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Shalía und das Mädchen
Schnaufend rannte Shalía durch die Nacht. Sie wusste nicht, wie lange sie schon vor ihnen floh, aber lange würde sie es nicht mehr durchhalten. Erschöpft blieb sie stehen, um kurz Atem zu holen. Gehetzt blickte sie hin und her, fragte sich, wie nah die Jäger ihr schon waren. Der Wald um sie herum schien lebendig, die Bäume raschelten ihr Mitgefühl und die Nachttiere erstarrten. Es schien, als wollten sie Shalía durch ihre Stille schützen, damit die Verfolger sie ja nicht entdeckten. Durch die Baumkronen schimmerte silbrig der Mond. Er schien ihr Trost spenden zu wollen.
Es war nicht das erste Mal, dass sie Shalía jagten. Sie verstand nicht, warum sie es taten. Dieser Teil der Natur ihrer Verfolger war ihr fremd, unverständlich. Warum nur zogen sie des Nachts aus, jemanden zu töten, der ihnen nie ein Leid getan hatte? Sie konnte fühlen, dass es ihnen Freude bereitete. Der Grund dafür blieb ihr ein Rätsel.
Ruckartig hob sie ihren Kopf. Geräusche ganz in ihrer Nähe schreckten sie auf, ließen sie wieder panisch die Flucht ergreifen, weiter durch den dunklen Wald hasten. Die Bäume führten sie, öffneten sich vor ihr und schlossen sich hinter ihr. Es schien, als beobachte der ganze Wald atemlos die unmenschliche Hatz, mit der die Verfolger Shalía unbarmherzig in die Enge drängten. Die Bäume flüsterten der Flüchtenden eine Warnung zu, doch Shalías Panik war zu groß, um auf diese alten, weisen Geschöpfe zu hören. Kopflos rannte sie vor den Geräuschen hinter sich davon, vor den Jägern mit ihren scharfen Waffen, die sie töten wollten. Ihre Kehle brannte bei jedem Atemzug und ihre Beine wurden ihr schwer, doch die Verfolger holten auf. Sie stolperte und fiel, rappelte sich auf und rannte weiter, den Schmerz in ihrem Bein ignorierend. Sie durfte nicht aufgeben! Jemand wie sie sollte nicht sterben, nicht so!
Plötzlich versperrten ihre Freunde, die Bäume, Shalía den Weg. Sie zogen ihre Äste vor ihr zusammen, schlangen sie ineinander, sodass sie undurchdringlich schienen. Tränen brannten ihr in den Augen. Sie verrieten sie! Warum nur? Ein knackender Ast ganz in Shalías Nähe ließ sie zusammenfahren. Voller Panik rannte sie weiter, auf die Bäume zu, kämpfte sich durch die verflochtenen Äste hindurch, bis sie aus unzähligen kleinen Schnittwunden blutete. Die Bäume zischten ihr zu, sie solle umkehren, in eine andere Richtung laufen. Aber wohin denn? Die Jäger schienen überall zu sein.
Shalía war erleichtert, als sie endlich aus der Umklammerung der sonst so sanften Geschöpfe auf eine Lichtung stolperte. Gehetzt blickte sie sich um. Um sie herum war alles dunkel, selbst der tröstende Mond war hinter einer düsteren Wolke verschwunden. Wohin nun? Wo war sie? Sie erstarrte in ihren unschlüssigen Bewegungen, als sie den Ort erkannte. Es war das Dorf der Menschen. Sie hatten sie hierher getrieben. Aber warum? Hinter ihr brüllte jemand etwas, das sie nicht verstand. Aus der Stimme jedoch klang Triumph, und das jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken. Plötzlich entflammten vor ihr Fackeln, und Shalía erkannte, dass sie mitten in die Menschen hineingelaufen war.
Bevor sie reagieren konnte, ließ einer von ihnen surrend einen Pfeil von der Sehne, der sich schmerzhaft in ihre Brust bohrte. Verzweifelt drehte sie sich um, stolperte und fing sich wieder, nur, um direkt in den Pfeil eines weiteren Jägers zu laufen. Ihre Verfolger hatten bereits aufgeschlossen, sie war umzingelt! Voller Panik bewegte sie sich ein Stück nach rechts, dann nach links, doch immer wieder wurde sie von den brennenden Fackeln zurückgetrieben. Das Feuer machte ihr Angst. Die Schmerzen waren schlimmer als alles, was sie je erlebt hatte. Schnaufend brach sie in die Knie. Sie versuchte, sich wieder aufzurappeln, aber ein weiterer Pfeil in ihren Hals brachte sie vollends zu Fall. Und dann waren sie über ihr, hielten sie fest, drückten sie unbarmherzig auf den Boden.
Shalía wehrte sich, trat zu, und sah mit Befriedigung, wie ein Mann vom Schlag ihres Hinterhufes zu Boden ging. Einem weiteren der Angreifer stieß sie ihr Horn in den Unterschenkel. Er kreischte auf, und als sie ihren Kopf zurückzog, schoss Blut aus der tiefen Wunde. Das ließ sie schockiert innehalten. Sie hatte noch nie einen Menschen verletzt, niemals! Wie hatte sie so etwas nur tun können? Ein Messer, das sich in ihre Flanke bohrte, riss sie aus ihren Gedanken. Vom Schmerz beinahe von Sinnen versuchte sie, aufzustehen. Doch sie hatte keine Kraft mehr, weiter zu kämpfen, hatte zuviel Blut verloren. Panisch beobachtete sie, wie einer der Männer unter lautem Jubeln der anderen eine Säge hervorzog. Mit kraftvollen Bewegungen trennte er ihr Horn ab und hielt es dann triumphierend in die Höhe. Shalía schrie vor Schmerz, konnte sich jedoch nicht bewegen, weil einer der Männer auf ihrem Hals saß. Die Menschen jubelten, doch Shalía verstand nicht, warum.
Mit einem Mal war Shalía alleine. Die Männer hatten sie einfach liegen gelassen. Sie wussten, dass sie dem Tode nahe war, und hatten sich nicht die Mühe gemacht, ihn ihr zu erleichtern. Keuchend lag sie auf dem Boden, ein kleiner Stummel dort, wo einst ihr stolzes Horn gewesen war. Im Mondlicht silbern schimmerndes Blut floss aus zahlreichen Wunden. Die Bäume um sie herum waren vor Trauer verstummt, kein Geräusch drang mehr an Shalías Ohren. Es war, als hielte die Natur schockiert inne. Der Wald würde bald schon seinen Wächter verlieren. Es fiel Shalía zunehmend schwerer, zu atmen. Ihre Gedanken sprangen wild in ihrer Vergangenheit umher. Shalía! Shalía, kannst du mich hören? Bitte, bleib bei mir! Bleib bei mir... Die Stimme verklang. Es war ihre Mutter gewesen, damals, als sie ihre menschliche Gestalt verlassen hatte. Sie hörte sie schluchzen, als wäre sie neben ihr. Oh, Samon, warum? Eine Mutter sollte nicht ihr Kind begraben müssen! Sie war doch gerade erst im besten Alter! Warum musste sie sterben? Sie ist ein guter Mensch! Shalía erinnerte sich, als sei es gestern gewesen. Vielleicht war sie zu gut, um ein Mensch zu sein. Mutter Natur hat sie zu sich gerufen. Es ist nicht an uns, ihren Willen in Frage zu stellen. Wer weiß schon, was nach dem Tod mit ihrer Seele geschieht? Die weisen Worte des Dorfältesten klangen in Shalías Ohren. Und er hatte Recht gehabt, Shalía hatte weitergelebt. Aber dieses Mal, dieses Mal war es anders. Dieses Mal würde sie für immer diese Welt verlassen. Der wahre Grund für diesen sinnlosen Mord blieb ihr verborgen. Wann nur, wann hatten sie begonnen, Einhörner zu jagen?
Shalía erinnerte sich noch an ihre Jugend, als sei es gestern gewesen. In ihrem Dorf damals hatten sie die Einhörner verehrt. Sie waren heilig gewesen, Beschützer und Lebensbringer. Regelmäßig brachten die Dorfältesten ihnen Geschenke, um ihnen eine Freude zu machen. Damals, in einem anderen Leben, als sie noch ein Mensch gewesen war, hatte sie stundenlang den Geschichten ihrer Mutter über diese wundersamen Wesen gelauscht. Einhörner waren die Beschützer der Wälder und all seiner Bewohner, sie waren die Hüter des Lebens in all seinen Formen. Das Töten eines Einhornes war zu ihrer Zeit eine undenkbare Tat gewesen, und doch schienen sich heutzutage mehr und mehr Menschen daran zu erfreuen. Begriffen sie denn nicht, dass mit jedem Einhorn, das starb, Mutter Natur schwächer wurde?
Plötzlich hörte Shalía ein leises Rascheln, als ein kleiner Schatten neben ihr niederkniete. Angstvoll zuckte sie zusammen. Der Schatten roch nach Mensch. Doch zu ihrem Erstaunen erkannte Shalía, dass es ein junges Mädchen war, das neben ihr kniete. Das Kind setzte sich auf das blutverschmierte Gras und nahm Shalías Kopf auf den Schoß. Sanft streichelte es das schneeweiß schimmernde Fell und wischte dem sterbenden Wesen mit einem Zipfel seines Hemdes das silbrige Blut, das aus dem kümmerlichen Rest des Hornes tropfte, aus den Augen. Tränen benetzten die Wangen des Mädchens.
Shalía blickte in die tiefblauen Augen des Kindes und war nicht erstaunt, als sie dort sich selbst erkannte. Sich selbst, wie sie vor unzählbaren Jahren gewesen war, bevor sie nach ihrem Tod zu einer Wächterin der Natur und des Lebens geworden war. Der unschuldige Blick des Mädchens sprach von tiefer Trauer um das sinnlos vergeudete Leben, aber auch von Reinheit und Güte, von Mitgefühl und Gnade. Shalía wusste, dieses Kind würde sein ganzes Leben anderen widmen, so wie sie selbst es getan hatte. Shalías Augen blickten in die des Mädchens und teilten ihm stumm mit, dass es eine der wenigen Erwählten sein würde, wenn seine Zeit gekommen war. Das Kind nickte, es schien zu verstehen. Ein zaghaftes Lächeln umspielte seine Lippen, während es sanft das sterbende Einhorn streichelte, um ihm den Tod zu erleichtern.