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Schlecht gewählt, Sohn

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21.03.2004
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Schlecht gewählt, Sohn

Mike blickte auf das zerwühlte Bett und den anmutigen Körper, der sich darin räkelte.

Er hatte die wahre Liebe gefunden. Vor vier Jahren waren sie sich zum ersten Mal begegnet. La Traviata. Er saß in der Mitte und wusste sofort als die Sitzreihe aufstand, um einen verspäteten Gast durchzulassen, dass dies der Augenblick war, in dem sich sein Leben verändert hatte.

Wenn eine Beziehung als annähernd perfekt bezeichnet werden konnte, dann war es ihre. Natürlich gab es auch mal Streit um den misslungenen Härtegrad des Frühstückseis oder sonstige Bedeutungslosigkeiten. Aber meist mündeten derartige Auseinandersetzungen schnell in einem plötzlichen schallenden beidseitigem Gelächter. Oder im Bett.

Sie arbeiteten beide viel und engagiert. Beim Abendessen teilten sie ihre Erlebnisse miteinander, wobei nie einer den anderen dominierte sondern die Waagschalen ein vollkommenes Gleichgewicht erreichten. Irgendwann einmal hatten sie entschieden, beim Betreten des Schlafzimmers den inneren Schalter umzulegen und dem Tagesgeschehen den Eintritt in den Schrein ihrer Leidenschaft zu verweigern. Das war eines ihrer geheimen, äußerst wirkungsvollen Rezepte.

Als die Katze tagelang abends vor ihrer Haustür saß, waren sie sich einig, das arme Ding in ihrem Designer-Zuhause aufzunehmen. Sie verstanden sich wortlos und erörterten diese Frage zu keinem Zeitpunkt. Die zerfetzte Tapete rechts neben dem Flatscreen-Fernseher und der voll gepinkelte Teuer-wie-ein-Kleinwagen-Teppich ärgerten sie gleichsam. Doch sie liebten die destruktive Lulu und ihr Aufenthalt bei ihnen stand nie zur Diskussion. Als Lulu an einem verregneten Septembermorgen leblos auf der Straße vor ihrem Haus lag, begruben sie sie gemeinsam im Garten und verbrachten eine Nacht voller Tränen. Am morgen danach waren die Bettwäsche und das Laken klamm von ihrem gemeinsamen Tränensee, und sie entschieden, dankbar für die Momente mit Lulu zu sein, die Tapete nicht auszuwechseln und sich nie wieder eine Katze zuzulegen.

Jede Sekunde, die sie miteinander verbrachten, sogen sie gierig in sich auf. Sie waren sich jederzeit der Kostbarkeit des anderen bewusst. Ihr gegenseitiges Vertrauen war grenzenlos und berechtigt. Eifersucht war ein unnötiges Gefühl und so konnten sie all ihre Energie auf die positiven, lustbringenden, wärmenden Empfindungen verwenden.

Seine Freunde waren von seiner Wahl begeistert, und es gab zahlreiche Komplimente für seinen guten Geschmack. Nur seine Eltern – sie konnten bis heute nicht verstehen, dass Mike und Robert sich liebten.

 

Servus,

an der Geschichte ist glaub ich soweit nichts auszusetzen, sie ist flüssig und bündig geschrieben, stilistisch ganz gut. Die Gefühle kommen authentisch und nachvollziehbar rüber.
Allerdings ist die Pointe... naja... Wenn du sie weggelassen hättest und stattdessen zu lesen wäre: "Und jetzt ratet mal, warum die KG "Schlecht gewählt, Sohn" heißt!" Obwohl das auch nicht so aufregend gewesen wäre.
Für mein Empfinden ist Homosexualität eben etwas dermaßen Normales, dass ich am Ende nur dachte: Na und?

Gruß,
Artnuwo

:queen: <- (Das soll die Desert Queen sein)

 

Hallo lara,

ich hatte ja auch gehofft, dass Homosexualität inzwischen als so normal akkzeptiert wäre, dass sie nicht mehr für solche Pointen herhalten müsste.

Schade, da habe ich mich wohl getäuscht.
Leider ist diese Pointe auch noch der einzige Grund, warum diese Geschichte erzählt wird. Ansonsten bietet der Plot ja nur ein glückliches Paar, dass sich mal um Lapalien streitet, dessen Liebe aber nie gefährdet ist.
So viel Glück ist eigentlich jedem nur zu wünschen. :)

Da hilft leider die ganze Schreibtechnik nichts, der Plot ist für mein Gefühl versemmelt.

Trotzdem einen lieben Gruß, sim

 

Das "versemmelt" beziehe ich nur auf den Plot, nicht auf den Schreibstil.
Die Frage ist dabei für mich, warum sollte diese Geschichte ohne diese Pointe erzählt werden? Über eine glückliche Liebe, die nichts Besonderes hat, erzählt man in der Art meistens nicht. Der ganze Plot ist in seiner Form auf diese Pointe hin entwickelt und geschrieben worden. Er könnte ohne sie nicht existieren, egal wie gut er geschrieben ist.
Wenn es sich um Mann und Frau handeln würde, müsste man einfach abrupt enden wie im Märchten. "und wenn sie nicht ..." Es gäbe keinen Erzählanlass.

Dieses Märchenende hätte für die Geschichte übrigens was, denn es würde das vorher beschriebene Idyll für die Realität in Frage stellen. ;)

 

Artnuwo, Zao, Sim - Ihr Lieben,

ich habe bei dieser Story wahrscheinlich wirklich etwas Dummes getan: Als ich kurz davor war, auf den "Abschicken-Button" zu klicken, gefiel mir mein ursprünglicher Titel "Wahre Liebe" nicht mehr. Also habe ich ihn ganz spontan geändert.

Der neue Titel hat dem Ende der Geschichte die Überraschung genommen. Er verrät schon zuviel. Wäre ich in Euren Augen mit meiner ursprünglichen Titelzeile besser beraten gewesen? Oder habt Ihr noch eine andere zündende Idee?

Und noch ein Special für Sim:

sim schrieb:
ich hatte ja auch gehofft, dass Homosexualität inzwischen als so normal akkzeptiert wäre, dass sie nicht mehr für solche Pointen herhalten müsste.

Schade, da habe ich mich wohl getäuscht.


Du hast Dich ganz sicher nicht getäuscht. Aber betrachte es doch einmal anders herum - Homosexualität ist als so normal akzeptiert, dass sie für solche Pointen herhalten kann.

Lara

 

Hallo Lara,

verzeih, wenn ich noch einmal drauf rumhacke. ;)

Du hast Dich ganz sicher nicht getäuscht. Aber betrachte es doch einmal anders herum - Homosexualität ist als so normal akzeptiert, dass sie für solche Pointen herhalten kann.
Wenn deine Geschichte in sich politisch unkorreckt gewesen wäre, würde ich dir sofort recht geben. Bei dem Aufbau deiner Geschichte nicht. Das hängt sicher mit der Zeit zusammen, in der sie geschrieben wurde.
Vor zwanzig Jahren hätte ich diese Geschichte grandios gefunden, genau wegen dieser Pointe. Sie zeigt ein sich liebendes Paar und bringt die Menschen mit der abschlussbemerkung zum Nachdenken.
Inzwischen hat sich zum Glück so viel getan, dass die Normalität eines liebenden Paares unabhängig von deren Gechlechtern einfach akkzeptiert wird. Die Nase wird höchstens noch bei großen Altersunterschieden gerümpft.
Als Schwuler habe ich deine Geschichte genau deshalb spontan und auch bei mehrmaligem Lesen gerade wegen ihrer politischen Sauberkeit als Schwulenfeindlich empfunden. Ich weiß nicht, ob es jungen Menschen im Coming Out mit dieser Geschichte auch so geht.
Mir ging es aber leider so, auch wenn ich weiß, dass du sie nciht schwulenfeindlich gemeint hast.

Lieben Gruß, sim

 

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