Kopf entfernen.
Ja, das konntest Du, danke. :)

Liebe Grüße, Susie

 

Hallo gbwolf,

Musste doch auch endlich den berühmt-berüchtigten "Sandhai" lesen und die Story hat mich wirklich überzeugt, auch wenn ich den Angriff etwas kurz und unspektakulär finde (Da kommt die Spannung kurz vorbei und - swupp - ist sie wieder weg).
Aber ansonsten sehr ungewöhnlich und überraschend!
Das er schon berühmt-berüchtigt ist hat mir noch niemand gesagt. Fühle mich sehr geschmeichelt.
Da die Spannung nur mal kurz vorbei geschaut hat, werde ich mir die Stelle noch einmal ansehen, länger verweilen als die Spannung und versuchen sie dahingehend zu verändern. Danke Dir für den Hinweis. :)

Es gibt übrigends viele Haisarten, die bevorzugt in Strandnähe und in flachen Gewässern kurz vor der Brandung jagen. Und wenn man mal Bilder sieht, wie weit ein Orca auf den Strand treibt, um eine Robbe zu erlegen - wow! Da wirds einem richtig Angst und Bange
:huldig: Danke.

Deinen Nickname finde ich auch Klasse! Da könnte man ja beinahe eine Kindergeschichte draus machen "Die Kürbiselfe und der Brokkolikobold" oder so (Am besten mit der Moral, dass auch Elfen und Feen nicht immer Barbie-Gardemaße haben müssen!).
Das wäre doch sicher eine Überlegung wert, gell? :D
Dass Du die Geschichte gern gelesen hast erfreut mein Schreiberherz. Vielen herzlichen Dank.

Liebe Grüße, die Kürbiselfe :)

 

Hi Kürbiselfe,


Wir nannten sie Perlmuttmuscheln. Die haben etwa das Aussehen einer menschlichen Ohrmuschel und glänzen wunderschön. Am Rand sind einige kleine Löcher, durch die man gut auffädeln kann. Und wir haben sie im Wasser gefunden.

Extrem offtopic: Das sind Schneckenhäuser, keine Muscheln. heißen tun sie - rate mal - Seeohren.

Biologischer Gruß,

Ronja

 

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