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Schuld

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02.06.2001
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Schuld

Schon als der hünenhafte Butler die Eingangspforte öffnete, beschlich Branigan ein seltsames Gefühl. Vermutlich war es die für ihn völlig ungewohnte Umgebung, die ihn verunsicherte und anwiderte zugleich. "Mein Name ist Branigan. Ich wurde hierher bestellt", sagte er etwas unsicher, da er keine Ahnung hatte, wie man In einer solchen Situation standesgemäß reagierte.
Um Himmels willen: Dienstboten gab es nur im Fernsehen!
Der Mann rümpfte ein wenig die Nase und gab Branigan mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er eintreten solle. Dieser kam der Aufforderung unverzüglich nach und fand sich selbst in einer riesigen Vorhalle wieder.
"Wenn Sie mir bitte folgen wollen."
"Klar", antwortete Branigan.
An der Schwelle zu einem Wohnraum hielten beide inne. "Sir, Mister Branigan ist soeben eingetroffen", vermeldete der Mann mit. fester Stimme.
"Danke. Bitte lassen Sie uns allein und schließen Sie die Tür. Wir wollen nicht gestört werden."
Unwirsch schob sich Branigan an dem Mann vorbei. Hinter ihm wurde die Tür leise geschlossen. Endlich sah er sich seinem Auftraggeber gegenüber, der in einem pompösen Lehnstuhl saß und in einem Blatt Papier las. Langsam hob Thornedyke den Kopf und stellte Blickkontakt zu Branigan her. "Treten Sie bitte naher, Mister Branigan."
Branigan nickte und schritt zu dem getäfelten Schreibtisch. Er ließ sich in einem einfachen Holzstuhl nieder. Thornedyke lächelte, faltete das Blatt Papier sorgfältig zusammen und legte es in eine geöffnete Schublade. Der Holzstuhl nahm sich in dem Raum völlig fehl am Platze aus: Kunstvoll verschnörkelte Schränke hüllten das Zimmer in altehrwürdigen Glanz; die hintere, der Tür abgewandte Seite wurde von einem monströsen Bücherbord eingenommen, in welchem sich zahlreiche in Leder gebundene Bücher befanden; von der Decke baumelte ein im Sonnenlicht bläulich schimmernder Kristallluster herab; an der vorderen Raumseite prangte ein handgeknüpfter Wandteppich wie das gegerbte, mit Tarnmustern versehene Fell eines der Wissenschaft unbekannten Tieres. Jedes einzelne Exponat des Raumes schien kostbar und einzigartig in seiner Ausführung. Bis auf den klobigen Holzstuhl.
Aber auch Branigan, in Denim-Jeans, billigen Halbschuhen und einem T-Shirt mit dem Konterfei von Jimi Hendrix, der gerade seine teure Gitarre ruinierte, gekleidet, stahl dem Raum viel von dessen nobler Gesinnung.
"Ich hatte Sie mir etwas anders vorgestellt", begann Thorndyke.
"Ich wusste nicht, dass mein Auftraggeber, also Sie … nun ja, der gehobenen Schicht entstammt. Wenn ich gewusst hätte, in welchem Palast Sie wohnen, wäre ich natürlich in adäquater Aufmachung erschienen."
Branigan zwang sich, den Mund zu halten. Er schalt sich einen Idioten, der einen möglicherweise außergewöhnlich lohnenden Auftrag durch sein Quasseln und seine Ungehobeltheit zu vermasseln im Begriff war.
"Nein, das meinte ich nicht", beruhigte Thornedyke sein Gegenüber. "Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen."
Tatsächlich entspannte sich Branigan ein wenig.
"Ich stellte nur fest, dass Sie ganz und gar nicht der Klischeefigur eines alten Kriminalromans oder eines Film noir entsprechen. Bitte missverstehen Sie mich nicht: Für mich zählt einzig und allein die erbrachte Leistung."
Branigan konnte nicht umhin, den alten Mann für dessen Vermeidung des Wortes 'Mord' zu bewundern. "Ich werde Sie gewiss nicht enttäuschen. Ich habe noch nie einen Auftrag in den Sand gesetzt. Zuverlässigkeit ist eine meiner Devisen. Nebst Diskretion, versteht sich."
Zufrieden goutierte Thornedyke den letzten Satz mit einem Kopfnicken. "Ihr Mittelsmann hat mir mitgeteilt, dass Ihr Honorar von der Komplexität des jeweiligen Auftrages abhängig ist."
"Das ist richtig", bestätigte Branigan. "Es ist wie bei einem Pokerspiel: Man muss abwägen, ob das im Topf befindliche Geld das hohe Risiko denn überhaupt lohnt. Und glauben Sie mir: Es gibt immer ein Risiko, das ich zu tragen habe."
Beiläufig fuhr er sich durch das kurze, blonde Haar. "Wenn Sie mich jetzt bitte über den Fall ins Bild setzen möchten. Je eher ich anfangen kann, desto besser für uns beide."
Thornedyke pickte mit Daumen und Zeigefinger ein Bild auf, das neben der Schreibablage gelegen hatte, und reichte es Branigan. Ein kleiner Junge, höchstens fünf Jahre alt, starrte konsequent an der Kamera und somit auch an Branigan vorbei. Der Junge lachte nicht und wirkte bedrückt. Branigan schüttelte den Kopf und gab das Foto zurück.
"Tut mir Leid, aber es widerspricht einem meiner Grundsätze, Kinder zu eliminieren."
"Behalten Sie das Foto", erwiderte Thornedyke ruhig und gelassen. "Es wurde vor zwanzig Jahren geschossen. Der Name des Jungen lautet Harold O'Keeve. Der Vorname seiner Mutter war Amanda. Sie starb, als er fünf Jahre alt war. Harold wurde daraufhin in einem Waisenhaus in Two Points untergebracht. Über seine weiteren Lebensstationen befinde ich mich im Unklaren. Es ist gut möglich, dass er einige Jahre bei Pflegeeltern verbrachte und sich jetzt in einem anderen Bundesstaat, möglicherweise auch im Ausland aufhält. Es wird gewiss nicht einfach werden, ihn aufzuspüren, doch ich habe uneingeschränktes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten."
Branigan legte die Stirn in Runzeln. "Ich fürchte. Sie überschätzen mich. Ich bin kein Schnüffelhund ... ich meine, Privatdetektiv."
Keinen Widerspruch duldend winkte Thornedyke ab. "Nun, darin liegt doch ein gewisser Reiz, Mister Branigan, nicht wahr? Im Übrigen werde ich Sie hinreichend für Ihre erschwerte Arbeit entlohnen."
"Wieviel?", wollte Branigan wissen.
Augenblicklich entnahm Thornedyke der noch immer geöffneten Schublade des Schreibtischs einen weißen Briefumschlag und händigte ihn Branigan aus. "Das im Umschlag befindliche Geld ist selbstverständlich lediglich eine Art Vertrauensvorschuss. Das Erfolgshonorar beläuft sich auf die zehnfache Summe."
Neugierig öffnete Branigan den Umschlag. Die fünf druckfrischen Tausenderscheine fühlten sich in seinen Fingerspitzen wie feinste Seide an. Einen Moment lang verschlug es Branigan die Sprache.
"Fünfzigtausend?", brachte er schließlich heraus.
"Das erscheint mir nur gerecht", meinte Thorndyke. "Ich hoffe. Sie sind damit einverstanden."
"Ja, das bin ich."
"Gut", sagte Thornedyke mit einem breiten Grinsen, das sich von einem faltigen Ohr zum Nächsten zog. "Damit wären wir beide also im Geschäft, wie es in den meisten Filmen ebenso treffend, wie unverblümt heißt."
Fast geriet Branigan in Versuchung, den Kopf zu schütteln um zu überprüfen, ob dies ein wunderbarer Traum, oder doch die Realität war. Fünfzigtausend! Damit hätte er für ein, zwei Jahre ausgesorgt und hätte immer noch ein hübsches Sümmchen auf der hohen Kante.
"Ja, das sind wir."
Thornedyke nickte väterlich. "Ich denke, damit wären alle Fragen ausgeräumt."
"Noch nicht ganz", warf Branigan kleinlaut ein. "Vielleicht bin ich etwas zu neugierig. Aber weshalb wollen Sie diesen Harold loswerden?"
"Was ist mit Ihrer Diskretions-Devise passiert?"
Branigan schluckte trocken. "Sie haben natürlich vollkommen Recht. Das geht mich nichts an. Tja, Mister Thornedyke, dann will ich mich an die Arbeit machen."
Mit diesen Worten erhob sich Branigan.
"Warten Sie noch einen Augenblic.", sagte Thornedyke plötzlich. "Ich werde Ihnen sagen, was es mit Harold O'Keeve auf sich hat: Er ist mein Sohn."
Branigan steckte den Umschlag mit dem Geld in die hintere Hosentasche. "Ihr Sohn?"
"Nun, biologisch betrachtet. Er war gewiss kein Kind der Liebe, eher ein unbeabsichtigter Zwischenfall. Aber nichtsdestotrotz ist er mein Sohn. Allerdings ist das ein Geheimnis, das nur drei Personen teilen: Ich, der Arzt, der Harold entband, und Amanda. Der Arzt erhielt von mir ein beträchtliches Schweigegeld und Amanda ist auch ohne Geld zum ewigen Schweigen verdammt."
Was ist mit mir?, lag es Branigan auf der Zunge zu fragen, doch verkniff er sich eben diese Frage geflissentlich.
"Ich wollte Harold die Chance geben, sich zu profilieren, sich als würdig zu erweisen, der Erbe meines Vermögens zu sei.", setzte Thornedyke fort, und es schien Branigan, als spräche der alte Mann zu sich selbst. "Deshalb nahm ich ihn nicht in meine Obhut, sondern entließ ihn in ein ungewisses Schicksal. Leider verlor ich eines Tages jede Spur von ihm. Doch was ich bis dahin von ihm gesehen hatte, gefiel mir ganz und gar nicht. Er hat es nicht verdient, nebst meinen Genen auch mein hart erarbeitetes Hab und Gut zu erben."
"Und wenn er bereits tot ist? Oder unauffindbar?"
Thornedyke zuckte mit den Schultern. "In diesem Fall bleiben Ihnen die fünftausend Dollar Vorschuss."
Branigan wusste nun genug. Als er sich mit dem Versprechen auf den Lippen, das Erfolgshonorar einzustreichen, verabschiedete, geriet er zu der überraschenden Schlussfolgerung, dass der alte Mann nicht alle Tassen auf der Reihe hatte.

***

Bereits am nächsten Morgen suchte Branigan das St. Patricks-Waisenhaus in Two Points auf. Der Leiter des Heimes hatte ihm einen Termin am Vormittag zugestanden. Branigan hatte sich noch am Abend zuvor mit einem Teil des Vertrauensvorschusses neu eingekleidet. Ab und zu betrachtete er sich nicht ohne Stolz in den spiegelnden Schaufensterscheiben: Der Anzug saß perfekt, und die fast hundert Dollar teure Krawatte aus echter Seide rundete die Camouflage des seriösen Privatdetektivs stilgerecht ab.
Tatsächlich hatte er kurze Zeit mit dem Gedanken gespielt, einen echten Privatdetektiv auf die Fährte des zum Tode verurteilten Harold O'Keeve anzusetzen. Aber das Risiko wäre viel zu hoch gewesen. Falls es ihm nicht gelänge, den Mord an Harold O'Keeve als einen Unfall oder tragischen Raubmord zu tarnen, könnte er unter Umständen auffliegen, wenn der auf O'Keeve angesetzte Schnüffler Wind davon bekäme und eins und eins zusammenzählte.
Also blieb letztendlich die ganze Verantwortung doch auf Branigan liegen. Wenigstens hatte ihm Jake, der ihm seit Jahren die 'Aufträge vermittelte, einen falschen Personalausweis sowie eine nicht weniger täuschend echt wirkende Lizenz zugesteckt. Jakes Verbindungen waren Goldes wert, weshalb er stets vierzig Prozent Anteil am Auftragshonorar kassierte.
Dummerweise war Jake jedoch nicht nur ein väterlicher Mentor, sondern auch ein drogenabhängiger Junkie. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich eine Überdosis verpassen und Branigan das ganze Geschäft überlassen würde. Es stand somit ein nicht unwesentlicher Sicherheitsfaktor hinter dem Bestreben Branigans, den Auftrag sauber und korrekt zu erledigen.
Das Zimmer des Heimleiters war penibel ordentlich aufgeräumt. Obwohl der harzige Duft von Kiefernnadeln penetrant den ganzen Raum ausfüllte, vermochte Branigan den unmissverständlichen Odem von Alkohol aus der Luft zu filtern und zu erkennen. Sarandon erwartete ihn bereits und lächelte.
"Mister Sarandon? ich bin Aaron Moon", begann Branigan und schloss hinter sich leise die Tür. Augenblicklich erhob sich Sarandon und schüttelte Branigan die Hand.
"Guten Tag. Setzen Sie sich doch bitte, Mister Moon."
Branigan kam der Aufforderung dankend nach. Sein linkes Bein schmerzte erstmals nach langer Zeit wieder. Er musste irgendwann einen Arzt aufsuchen.
Die Fensterflügel waren nach außen geöffnet. Feingliedrige Whiskyäderchen zierten das ovale Gesicht Sarandons.
Branigan wusste, was das zu bedeuten hatte: Jemand, dem man Kinder anvertraute, nahm es mit seinen Pflichten nicht allzu genau. Ihm konnte das nur recht und billig sein. Es würde die Sache erheblich vereinfachen.
"Nun, worüber wollten Sie mit mir so dringend sprechen?“
Branigan reichte Sarandon die gefälschten Papiere. "Ich bin Privatdetektiv", sagte er, während Sarandon die Papiere gelangweilt durchblätterte. Vermutlich hätte er selbst bei einer drittklassigen Fälschung nicht den geringsten Verdacht geschöpft.
"Die Sache ist folgende", erläuterte Branigan, während er die Papiere retour erhielt. "Eines Ihrer ehemaligen Heimkinder ist überraschend Haupterbe eines beträchtlichen Vermögens geworden. Unglücklicherweise liegt aber dem Verwalter der Erbmasse keine Angabe über den Aufenthaltsort des Erben vor, weshalb ich ihn ausfindig machen soll.“
Sarandon blickte ein wenig skeptisch drein. "Wenn ich das recht sehe, benötigen Sie meine Hilfe, um Ihren Auftraggeber nicht zu enttäuschen, ja?"
"Korrekt", bestätigte Branigan knapp und nestelte an seiner Krawatte herum.
Sarandon seufzte gedehnt und faltete die rauen Hände. "Um ehrlich zu sein: Ich war noch nie zuvor mit einem derartigen Problem konfrontiert und weiß daher nicht, ob ich ermächtigt bin, Ihnen einfach so Auskunft zu geben."
Mit diesem Einwand hatte er gerechnet.
"Nun, ermächtigt sind Sie, aber nicht verpflichtet", sagte Branigan mit stoischer Ruhe, obwohl der sadistische Teil ihn ihm die Information aus Sarandon am liebsten herausgeprügelt hätte. "Mein Auftraggeber müsste bei Gericht einen entsprechenden Antrag stellen, doch das würde unnötig viel Zeit vergeuden."
Er ließ die Worte wirken, hoffend, der leise Vorwurf würde Sarandon weich machen. Nachdenklich leckte dieser mit der Zungenspitze die Lippen. Vielleicht sehnte er sich nach einem Schluck Scotch, um den Vorgang des Denkens ein wenig zu beschleunigen.
"Welche Bedeutung könnte es für mich haben, Ihnen die Information ohne großes Tamtam zu verschaffen?", fragte Sarandon schließlich, verschmitzt grinsend wie ein kleiner Junge, der durch das Schlüsselloch in eine Mädchen-Umkleidekabine linste. Branigan verstand den Wink und nahm sein Portemonnaie zur Hand. Mit einer geschickten Handbewegung zückte er einen Hundert Dollar-Schein und strich ihn demonstrativ langsam auf der kalten Arbeitsplatte des Schreibtisches glatt.
"Kann ich damit Ihre Frage als beantwortet auffassen?"
Sarandon starrte wie hypnotisiert auf den Geldschein. Zu Branigans tiefster Enttäuschung schüttelte er jedoch den Kopf und blickte hoch. "Sie scheinen Ihre Zeit gerne zu vergeuden", stellte er trocken fest.
Branigan wusste, dass jeder Mensch korrumpierbar war. Die meisten mit Geld oder Macht. Vor ihm saß ein Vertreter der Spezies ‚Unersättlich’. Auf die geänderte Situation reagierte Branigan, indem er auf ‚Unnachgiebig’ schaltete. Er nahm den Geldschein an sich und stand auf.
"Ich hielt Sie für klug genug um zu wissen, dass man Gelegenheiten wie diese nicht ungenutzt verstreichen lassen sollte. Leider habe ich mich geirrt. Ich werde in ein paar Tage mit einem gerichtlichen Bescheid wiederkommen. Dann wird es jedoch keine finanzielle Vergütung mehr geben."
Branigan wandte sich um zum Gehen, hielt aber inne, als Sarandon einlenkte. "Warten Sie, bitte. Ich nehme Ihr, äh, Angebot an."
Lächelnd vernahm Branigan den kleinlauten Tonfall.
"Wie lautet der Name des Erben?"
"Harold O'Keeve. Das Jugendamt überwies ihn in dieses Heim, als er fünf Jahre alt war. Das war vor zwanzig Jahren."
Etwas unglücklich nickte Sarandon und schritt an einen der Aktenschränke, die dem Zimmer einen sterilen Charakter verliehen. Der Heimleiter musste nicht lange suchen, bis er den passenden Aktenordner gefunden hatte.
"Mit elf Jahren wurde er von einem Ehepaar adoptiert. Ich werde Ihnen die Adresse und die Namen der beiden aufschreiben, kann aber natürlich nicht dafür garantieren, dass Sie das Ehepaar unter dieser Adresse noch auffinden."
Gönnerhaft drückte er Sarandon den Geldschein in die offene Hand und erhielt seinerseits einen Post it-Zettel mit einer Adresse und zwei Namen. Für Branigan bestand kein Zweifel an der Tatsache, dass die dümmsten Menschen am einfachsten zufriedenzustellen waren.

***

Branigan hatte auch weiterhin Glück: Mrs. Marsh bewohnte noch immer das Haus in der Eastside. Nachdem er sich höflich vorgestellt und seine Lizenz wie den Beweis unermesslicher Macht präsentiert hatte, war er von Mrs. Marsh in die Wohnstube gebeten worden. Branigan beneidete Harold O'Keeve für dessen Privileg, eine Vergangenheit zu besitzen. Er selber war außerstande, sich der meisten seiner Lebensjahre zu entsinnen. Es schien, als habe sein Leben mit Verspätung begonnen.
"Harold?", fragte die etwa sechzigjährige Frau und wandte dabei ihren Blick von Branigan ab. "Ich weiß nicht, was mit ihm geschehen ist. Ich wünschte, ich wüsste es, aber ... er wurde meinem Mann und mir genommen, als er noch keine vierzehn Jahre alt war."
Tränen sammelten sich in den müde wirkenden Augen.
"Das tut mir Leid", sagte Branigan, darauf bedacht, Mitgefühl zu heucheln. "Ist er gestorben?"
"Ich weiß es nicht. Er kam eines Tages nicht von der Schule nach Hause. Seither fehlt jegliches Lebenszeichen von ihm. Die Polizei glaubt, dass er entführt wurde. Aber es gingen niemals irgendwelche Lösegeldforderungen bei uns ein."
Die Frau schluchzte leise, was ihr sichtlich peinlich war, da sie sich bei Branigan entschuldigte. Zaghaft trocknete sie die Tränen mit einem Taschentuch. "Das war nicht fair, einfach nicht fair", keuchte sie mühsam. "Mein leibliches Kind starb kurz nach der Geburt. Es hörte plötzlich zu atmen auf. Nach einer langen Trauerzeit beschlossen mein Mann und ich, ein Kind zu adoptieren. Wir waren so glücklich, diesen wunderbaren Jungen zu unserem eigenen Kind machen zu dürfen, aber …. “
Erneut standen Tränen in ihren Augen.
"Wenn Sie jemals etwas von ihm erfahren sollten, werden Sie es mich wissen lassen? Diese entsetzlich Ungewissheit nagt an meinem Verstand und ich-"
"Natürlich werde ich das", erwiderte Branigan rasch. Eigentlich hatte er angenommen, eines Gefühls wie Mitleid nicht mächtig zu sein. Jetzt verspürte er eben jenes Gefühl, pochend, wie ein unbewältigter Schmerz, der sich durch sein Innerstes fraß. Was war bloß nicht in Ordnung mit ihm? Er hatte ein Dutzend Menschen eliminiert, ohne mit der Wimper zu zucken. Er fand es an der Zeit, sich zu verabschieden.
"Bitte verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit. Ich werde jetzt gehen."
Mrs. Marsh nickte. "Sie haben keinen Anlassß, sich zu entschuldigen, da Sie ja nicht wissen konnten, dass-"
Abrupt beendete sie den Satz. Schmerz lag in ihrer Stimme. Auf dem Weg zur Tür bemerkte Branigan ein gerahmtes Foto, das einen Jungen zwischen zwei Erwachsenen stehend abbildete. Unter dem Foto stand auf einem eingeschobenen, karierten Zettel in sorgfältiger Schrift: 'Mum, ich und Dad vor dem Capitol'.
Eine ungeheuerliche Erinnerung blitzte In ihm auf. "Mrs. Marsh, könnte ich Sie um einen Gefallen bitten? Dürft« ich mir diesen Zettel ein paar Tage ausleihen?"
Mrs. Marsh blickte ihn verwundert an und zuckte dann verständnislos die Schultern. "Wenn es Sie bei der Suche ein Stück weiterbringt, gerne."

Tatsächlich nahm die Wahrheit ihren Lauf. Sehr zum Entsetzen Branigans, der bei weitem nicht so abgebrüht war, wie er bislang angenommen hatte.

***

Thornedyke saß, wie schon bei der ersten Begegnung der beiden Männer, hinter dem Schreibtisch. Aber diesmal hatte er Branigan nicht erwartet. Dem entsprechend erstaunt zeigte er sich, als Branigan das Zimmer forsch betrat. "Mister Branigan. Ich dachte schon, ich würde nichts mehr von Ihnen hören! Haben Sie Ihren Auftrag erledigt?"
"Sparen Sie sich diese dummen Worte", zischte Branigan wütend und schritt dabei an eines der Fenster. Er konnte dieser Schlange in Menschengestalt, diesem Monster nicht direkt gegenübertreten. Stattdessen betrachtete er die Grünanlage. Von dem kurz geschnittenen Gras schien ein geheimnisvolles Leuchten auszugehen.
"Sind Sie wütend, weil Sie versagt haben?", fragte Thornedyke leichthin, während er das Buch beiseite legte, in dem er geschmökert hatte.
"Ich habe versagt, ja. Doch Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jene Art des Versagens war, die Ihnen vorgeschwebt hatte. Sie haben mich in fast allem belogen."
"Ich kann Ihnen leider nicht ganz folgen", warf Thornedyke ein. Branigan bestrafte diese Lüge mit einem hasserfüllten Blick in Richtung des alten, reichen Mannes. Branigan wandte sich wieder dem Rasen zu, wo ein Eichhörnchen über das kurze Gras wuselte. "Sie wussten genau, dass meine Suche nach Harold O'Keeve rasch beendet sein würde, und zwar erfolglos, denn etwas anderes wollten Sie nicht."
"Warum ließen Sie mich dann fast eine Woche im Ungewissen?"
Branigan stieß ein heiseres Lachen aus. "Damit hatten Sie nicht gerechnet, nicht wahr? Sie wollten mich geknickt sehen, gedemütigt, erfolglos, um mir auf diese Weise die Wahrheit ins Gesicht spucken zu können. Das wäre Ihr Triumph gewesen.“
Beide schwiegen einige Sekunden lang. "Sind Sie daran interessiert, wie ich es doch noch herausfand?", sagte Branigan endlich.
Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort: "Zufällig fiel mir ein von Harold verfasstes Schriftstück in die Hände. Um genau zu sein: Es waren nur ein paar Wörter, aber erst dadurch gelangte ich in den Besitz der Wahrheit, denn die Schrift kam mir merkwürdig vertraut vor. Ich ließ sie mit meiner eigenen Schriftprobe graphologisch untersuchen. Wie der Experte mir wenig später ausdrücklich erklärte, sei er ziemlich sicher, dass es sich um ein und denselben Schreiber handle. Das machte mich ein wenig stutzig, umso mehr, als dieser Harold sich in etwa in meinem Alter befinden musste. Entgegen lieb gewonnener Gewohnheiten wurde ich neugierig.
Amanda O'Keeve hatte Zeit Ihres viel zu kurzen Lebens in Median gewohnt, also machte ich mich auf den Weg dorthin. Eine ehemalige Nachbarin und Freundin erinnerte sich an Amanda und war nur all zu gerne bereit, mir zu sagen, was ich wissen musste. Sie können sich nicht vorstellen, wie erstaunt ich darüber war, dass die Version dieser Dame sich erheblich von jener unterschied, die Sie mir vor einer Woche anboten."
"Tatsächlich?", sagte Thornedyke sarkastisch und sichtlich amüsiert.
"Nun", setzte Branigan fort, ohne sich im Geringsten aus dem Konzept bringen zu lassen, "es hieß, Amanda wäre einer Vergewaltigung zum Opfer gefallen, die Harold zur Folge gehabt hätte. Die bedauernswerte Amanda ertrug ihr Schicksal tapfer und überwand das furchtbare Trauma des Verbrechens. Auf keinen Fall aber wollte sie das Kind zur Welt bringen, weshalb sie eine Abtreibung für die einzig vernünftige Möglichkeit hielt. Doch ihre Eltern wollten von einer Abtreibung nichts wissen und appellierten an das katholische Gewissen ihrer Tochter. Amanda beugte sich dem Druck und gebar Harold O'Keeve.
Anfangs verhasst, gewann sie ihren Sohn lieb und brachte ihm jene Mutterliebe entgegen, die sie niemals geben zu können erwartet hätte. Aber fünf Jahre später nahm sie sich aus unerfindlichen Gründen das Leben. Und wissen Sie was? Ich bin überzeugt, dass sie es nicht aus freien Stücken heraus tat. Jemand half ein wenig nach. Amanda s katholische Erziehung hätte ihr den Gedanken an Selbstmord unerträglich gemacht. Bodenken Sie, dass es damals noch als schwere Sünde galt, Suizid zu begehen.
Und damit komme ich auf einen anderen Punkt zu sprechen: Vielleicht wurde Amanda gar nicht von einem unbekannten Mann vergewaltigt? Vielleicht wollte sich der Vater des Kindes aus seiner Verantwortung stehlen und überredete Amanda, eine verlogene Geschichte in die kleine Stadtwelt zu setzen?"
Branigan wurde von einem überwältigenden Gefühl der Freiheit erfüllt. Er wollte den alten Mann zerknirscht seine üble Schuld eingestehen sehen.
"Übrigens habe ich auch über Sie ein paar Informationen eingeholt. Mit Amanda O'Keeve wurden Sie zwar nicht in Verbindung gebracht, aber die Dame wusste trotzdem einiges über Sie zu berichten. Sie waren ein durchtriebener, kleiner Gauner.
Unmittelbar nach dem Selbstmord von Amanda O'Keeve kehrten Sie Median den Rücken zu, um in einer anderen Stadt Ihr Glück zu versuchen. Aus sicheren Quellen weiß ich, dass Sie einem mächtigen Syndikat angehören, aber das spielt hier keine Rolle. Was hingegen eine gewichtige Rolle spielt, ist die Frage nach meiner mir gestohlenen Vergangenheit.
Meine Erinnerungen reichen nicht sehr weit zurück, etwa ein Jahrzehnt. Was aber liegt hinter diesen Jahren? Und was, oder sollte ich sagen wer, formte mich zu einem gefühllosen Monster?“
Branigan zwang sich zu einem humorlosen Lächeln. "Waren es vielleicht Sie, mein mutmaßlicher Vater?"
Eine Minute verstrich, in welcher keiner der beiden Männer die Stille durchbrach. Schließlich nickte Thornedyke.
"Du bist klüger, als ich dachte", murmelte er und stieß einen Seufzer aus. "Auf meine Anweisung hin wurdest du damals entführt. Und programmiert zum Töten."
Programmiert. Branigan hatte ähnliches bereits vermutet, doch die endgültige Gewissheit traf ihn unvorbereitet. Bis zuletzt hatte er der Hoffnung angehangen, sich zu irren. Da er nun in seinen Überlegungen bestätigt wurde, fiel jede Hoffnung von ihm ab.
"Hatte Jake etwas damit zu tun?"
Thornedyke schüttelte den Kopf. "Nein, nicht direkt. Wir gaben dich in seine Obhut, aber er ist, was er zu sein scheint: Ein Junkie ohne Skrupel und Gefühle. Menschlicher Abfall. Wie du es bist."
Mit erstaunlicher Leichtigkeit packte Branigan Thornedyke am Kragen und zog ihn vor sein Gesicht. Thornedyke verzog keine Miene. "Jemand sollte Sie töten", flüsterte Branigan, vor Hass auf den alten Mann brennend. "Aber ich werde es nicht sein."
Er ließ Thornedyke los, der einen Schritt zurücktaumelte. "Ich werde es nicht tun", wiederholte Branigan leise.
"Oh Harold", sagte Thornedyke mit verächtlichem Tonfall, "wenn du wüsstest, wie sehr ich dich hasse."
"Warum? Sagen Sie mir, warum.", wollte Branigan wissen.
"Ich habe Amanda mit meiner ganzen Seelenqual geliebt. Und ich glaube, dieses Gefühl wurde erwidert. Aber du hast unser Glück zerstört."
"Reden Sie nicht von Liebe. Davon verstehen Sie genau so wenig wie ich", unterbrach Branigan, doch Thornedyke fuhr unbeirrt fort.
"Es war, wie du es gesagt hast: Eine Abtreibung kam nicht in Frage. Also musstest du geboren werden, wider aller Vernunft. Wir einigten uns darauf, dich zur Adoption freizugeben. Dies wäre für alle Beteiligten die beste Lösung gewesen. Ich wollte mit Amanda in einer anderen Stadt ein neues Leben beginnen. Auch damit war sie einverstanden. Doch als es soweit sein sollte, zögerte sie. Amanda wurde von Panik ergriffen und wollte dich nicht fremden Menschen überlassen.
Alles, was ich für Amanda jemals gewesen war, galt nun dir. Kannst du mir verdenken, dass ich dich hasste? Ich hätte ein ehrbares Leben aufbauen können, doch du hast mir die Chance dazu genommen. Und in einer dunklen Stunde entschied ich, deine Nemesis zu sein. Natürlich hätte ich dich irgendwann töten können, aber ich wollte dich in Unglück ertrinken sehen. Als du plötzlich adoptiert wurdest, hegte ich die Hoffnung, du würdest in noch größeren Schmerzen versinken. Wie groß war meine Enttäuschung, dich glücklich zu sehen. Da erwuchs in mir eine grandios niederträchtige Idee: Du solltest dein eigenes Unglück heraufbeschwören! Du solltest Tod über deine Mitmenschen bringen.
Wenn ich schon in der Hölle meine Sünden verbüßen sollte, dann wollte ich es mit dir an meiner Seite tun."
Plötzlich fiel jeglicher Zorn, jeglicher Hass von Branigan ab. Er fühlte sich nur noch müde. "Bedaure. Ich fürchte, Sie müssen ihre Sünden ohne meine Wenigkeit verbüßen."
Mit diesen Worten kehrte Branigan dem Mann, der den Keim des Bösen in ihn gepflanzt hatte, den Rücken zu.
"Was hast du vor?", fragte Thornedyke erstaunt.
"Ich gehe jetzt. Nehmen Sie doch einen Ihrer beschissenen Mafiafreunde in die Hölle mit, wenn Sie Angst vor der Einsamkeit haben", antwortete Branigan lächelnd.
"Du kannst nicht gehen!", schrie ihm Thornedyke hinterher. "Ich habe dich um dein Glück, um dein ganzes Leben betrogen! Du musst mich töten!"
"Adieu", sagte Branigan.
"Komm zurück!", kreischte Thornedyke, außer sich vor Wut. Branigan warf einen letzten Blick zurück und verspürte nur noch Mitleid mit seinem Vater. Der erste Schritt zu seiner seelischen Genesung war getan. Er war eines menschlichen Gefühles mächtig.

***

Zwei Kilometer nordwestlich der Kleinstadt Median befand sich der Friedhof. Obwohl Branigan keiner Konfession angehörte, fühlte er sich im Moment des Betretens des Areals dazu genötigt, ein stummes Gebet zu sprechen.
Es nahm etwa eine Viertelstunde in Anspruch, das Grab von Amanda O'Keeve zu finden. Es war ein schlichtes Grab, über dem ein metallenes Kreuz wachte. Branigan schritt .an das Kreuz heran, um die eingravierte Inschrift zu lesen. Zu seiner Enttäuschung handelte es sich um ein paar lateinischer Worte, die er nicht verstand.
Auf einem kleinen Betonsockel standen drei Kerzen, die halb heruntergebrannt waren. Ein welker Strauß Blumen lag dem Kreuz zu Füßen. Schwach tönte das schrille Kreischen von Krähen über das Totenfeld.
"Ich weiß, ich werde nie wieder Harold O'Keeve werden können", flüsterte Branigan, während er sich bückte, um eine der Kerzen anzuzünden. "Aber ich werde auch nie wieder Lester Branigan sein. Das verspreche ich dir."
Der Mann, der einst Lester Branigan gewesen war, spürte Wärme in sich aufsteigen. Vielleicht war seine Seele noch nicht ganz verloren.
Vielleicht war es noch nicht zu spät, das Gute in ihm zu neuem Leben zu erwecken und all den Hass, der seit Jahren in ihm steckte, zu eliminieren.
Er hatte einen ersten, guten Schritt auf diesem Wege gemacht: Er hatte gelernt zu vergeben.

 
Zuletzt bearbeitet:

Schau an, der Rainer ist wieder da ...

... und bringt eine nette Geschichte mit. ;-)
Hat sich gut gelesen, sehr flüssig, wie man auch an der kurzen Zeit sieht, die ich dafür gebraucht hab. Besonders gefällt mir, dass sie wie ein typischer Krimi beginnt und später eine Wendung ins Melancholische nimmt.

Kleinkram, das meiste davon Vertipper:

da er keine Ahnung hatte, wie man In einer solchen Situation standesgemäß reagierte.
-> "in"
vermeldete der Mann mit. fester Stimme.
Punkt weg.
wurde von einem monströsen Bücherbord eingenommen, in welchem sich zahlreiche in Leder gebundene Bücher befanden;
Die Wortwiederholung von "Bücher" ist nicht so tragisch, trotzdem läse sich ein "Werke" stattdessen eventuell besser.
edit: Oder einfach "Bord" schreiben.

Amanda s katholische Erziehung
Apostroph fehlt.
Bodenken Sie, dass es damals noch als schwere Sünde galt
"Bedenken Sie"
Sehr zum Entsetzen Branigans, der bei weitem nicht so abgebrüht war, wie er bislang angenommen hatte.
Dass du hier die ganze Wahrheit noch nicht nennst, sondern ausblendest und sie dem Leser erst in Branigans Dialog mit Thorndyke präsentierst, fand ich sehr gut. Der zitierte Satz war mir dann sogar zuviel Ankündigung. Ich fände es wirkungsvoller, wenn da nur der vorherige Satz stünde:
Tatsächlich nahm die Wahrheit ihren Lauf.
Wirklich, gefiele mir besser. Weil der Leser so _noch_ gespannter ist, was Branigan erfahren hat.

Ein bisschen kurz kam mir dann auch das "Finale" zwischen Branigan und Thorndyke vor, aber das mag Geschmackssache sein.

Ansonsten: Lesenswert.

Ginny

 

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