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Schichtwechsel
Schichtwechsel
Tom kotze in den Rinnstein. „Er übergab sich in den Rinnstein“ wäre wohl eine niveauvollere Ausdrucksweise, aber sie wäre nicht einmal halb so treffend. Er hockte wie ein Häuflein Elend auf dem Bürgersteig und kotze sich die Seele aus dem Leib. Zwei Bifi und jede Menge von diesen entsetzlichen Partyhäppchen wanderten in der falschen Richtung durch seinen Körper. Die Party war genauso entsetzlich gewesen wie die Häppchen. Umso erfreuter war er gewesen, als endlich der Kerl mit den Drogen aufgetaucht war. Vielleicht hatte er sich etwas zu reichlich bedient. Die Suppe im Rinnstein aus Halbverdautem schien im sagen zu wollen, dass er sich definitiv ein klein wenig zu viel reingezogen hatte. Aber gottverdammt, er hatte was zu feiern und ein Recht darauf sich zu amüsieren. Er hatte vor ein paar Stunden die Zusage für „Die Tortenschlacht“ gekriegt, sein erster Kinofilm. Es war nur eine belanglose Komödie (noch nicht mal eine besonders witzige, wenn er ehrlich war), nicht viel besser als die beiden Fernsehfilme, in denen er die Hauptrolle gespielt hatte, aber es war ein Kinofilm und das hieß, dass er sich auf der verdammten Straße des Erfolges befand. Wenn er Glück hatte, würde der Streifen gut laufen, dann würden ihm jede Menge Angebote für ähnlichen Filme ins Haus segeln, er würde zwei, drei der weniger bedeutungslosen davon annehmen und danach könnte er endlich, endlich richtige Filme machen.
Es lief also alles großartig für Tom. Abgesehen davon natürlich, dass er gerade den Straßenrand mit seinem Mageninhalt verschönerte. Als es endlich vorbei war, würgte er noch zweimal trocken, dann machte er den Fehler aufstehen zu wollen. Unsanft landete er wieder auf seinem Hintern. Obwohl die Drogen sein Gehirn zurzeit noch nur auf Sparflamme arbeiten ließen, war er doch einsichtig genug, es nicht direkt noch mal zu probieren. Wahrscheinlich erleichterte der physische Schmerz die Lektion. Rückwärtig krabbelte er zur Hauswand und lehnte sich dagegen. Nach einem Moment des Sammelns richtete er sich an der Wand entlag auf. Mit jedem Zentimeter fing die Welt ein wenig mehr an zu schaukeln, aber er ließ sich davon nicht aufhalten. Dann verharrte er halbwegs aufrecht stehend, um der Welt ein wenig Zeit zu geben sich wieder zu beruhigen.
Tatsächlich schien sich das Gewanke ein wenig zu legen, als plötzlich eine Gestalt aus der Dunkelheit brach. Vielleicht waren es auch zwei, das konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht so genau sagen, aber was fest stand, war, dass diese Person (oder Personen) sich mit recht erheblicher Geschwindigkeit auf ihn zu bewegte. Toms kleine grauen Zellen hatten gerade mühsamst ausklamüsert, dass er sich vielleicht aus dem Staub machen sollte (seine scheinbar mit Pudding gefüllten Beine lachten kurz und herzhaft über diesen Vorschlag), da war die Person auch schon auf seiner Seite der Straße angelangt und wieder in die Dunkelheit eingetaucht.
Tom starrte angestrengt auf die Stelle kaum zwei Meter rechts von ihm, an der dieser Mensch verschwunden war. Nach einigem Blinzeln, konnte er vage erkennen, dass sich an diesem dunklen Fleck gerade zwischen zwei Straßenlaternen ein Eingang zu einem Hinterhof befand. Eine unbegründeter Stolz machte sich bei ihm breit, so etwa in der Art „Hey, für vollkommen zugedröhnt, kriegst du ja noch ’ne Menge mit!“, als eine zweite Person geradezu an ihm vorbeischnellte und ebenfalls in dem Eingang verschwand.
Unvermittelt spürte er einen letzten Rest von Mageninhalt aufsteigen und widmete sich wieder dem Rinnstein.
Luuk wollte dem Wogul gegen den Kopf treten, aber etwas vollkommen Unerwartetes geschah: Der Wogul biss sie in den Fuß.
„Beißen“ war eigentlich gar kein Ausdruck dafür. Er grub seine riesigen Hauer (sie hatte niemals zuvor einen Wogul mit einem solchen Gebiss gesehen) tief in das Fleisch um ihren Knöchel. Für einen Moment war sie wirklich fassungslos.
„Beißen, das darf doch wohl nicht wahr sein! So was von stillos! Was kommt als nächstes? Spucken, kratzen, Haare ziehen?“
Sie war jedoch routiniert genug, um sich von ihrer Entrüstung nicht aufhalten zu lassen. Sie zog ihren Tritt ganz durch, so dass der Kopf des Wogul gegen einen Müllcontainer krachte. Der Wogul verlor sofort das Bewusstsein, und seine Kiefer gaben ihren Knöchel wieder frei.
Verachtungsvoll betrachtete sie die am Boden liegende Kreatur. Sie hatte nicht schlecht Lust ihr den Bauch aufzuschlitzen und sie hier ganz langsam verbluten zu lassen. Aber dann dachte sie an den Gestank. Der Wogul verströmte jetzt schon einen recht starken Schwefelgeruch, und sie wollte nicht ungedingt herausfinden, wie er von innen wohl riechen mochte.
Wahrscheinlich hätte sie das stutzen lassen sollen. Dass dieses Exemplar einen Kiefer hatte, der jede Raubkatze vor Neid erblassen lassen würde, war schon ungewöhnlich genug, aber sie hatte noch nie einem Wogul gegenübergestanden, der so einen eigentümlichen, penetranten Geruch ausströmte.
Ich will lieber gar nicht wissen, wo du dich rumgetrieben hast, mein Freund, dachte Luuk. Als Konsequenz dieses Gedankens zog sie ein paar alte Zeitungen aus dem Müllcontainer, um den Wogul nicht direkt anfassen zu müssen, wenn sie ihm mit einem harten Ruck das Genick brach.
Ein klein wenig humpelnd trat sie aus dem Hinterhof. Der Knöchel tat nicht wirklich weh, es war eher ein merkwürdig dumpfes Gefühl. Sie rückte ein wenig näher in den Schein einer Straßenlaterne, um die Wunde zu inspizieren. Der Saum ihrer Hose war noch ganz trocken. Die Verletzung hatte überhaupt nicht geblutet und sah sehr undramatisch aus. Eine leichte Rötung auf beiden Seiten des Knöchels zeigte den Verlauf der Zahnreihen des Woguls. Wo seine Eckzähne zugeschlagen hatten, waren rotgeränderte, pfenniggroße Löcher, die recht tief aussahen, aber nicht sein konnten, weil einfach kein Blut daraus hervorquoll.
Das Bewusstsein nicht allein zu sein traf sie völlig unvorbereitet, so als habe ihr jemand von hinten eine Hand auf den Rücken gelegt. Da war ein kurzes, schlurfendes Geräusch. Ruckartig richtete sie sich auf, sah den Penner und erinnerte sich sofort deutlich ihn während der Verfolgung am Rande registriert zu haben. Er zog sich gerade vom Rinnstein zurück, den er mit seinem Essen verschönert hatte, und das Licht der Laterne spiegelte sich auf seinen schwarzen, glatten Lederschuhen. Teure Schuhe, sehr teure Schuhe. Kein Penner. Das war gar nicht gut. Penner kannten die Straße und sie kannten die Nacht. Menschen mit teuren Schuhen konnten nicht auf sich selbst aufpassen und weil niemand anderer jetzt hier war, hatte Luuk das Glück, dass sie dieser jemand sein durfte. „Diese Nacht entwickelt sich von Minute zu Minute unerfreulicher“, dachte Luuk, als sie sich widerwillig dem Typ mit den Schuhen näherte.
Tom betete, dass sein Magen endlich ganz leer war. Und als hätte Gott ihn dafür belohnen wollen, dass er sich endlich mal wieder meldete, tauchte aus dem Nichts ein Engel auf. Natürlich war sie nicht wirklich ein Engel, aber seine unscharfe Wahrnehmung gaukelte Tom vor, ihr schlohweißes Haar sei ein Heiligenschein, der ihren Kopf umschmeichele. Sie war auch nicht aus dem Nichts aufgetaucht, aber er war noch zu stoned, um ihr Herannahen bemerkt zu haben.
Der Engel lehnte sich zu Tom herunter und musterte ihn mit großen, dunklen Augen. Die Worte des Engels drangen wie aus großer Ferne zu ihm. Er versuchte ganz genau hinzuhören, aber er verstand sie einfach nicht. Die großen, dunklen Augen schauten jetzt ein wenig verärgert, und Tom sagte schnell: „Drummirzwek.“
Sie schaute unverständig und er konnte ihr das nicht verdenken, denn er hatte selbst nicht den blassesten Schimmer, was das heißen sollte. Der Engel ergriff jedoch nicht durch sein verstörendes Verhalten irritiert die Flucht, sondern sagte wieder etwas und langsam konnte er den Geräuschebrei tatsächlich zu sinnvollen Einheiten zerlegen (offenbar hatten seine fünf Sinne entschieden den Dienst wieder aufzunehmen und er war ihnen unendlich dankbar dafür).
„...und du hast ein Bröckchen Kotze im Mundwinkel hängen. Wahrscheinlich bist du selbst ein ziemlicher Kotzbrocken und hast gar nicht verdient, dass ich mir die Mühe mache, aber ich hab nun mal ein weiches Herz.“ Und mit diesen Worten beugte sie sich zu ihm herunter und zog ihn recht schwungvoll hoch. Hätte sich noch irgendetwas in seinem Magen befunden, wäre es wohl etwas zu schwungvoll gewesen.
Nun, da er sich wieder in der Vertikalen befand (wenn auch nicht aus eigener Kraft, der Engel trug einen erstaunlich großen Teil seines Körpergewichts mit dem seine Beine überfordert gewesen wären), fing das Geschaukele wieder an, aber wie schon gesagt, sein Magen war restlos leer, und so hatte die Sache fast schon etwas Spaßiges.
Als er keine halbe Stunde später aber um einiges nüchterner auf der Schwelle seines Apartments stand, erinnerte er sich nur sehr unscharf, dass der Engel ihn nur ein paar Schritte weit gestützt hatte, als (scheinbar wieder aus dem Nichts) ein Taxi aufgetaucht war, auf dessen Rückbank er verfrachtet wurde. Aber erinnert sich sehr genau, dass das Gesicht des Engels einen Moment lang nur Zentimeter von seinem eigenen entfernt gewesen war, und er würde niemals vergessen wie sie in diesem Augenblick gerochen hatte. Er glaubte es noch immer zu riechen, als er sich in den nächstbesten Designersessel fallen ließ, meinte ihr Gesicht wieder vor sich zu sehen, doch das Gefühl verschwand so plötzlich wie es gekommen war, und er sah nur noch die unaufgeräumte, viel zu teuer eingerichtete Wohnung, roch nur noch den abgestandenen Zigarettengestank und die Leere.
Im Dunkeln wippte er in dem Sessel und fragte sich, wann er zum letzten Mal das Gefühl gehabt hatte zu Hause zu sein. Nicht hier, sondern überhaupt. Er glaubte zumindest noch zu wissen, dass zu Hause einen eigenen Geruch gehabt hatte (wie das Mädchen, wie der Engel) nach frisch gewaschener Wäsche und Plätzchenteig und von einer altersschwachen Heizung schön aufgewärmter Luft.
Er meinte rekonstruieren zu können, dass es einen ganz pragmatischen Grund gegeben haben musste, warum der Engel plötzlich so nahe gewesen war (zum Greifen nah, ja). Hatte sie nicht etwas gesucht? Ja, sie hatte seinen Ausweis herausgekramt, damit sie den Taxifahrer anweisen konnte ihn nach Hause (Ha Ha!) zu schicken.
Und jetzt saß er hier und fühlte sich so nüchtern wie noch nie in seinem Leben, ernüchtert könnte man sagen. Und die immer nagende Einsamkeit war jetzt keine kleine pelzige Maus mehr, sonder ein großer nackter Elefant und in der Küche musste doch irgendwo noch eine Flasche Rotwein sein. Whiskey wäre jetzt besser, sicher, aber dass er den nicht da hatte, wusste er mit ziemlicher Sicherheit.
Die Weinflasche war tatsächlich noch da, neben dem edlen Ceran-Kochfeld, (das noch nie benutzt worden war und deshalb noch höhnisch dunkel vor Sauberkeit blitzte) im Vorratschrank (natürlich ohne Vorräte, wenn man die Rotweinflasche nicht mitzählte).
Er nahm sie heraus, drehte sie in der Hand, tat so als lese er das Etikett, während er überlegte, wo er wohl einen Flaschenöffner haben mochte. Er hatte keine Ahnung. Also stellte er die Flasche zurück und dachte dabei trotzig „Nützt ja doch nichts“.
Und so war es ja auch. Die ganze Flasche half vielleicht für den Rest der Nacht, aber ganz sicher nicht für länger.
So konnte es nicht weitergehen. Man musste irgendetwas anderes machen. Mit fiebriger Begeisterung dachte er, dass eine endgültigere Lösung hermusste. Die musste es ja geben.
Der Gedanke trieb ihn zurück hinaus in die Nacht.
Bald darauf
Unter ihm floss schmutziges Wasser dahin, und unter dem Gurgeln und Plätschern hörte er nicht das Scharren kleiner Krallen.
Die Brückentrolle waren wach und hungrig. Kleine, braune Körper, die dürr und schnell wie Spinnen aus ihrem Nest quollen und die Brücke emporkletterten.
Der Geruch des Todes hatte sie hervor gelockt, sabbernd und geifernd vor Vorfreude. Das Aroma lag unverkennbar über der Brücke und kündigte den Aasfressern eine reichhaltige Mahlzeit an. Eigentlich waren sie nur notgedrungene Aasfresser und hätten einen lebenden Menschen einem toten vorgezogen, doch es war sicherer abzuwarten.
Brückentrolle waren keine guten Kämpfer. Sie griffen höchsten aus dem Hinterhalt an, und auch nur wenn sie eindeutig in der Übermacht waren. Diese Herde war jedoch nicht so groß, dass ein ausgewachsener, gesunder, und vor allem lebenswilliger, Mann ein leichtes Opfer gewesen wäre, und so lauerten sie unter der Brücke auf seinen Tod.
Das taube Gefühl war von ihrem Fußgelenk bis zu ihrer Kniescheibe hochgekrochen. Es tat nicht im Geringsten weh, aber es war entsetzlich lästig und machte das Laufen recht anstrengend. Sie humpelte jetzt ziemlich offensichtlich.
Luuk hatte gerade beschlossen, es für heute mit der Patrouille gut sein zu lassen und zu jemandem zu gehen, der sich ihren Knöchel mal anschauen könnte, als sie jemanden auf der Brücke hocken sah. Da Menschen meist nicht zum Spaß auf Brücken sitzen, humpelte sie ein bisschen schneller. Und dann war sie nahe genug, um mehr als nur eine bloße Silhouette zu erkennen. Abrupt blieb Luuk stehen.
Tom hätte vor Schreck fast das Gleichgewicht verloren, als vollkommen unvermittelt hinter ihm eine Stimme erklang: „Ich fass' es nicht! Das ist also der Lohn für meine Mühen. Ich sorge mich darum, dass Sie sicher nach Hause kommen und noch in derselben Nacht wollen Sie sich das Leben nehmen. Hätten Sie da nicht früher drauf kommen können? Da hätten wir doch dann beide Zeit gespart gehabt!“
Der erste der Trolle verharrte regungslos. Ein neuer Geruch hatte sich beigemischt, ein Geruch den jeder Dämon kannte, der die Jungen auf den Rücken der Trollweibchen leise schluchzen ließ, der Geruch der Jägerin. Noch wesentlich behänder als zuvor, fast schon hektisch, trat die Meute den Rückzug gen Schlupfloch an.
Doch Tom fand das Gleichgewicht wieder und drehte sich um, nicht ohne sich sichernd am Brückenrand festzuhalten. Nun gibt es etwas, das man in einer Situation wie dieser ganz und gar nicht sehen will und das ist ein bekanntes Gesicht. Hinter ihm stand, die Arme in die Hüften gestemmt und ernstlich ein wenig verstimmt, sein Engel vom früheren Teil des Abends. Wenn man es ganz genau nahm, war sie nicht nur verstimmt, sondern gab sich alle Mühe ihn mit Blicken aufzuspießen.
„Die Welt ist ganz schön klein“, sagte er und hätte sich am liebsten dafür ins Gesicht geschlagen.
„Du willst also springen?“ fragte Luuk. In Anbetracht der Lage hielt sie es für durchaus angemessen zum „Du“ zu wechseln, und Tom tat es ihr gleich.
„Hör mal“, setzte Tom an, „ich bin dir ehrlich dankbar für den Heimtransport und ich bin mir sicher, dass du ein unheimlich guter Mensch bist, unter anderen Umständen würde ich das wahrscheinlich skrupellos ausnutzen und dich nach deiner Telefonnummer fragen, aber die Umstände sind nun einmal, wie sie sind. Also wäre es am besten, wenn du einfach so tätest als hättest du mich nie gesehen und nach Hause gingest, statt mich aufhalten zu wollen.“
„Aufhalten?“ fragte Luuk. „Wer hat denn hier was von aufhalten gesagt? Ich habe nur aus höflichem Interesse gefragt, was du nun vorhast.“ Ihre Wut war verraucht, sie fand das Ganze nun fast schon belustigend. Sie trat einen Schritt näher heran, so dass sie fast neben ihm war und hinunterschauen konnte.
Wieder war es der Oberste der Trolle, der es zuerst bemerkte. Er verharrte erneut und streckte die Schnauze in die Luft. Der Geruch der Jägerin war anders als sonst, er hatte eine wundervolle Note an sich. Auch an ihr klebte jetzt der Tod. Ein breites Grinsen zog über sein Gesicht. Auch die Anderen waren jetzt aufmerksam geworden und reckten nach und nach die Schnauzen empor.
Erneut kehrten die Trolle um.
Luuk warf einen Blick hinab und sagte dann ganz beiläufig: „Du weißt schon, dass das nicht gerade der eleganteste Abgang ist? Bedenkt man die Höhe, wirst du dir beim Aufprall auf die Wasseroberfläche zwar ein paar Knochen brechen, aber noch ziemlich lebendig sein. Was dann folgt, ist Tod durch Ersticken, ertrinken eben, und das ist äußerst unschön. Hinzu kommt, dass deine Leiche total blaugrün verquollen sein wird, wenn sie dich finden. Und dann erst der Geruch...Allein schon wegen dem Geruch solltest du lieber zu einer Überdosis Tabletten greifen, so einen Gestank sollten man seinen Mitmenschen nicht antun. Suizid ist noch lange keine Entschuldigung für so unsoziales Verhalten.“
„Ich habe doch gerade gesagt, dass es keinen Sinn hat, mich aufhalten zu....“, wandte Tom verzweifelt ein, aber Luuk schnitt ihm abrupt das Wort ab, indem sie eine Hand erhob und „Still!“ flüsterte. Er war erst zu perplex, um darauf überhaupt zu reagieren und starrte sie nur an, wie sie wiederum in die Dunkelheit unter der Brücke starrte. „Du musst sofort hier weg“, sagte sie nach einem Augenblick ohne den Blick abzuwenden. „Ich werde keinen Millimeter von der Stelle-“ setzte Tom zum Protest an (er war fest entschlossen sich nicht in seinen Selbstmord hineinpfuschen zu lassen), aber wieder schnitt sie ihm das Wort ab, indem sie ihn regelrecht anschrie und diesmal schaute sie ihn dabei an:
„Lauf! Verschwinde von hier!“
Dann sah er zu seinem Entsetzten eine krallenbestückte Hand, die über den Rand der Brücke griff.
Der Boden schien übersät mit kleinen, reglosen, braunen Körpern. Tom stand mittendrin, das Adrenalin pumpte noch durch seinen Körper, obwohl die Gefahr wohl vorüber war. Die Erkenntnis, dass er tatsächlich noch am Leben war, sickerte in sein Bewusstsein, er fühlte sich lebendiger denn je, wenn man es genau nahm.
Die junge Frau kniete ein paar Meter weiter auf allen vieren und schien unter ganzem Körpereinsatz zu atmen. Der Großteil der toten Trolle ging auf ihre Rechnung, aber sie hatte nicht einen Kratzer. Trotzdem kniete sie immer noch auf dem Boden.
Tom selbst hatte einen Riss am Ärmel seines blauen Armanihemdes, wie er gerade bemerkte. Er zog den Stoff etwas auseinander und betrachtete den oberflächlichen roten Striemen, den eines dieser abscheulichen kleinen Ungeheuer mit seinen Krallen bei ihm hinterlassen hatte.
Sie hustete. Es war ein hässliches, rasselndes Geräusch, das Tom zusammenzucken ließ.
Luuk wusste, dass sie starb. Sie glaubte zu spüren, wie sich das Gift, mit dem der vermeintliche Wogul ihren starken Körper verseucht hatte, seine Weg zu ihrem Herzen bahnte. Und noch viel deutlicher spürte sie, dass diese Erkenntnis zu spät kam. Sie war besiegt worden und hatte es bis zu diesem Moment nicht einmal bemerkt. Nach all den Jahren.
Sie war bereits sehr alt, viel älter als sie schien, und dennoch hatte sie nicht damit gerechnet. Vielleicht hatte sie einfach schon zu lange gelebt, als dass ihr der Tod noch real hätte erscheinen können. Es war als käme jemand zu Besuch, mit dem man einfach nicht mehr gerechnet hatte. Sie war überrascht, aber sie fürchtete sich nicht. Es gab nur eine Sache, die ihren Frieden damit störte: Sie wusste nicht, was werden sollte, wenn sie jetzt ging. Sie hatte sich nie gefragt, wie es mit der Welt nach ihr weitergehen sollte, und so traf sie die Frage nun mit der unvermittelten Wucht eines Donnerschlages. Was sollte nur werden?
Sie hustete wieder und mit einem zarten Klimpern glitt das Amulett an der schmalen Silberkette um ihren Hals aus dem Ausschnitt ihres Pullovers hervor. Sie hob es auf Augenhöhe, aber dadurch konnte sie sich nur noch mit einer Hand abstützen und das war zu wenig, denn sie wurde von Sekunde zu Sekunde schwächer. Sie kippte zur Seite weg.
Tom sah sie fallen und stürzte auf sie zu, aber er konnte sie nicht mehr auffangen. Eine Schreckenssekunde lang glaubte er, sie sei tot, wie sie so regungslos auf dem Bauch lag, aber als er sie herumdrehte, war ihr Blick klar und wach, obwohl er sich nicht sicher war, ob sie ihn wirklich registrierte. Sie hatte sich das Kinn aufgeschlagen, es war voll Blut.
Luuk starrte auf das Amulett, aber es war mit ihrem eigenen Blut beschmiert. Mit einer fahrigen Geste wischte sie es an ihrem Pulli ab.
„Alles in Ordnung?“ fragte Tom.
Dein Nachfolger ist doch hier, stand auf dem Amulett, bereit, sein altes Leben hinter sich zu lassen.
Luuk blickte auf. Mit einer viel zu schnellen Bewegung streifte sie sich die Kette ab und Tom über den Kopf. Er war vollkommen verwirrt und setze zu einer Frage an, aber bevor er überhaupt die passende für diese bizarre Situation gefunden hatte, öffnete sie bereits den Mund wie um zu antworten - doch alles, was herauskam, war ein gurgelndes Husten und dann lief ein schmales, aber unübersehbares, rotes Rinnsal aus ihrem Mundwinkel. Ihr Blick brach im selben Augenblick, und dann folgte nur noch Stille. Kein Husten, kein Atmen, kein Herzschlag. Wie in Zeitlupe stand Tom auf, machte ein paar Schritte rückwärts, dann drehte er sich um und ging davon. Er musste sich zwingen nicht ins Rennen zu verfallen, als er das Scharren kleiner Krallen hörte, der Rest der Herde, die Schwachen, Weibchen und Junge, die im Versteck gewartet hatten. Er drehte sich kein Mal um, aber seine Vorstellungskraft zeichnete ihm ein grausam genaues Bild davon, wie sie sich über den Leichnam hermachten.
Er wachte auf, in seiner Wohnung, in seinem Sessel sitzend. Der Rücken tat ihm weh und der Kopf sowieso. Es war stockfinster, sowohl drinnen als auch draußen. Überdeutlich sah er die roten Leuchtziffern des Anrufbeantworters von der Anrichte aus blinken. So würden sie noch eine zeitlang weiterblinken, denn sich anzuhören, wie sein Manager ihm vorbetete, wie viele lebenswichtige Termine er verpasst hatte, war das letzte, was er sich jetzt antun wollte.
Tom hatte keine Ahnung, wieviel Uhr es war. Eigentlich war er sich noch nicht einmal sicher, welcher Wochentag es war.
Er wusste nur, dass es dunkel war und dass er sehr lange geschlafen hatte und trotzdem noch total verkatert war.
Er hatte einen sehr merkwürdigen Traum gehabt, so merkwürdig, dass es wohl eher auf einen schlechten Trip zurückzuführen war. Einen Moment lang versuchte er sich zwanghaft daran zu erinnern, wie der Typ ausgesehen hatte, von dem er den Stoff gekauft hatte, damit er ihn in Zukunft meiden konnte. Schlechter Stoff war die Pest.
Er erinnert sich nicht an den Typ. Alles, was vor seinem inneren Auge vorbeizog, war der verrückte Traum Schrägstich schlechte Trip, und zwar in gestochen scharfer Qualität, so lebendig, dass es ihm Unwohlsein bereitete. Also hörte er auf, über irgendetwas nachdenken zu wollen.
Er ging ins Bad, drehte den Hahn auf und beugte sich herunter, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen, als etwas aus seinem Hemd rutschte. Ein silbernes Amulett schaukelte an einer Kette um seinen Hals hin und her und reflektierte das Licht der Neonröhre. Tom versuchte sich glauben zu machen, er hätte keine Ahnung, woher er diesen Anhänger hatte.
Er hob das Amulett auf Augenhöhe (und sagte sich, er hätte es nie zuvor gesehen.) Es hatte eine Inschrift, die lautete: Te saluto, venator! „Latein, großartig“, sagte er zu sich selbst, „das hilft mir jetzt wirklich weiter.“
Prompt begannen die Buchstaben zu rotieren. Er redete sich für einen Moment ein, er hätte nur etwas ins Auge bekommen und würde deshalb etwas verschwommen sehen, aber das funktionierte schon deshalb nicht, weil er die Umrisse des Amuletts sehr gut und genau sehen konnte. Dann blieben die Buchstaben wieder stehen, und Tom wollte erleichtert aufatmen, aber das blieb ihm im Halse stecken, als er sah, dass sich die Inschrift verändert hatte. Ich grüße Dich, Jäger!
Aus einem plötzlichen Impuls heraus riss er mit einem Ruck an der Kette, aber der einzige Effekt war, dass sich rote Striemen an seinem Hals bildeten. Er ließ sie wieder los, atmete ein paar Mal tief durch und beobachtete sich dabei selbst im Spiegel. Vor seinem inneren Auge begann wieder der Film, aber diesmal sah er nur eine Sequenz, immer wieder, in Großaufnahme. Er hatte die Kette über den Kopf gestreift bekommen, also konnte er sie doch selbst ganz einfach wieder abstreifen. Beinahe hätte er laut aufgelacht, über seine eigene Dummheit. Er wäre doch fast wegen diesem dummen Ding in Panik geraten, und dabei war es doch so einfach. Er griff nach der Kette.
Sie war zu eng. Es war einfach unfassbar. Nicht nur, dass er genau wusste, dass sie ihm die Kette über den Kopf gestreift hatte, problemlos, er hatte doch auch eben den Anhänger auf Augenhöhe gehalten, und das war doch unmöglich, wenn die Kette so eng sein sollte! Das war doch Irrsin! Mit abgehackten Bewegung, drehte er die Kette einmal, zweimal, dreimal um seinen Hals auf der Suche nach einem Verschluss, weil es einen geben musste, denn schließlich musste sie ja irgendwie an seinen Hals gekommen sein.
Nichts.
Er schaute wieder in den Spiegel und erschrak vor seinen großen, panisch glänzenden Augen. So sieht also ein Mann aus, der dabei ist den Verstand zu verlieren, dachte er. Dann kam ihm eine Idee. Er verließ die Wohnung mit ausgreifenden Schritten und wurde zunehmend schneller, fast als wäre er auf der Flucht. Er brauchte ein Geschäft, am besten so etwas wie einen Eisenwarenladen. Dort würde er eine Feile kaufen, und dann würde man ja sehen, wie stabil diese Kette war. Es dauerte eine Ewigkeit bis er auch nur in die Sichtweite eines Ladens kam, und als er den ersten erreichte, hatte dieser schon geschlossen, so wie der nächste und der übernächste. Tom lief noch schneller, bis er ans Ende der Strasse gekommen war und wusste, dass alle Läden geschlossen hatten. Es war wohl doch später als er angenommen hatte. Aus schierer Verzweiflung holte Tom das verdammte Amulett wieder hervor. Zu seinem Missfallen musste er feststellen, dass sich die Inschrift schon wieder verändert hatte. Es standen nur noch zwei kleine Worte darauf: Hinter Dir!
Sofort fuhr Tom herum, um einen Blick auf einen großes, haariges…Ding zu erhaschen, das auf ihn zugeschossen kam. Er konnte gerade noch einen Ausfallschritt zu Seite machen, um aus seiner Bahn zu gelangen. Die Folge war, dass das Was-auch-immer mit unheimlicher Wucht gegen den Laternenpfahl krachte, vor dem Tom gerade eben noch gestanden hatte. Das Ding sackte zu Boden und ließ den Pfahl verbogen zurück.
Und wieder gab es eine neue Inschrift auf Toms Amulett. Herzlichen Glückwunsch, neuer Jäger! Du hast soeben deinen ersten Werwolf erlegt.