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Schatten

Seniors
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23.07.2001
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Schatten

Das Zimmer war in dunkles Zwielicht getaucht. Die Kerzen auf der Anrichte ließen lange Schatten mit dem Tanz der Flammen über Decke und Wände gleiten. Gedämpfte Musik strich mit zarten Klangfedern durch den Raum. Er genoß diese seltene Ruhe nach einem anstrengenden Tag. Der bequeme, schwere Sessel, das Glas Cognac, ein gutes Buch.
Heute war es anders. Etwas war anders. Er fühlte eine sonderbare Unruhe, die ihn schon den ganzen Tag verfolgt hatte. Es war nicht beängstigend aber permanent da, dieses Gefühl beobachtet zu werden. Gegen Mittag hatte es eingesetzt. Eine Ahnung, die man hat, wenn einem, zunächst unbemerkt, ein Kollege über die Schulter schaut. Aber da war Niemand. Es blieb den ganzen Tag. Es war offensichtlich, daß sein sonderbares Verhalten aufgefallen war, dieses ständige Umschauen, nach allen Seiten spähen. Dennoch fühlte er keine Beklemmung oder Angst. Es war nur auf eine seltsame Weise beunruhigend.
Es fiel ihm schwer, sich auf den Text zu konzentrieren. Immer wieder blickte er auf, sah sich im Raum um und versuchte dann erneut, in die Handlung des Buches einzutauchen. Immer wieder las er dieselben Sätze, ohne deren Bedeutung zu erfassen.
Der Tanz der Schatten hatte den Rhythmus der Musik aufgenommen und die feinen Silhouetten der Flammen wogten im Raum.
Wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt, richtete er seinen Blick auf die gegenüberliegende Wand.
Die Konturen waren kaum als Schatten zu erkennen, nur ein bizarrer Hauch von Grau, unbeweglich und starr, fast wie gemalt. Sein Herz schlug schneller und eine Spannung durchzog seinen Körper, immer noch keine Angst, eher ein Gefühl der Erwartung.
Er schloß die Augen. Er wollte sich nicht dem Gaukelspiel seiner Nerven hingeben. Er las weiter, Wörter und Sätze ohne Sinn.
Wieder hob er den Blick. Es war noch da. Und es war ein Schatten, deutlicher als zuvor, und wohl mit menschlichen Umrissen.
Er sprang aus dem Sessel. Mit zitternden Fingern suchte er den Schalter der Lampe. Licht flammte auf. Das Zimmer war wieder hell, der Zauber der Musik verflogen, die Schatten der Kerzen fort. Helligkeit drang in jede Ecke des Raumes und ließ keinen Platz für Geheimnisse.
Auch die Wand war so makellos weiß wie eh und je.
In Gedanken schalt er sich einen Narren, daß er sich hatte so gehen lassen. Er war überarbeitet, brauchte dringend Urlaub, Abstand von den Problemen im Büro, ein paar Tage fort, in ein anderes Land mit Sonne, Spaß und Abwechslung. Am nächsten Tag würde er mit seinem Vorgesetzten sprechen.
Müde wankte er ins Bad, um sich nachtfertig zu machen. Sein Spiegelbild ließ ihn erschrecken. Blasse Haut, rote Augen, müde Gesichtszüge. Er war gealtert in den letzten Wochen. Er hatte es eindeutig übertrieben. Gerade wollte er sich umwenden, da war wieder dieses Gefühl da, diese Ahnung nicht allein zu sein. Im Spiegel sah er in den Raum hinter sich: Wieder an der Wand. Er wirbelte herum, tastete mit ausgestreckten Händen die kalten Fliesen ab,- nichts. Erschöpft stieß er den Atem aus. Er brauchte Schlaf. Am nächsten Tag würde er alles regeln.
Die Stille im Schlafzimmer war auf eine nicht faßbare Weise unvollkommen. Es war wie immer. Das leise Rauschen der entfernten Straße, hin und wieder ein Knacken im Holz der Möbel oder sonst wo, alles vertraut. Eine Finsternis, die eigentlich keine war, zartes Mondlicht, das schwach durch die Vorhänge drang, hin und wieder verstärkt durch den Schein eines vorbeifahrenden Autos, der für Sekunden durch den Raum wanderte, mit Schatten spielte und wieder verging. Er hielt seine Augen offen, betrachtete jeden dunklen Bereich im Raum, jede Veränderung des Lichts, das auch eine Bewegung in der Schwärze zur Folge hatte. Alles war normal. Und doch wußte er, er war nicht allein.
Die Nacht war unruhig, Träume von grauen Nebeln, in denen menschliche Schemen auftauchten und wieder vergingen. Gesichter, die ihn ansahen, und sich wieder zurückzogen. Hände reckten sich ihm entgegen.
Das schrille Läuten des Weckers ließ ihn hochfahren. Mit einem Griff knipste er die Nachttischlampe an, sprang aus dem Bett und schaltete die Deckenbeleuchtung dazu. Mit gesenktem Blick lief er durch die Wohnung. Alles sollte hell sein. Keine Nische, in der sich ein Schatten verbergen konnte. Er war erschöpft und verunsichert. Die vergangene Nacht hatte keine Erholung gebracht. Da waren keine Reserven mehr, die er mobilisieren konnte. Was immer er gesehen hatte, ob Phantasie oder Realität, er wollte es ignorieren.
Die Morgentoilette brachte er in aller Eile hinter sich. Sein Haar kämmte er, ohne in den Spiegel zu sehen. Nie hob er den Blick. Er vermied es, weit in die Räume zu schauen. Er sah auf keine Wand und hetzte durch die Wohnung. Im Nu war er fertig, streifte die Jacke über, ergriff die Tasche und stürmte zur Wohnungstür.
Aber er hätte nicht aufblicken sollen.
Deutlich hob sich das dunkle Grau vom weißen Türblatt ab. Scharfe, menschliche Umrisse. Eine Wache aus einer anderen Dimension, die ihm den Weg ins Freie verwehrte. Kein gehauchter Schemen mehr, sondern scharf und unmißverständlich.
Er stoppte, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen, wirbelte herum und sah zu Boden. Jetzt kam die Angst doch. Jeder Herzschlag durchzog seinen Körper mit einem gewaltigen Ruck und schien dem Zittern neue Nahrung zu geben.
Irgendwo in seinem Innern erwachte ein letzter Funke Energie und ließ ihm klar werden, daß er raus mußte. Wenn er bliebe, würde er sich aufgeben. Flucht war die einzige Hoffnung. Ohne zu denken und voraus zu schauen, den Blick immer auf den Boden gerichtet, rannte er auf die Tür zu, riß sie auf und stürmte ins Treppenhaus, die Stufen hinunter und ins Freie.
Vor dem Haus ging er wie eine Besessener auf und ab, argwöhnisch beobachtet von den wenigen Passanten, die so früh unterwegs waren. Es dauerte Minuten, bis sich die ersten klaren Gedanken in seinem Bewußtsein formten. Bald darauf hielt ein Auto neben ihm. Mit seiner Kollegin bildete er seit langem eine Fahrgemeinschaft.
Ohne ein Wort stieg er ein und wurde mit besorgter Miene gemustert.
“Du bist kreideweiß. Was ist los? Bist du krank?” Unverwandt war sei Blick geradeaus gerichtet. Es war ihm unangenehm, jetzt auf einen anderen Menschen zu treffen.
“Es ist alles in Ordnung. Fahr ruhig los.”
Das Zittern in seiner Stimme verriet das genaue Gegenteil. Taktvoll beließ sie es dabei, legte den Gang ein und fuhr los.
Der andere Wagen kam aus einer Seitenstraße.
Der schrille Klang von sich verformendem Blech verband sich mit dem Klirren von Glas.
Er empfand keine Schmerzen, keine Panik mehr und keine Furcht. Nur ein seltsames Gefühl von Taubheit. Still lag er auf dem Asphalt. Er öffnete die Augen, sah in den herrlichen blauen Himmel mit den zarten Wolkenschleiern. Alles war gut. Auch als sich von der Seite ein Schatten in sein Blickfeld schob, ein grauer Schemen, den er schon einmal gesehen hatte.
Und in demselben Maß, wie ihn das Gefühl für seinen Körper verließ, nahm der Schatten Konturen an. Er blickte in warme liebevolle Augen, ein Lächeln, das Frieden schenkte. Die Hand, die ihn streichelte war von einer Zärtlichkeit, die er noch nie zuvor gespürt hatte. Erst jetzt hatte er die Sinne dafür.
Seit ihrem Tod hatte er nicht mehr solches Glück empfunden.
Sie hatte ihn aufhalten wollen.
Doch warum?
Sie war da und sie waren zusammen.

[ 24.04.2002, 16:12: Beitrag editiert von: Dreimeier ]

 

Hallo Adrian,
ich bin dankbar, daß du dir diese große Mühe gemacht hast.
Mit einer solchen Kritik kann man was anfangen und ich gebe dir auch überwiegend Recht.
Sofort ändern werde ich sie nicht, weil es bei mir immer eine Zeit dauert wieder an eine ursprünglich fertige Geschichte zu arbeiten.
Wegen Spaß und so.
Vielen Dank
Manfred
:)

 

Hey, das macht richtig Spaß deine ganzen alten Geschichten wieder hervorzukramen ! Dass du das mit der Frau´nicht erwähnt hast, fand ich sehr gut. Das Ende kam dadurch total überraschend.

Naja, die anderen Geschichten, die ich bisher von dir gelesen habe, fand ich spannender, aber ich haben dieses Thema noch nie so gut bearbeitet gesehen ! Boah ! Bisher gefiel mir zwar der realistische, alltägliche Touch in deinen Geschichten immer, aber dies hier ist auch nicht schlecht !

Ja, so kann man sich dieses Gefühl gut vorstellen. Ich such mal weiter nach anderen Geschichten... ;)

 

Hi Dreimeier!

Diese Geschichte ist wunderschön! Ein bisschen gruselt es einen, der Schluss ist irgendwie zu erwarten und trotzdem überraschend.

Nur der Schlusssatz, den finde ich übertrieben:

"....., das Glück vollkommen"

stört mich irgendwie. Das spürt man auch schon, bevor man diesen Satzteil gelesen hat.

Probier es mal aus!

Liebe Grüße
Barbara

[ 23.04.2002, 22:39: Beitrag editiert von: Barbara ]

 

Hallo Barbara,
Ich glaube, Du hast Recht. Ich habe den letzten Satz gekürzt und mit Adrians Tipp, den vorherigen Satz zu trennen wird auch deutlicher was ich wollte und ihr ja auch erkannt habt.
Besser so?
Danke für die Kritik
Manfred

 

muss adrian voll zustimmen, finde die ganzen formulierungen echt total klasse geschriebne, weil sie alle richtig schön bildlich sind. vielleicht hättest du die schemenhaften umrisse weiblicher beschreiben können oder ihn auf ein foto seiner frau gucken lassen oder so, denn am ende fangen die zahnräder erstmal an zu rattern! trotzdem find ich richtig gut!

 

hallo dreimeier,

ich muß schon sagen. atmosphäre und spannung - super geschichte!

ein paar kleine sachen:
- immer noch keine angst .... und direkt darauf, springt er aus dem sessel und hat zittrige finger?
- das mit dem vorgesetzen hätte ich einfach weggelassen, stört nur den lesefluß
- genauso mit der kollegin, so verwirrt und geängstigt wie er ist, steigt er bestimmt gleich in ein taxi...

grüße,
gb

 

Hi Dreimeier,

eine Geschichte, wie ich sie liebe.

Genau so wie du sie geschrieben hast, kann ich sie nachvollziehen.
Kein Satz dürfte meiner Meinung nach, verändert werden.

Das du den Schatten nicht in weibliche Formen beschreibst, finde ich sehr gut.
Auch das du nichts von der toten Frau erwähnst.
Sonst hätte man das Ende der Geschichte sofort erraten.

Dein Prot sagt: Sie wollte mich aufhalten, aber warum?

Ich glaube nicht, dass der Geist seiner Frau ihn aufhalten wollte.
Sie ist gekommen, ihn zu empfangen.
Seine Uhr war abgelaufen, niemand, auch kein Geist, hätte es verhindern können.
Eine wunderbare Geschichte. :)
Wieso habe ich die nicht früher gefunden? :hmm:

ganz lieben Gruß
coleratio

 

ProgMan,
Jo-oder-so,
brenham,
coleratio,
danke, daß ihr euch zu dieser alten Geschichte geäußert habt.
Ich hatte es ja schon etwas provoziert.
Meine Idee war schon so, daß der Geist der Frau ihn am Verlassen der Wohnung hindern wollte.
Sie wollte, daß er noch was von seinem Leben hat.
Es ist ihr nicht gelungen, was dann aber letztlich die Beiden wieder zusammengebracht hat.
Meine Überlegung ist, daß wir nicht wissen, was der Tot ist. Es ist grauenhaft für uns an den Tod zu denken und auch, wenn er kommt. Wenn das Sterben aber vorüber ist, mag sich etwas völlig Anderes öffnen, als das was man so befürchtet hat. Was dann ist, mag doch schön sein.
Eigentlich fürchten wir nur das Sterben und doch nicht das Totsein.
Danke für eure Vorschläge, ich werde sie in Erwägung ziehen.
Gruß
Manfred

 

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