So eine Scheiße!
Es war das dritte Mal in einer halben Stunde, daß ihm "So eine Scheiße!" durch den Kopf fuhr. Beim ersten Mal hatte er gähnend an einem Tisch in seiner Wirtsstube gesessen, einen langen Blick aus dem Fenster auf den hereinbrechenden Herbstabend geworfen und über die schlechten Zeiten nachgegrübelt. Ein völlig verregneter Sommer lag hinter ihm, der ohnehin nur wenige Wanderer und Autofahrer an seiner etwas abgelegenen Wirtschaft vorbei geführt hatte, dann wurde sein Zufahrtsweg tagelang durch einen Erdrutsch blockiert, es folgte ein Ausfall des Kühlraums ... und schließlich die Rechnungen. Vollkommen überzogen, wenn man ihn gefragt hätte, was natürlich niemand tat. Und nach dieser beschissenen Saison weit mehr, als er aufbringen konnte, was natürlich niemand wußte. Selbstverständlich hatte sich auch an diesem Tag wieder kein Mensch in seine Schankstube verirrt. Er stand vor dem Ruin. Genau genommen hatte er den sogar bereits hinter sich. Und selten war ihm das so bewußt gewesen wie beim ersten "So eine Scheiße!" des Abends.
Als dann ein Wagen vorgefahren war, hatte er mit jemandem gerechnet, der nach dem Weg fragen wollte. Der blasse junge Mann mit der unmodischen Hornbrille hatte sich jedoch überraschenderweise an einen Tisch begeben und gefragt, ob er "zu dieser vorgerückten Stunde noch etwas Essbares bekommen" könne.
"Selbstverständlich."
"Fantastisch", hatte sich der Mann gefreut und die Karte entgegen genommen. Seine Wahl:
"Ein Hawaii-Toast wäre jetzt nicht schlecht."
An dieser Stelle war ihm das zweite "So eine Scheiße!" durch den Kopf gegangen. Ein wahrer Volltreffer. Das einzige, was er heute nicht zubereiten konnte, weil ...
"Ich habe leider keine Ananas mehr im Haus ..."
"Oh, schade ...", hatte der Mann gesagt und sich die Hornbrille auf der Nase zurechtgerückt. "Dann hätte ich gerne einen Strammen Max."
"Kein Problem."
Kaum hatte er in der Küche zwei Eier in die Pfanne geschlagen und die Wirtsstube erneut betreten, war ein zweiter Mann in der Tür erschienen. ‚Vielleicht ein Mitfahrer', war ihm durch den Kopf gegangen, doch ein schneller Blick aus dem Fenster ins Halbdunkel hatte ihn eines Besseren belehrt - ein vermutlich weißer VW Käfer älterer Bauart, schmutzig und mit Schlamm bedeckt. Er war sich ganz sicher, daß der Mann, der den Strammen Max bestellt hatte, mit einem roten Wagen an seinem Fenster vorbei gefahren war und nun auf einem Parkplatz stand, den er durch dieses Fenster nicht überblicken konnte.
Und dann war alles sehr schnell gegangen.
"So eine Scheiße!" ging es ihm durch den Kopf. Zum dritten Mal in der letzten halben Stunde. Er blickte in den Lauf eines Revolvers.
"... und du, Brille", befahl der zweite Mann mit einer lauten Stimme, die nervös wirkte, "bleibst da sitzen und rührst dich nicht, klar?"
‚Geld', fuhr es ihm durch den Sinn, ‚er hat mich aufgefordert, ihm alles Geld zu geben.'
Das war leicht gesagt. In seiner Kasse befand sich nicht mehr als das notwendigste Wechselgeld, keine 80 Euro, und in seiner Geldbörse herrschte auch beklagenswerte Ebbe.
"Sie ... Sie ...", begann er, räusperte sich und wollte erneut ansetzen, als der Revolver merklich zitternd näher kam.
"Ich will keine Arien, ich will dein Geld!" fuhr der zweite Mann ihn an.
"Ich ... ich habe doch ...", wollte er erneut ausholen. Es blieb bei dem Versuch.
"Mach die Kasse auf!"
Keine Reaktion. Seine Beine fühlten sich an wie Pudding. Gleichzeitig gingen ihm die verrücktesten Ideen durch den Kopf. ‚Sie können mich nicht erschießen, wer macht dann dem Mann da drüben seinen Strammen Max?' wollte er sagen. Im gleichen Augenblick war ihm selbst klar, wie bescheuert das klingen mußte. Was konnte er noch sagen? ‚Ich habe Frau und Kinder'? Das wäre eine Lüge, aber das wußte der andere ja nicht ... er könnte ...
"Heut' noch!"
Der Revolvermann machte einen Schritt auf ihn zu, packte ihn mit dem linken Arm an der rechten Schulter und drehte ihn ruckartig in die Richtung, in der eine unschuldig wirkende Kasse stand und neugierig die ungewohnte Szenerie zu beobachten schien.
Sein Gefühl sagte ihm, daß seine Beine alle Knochen verloren hatten. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Sie waren jedoch so schnell, daß er keinen von ihnen zu fassen bekam. Die 80 Euro in der Kasse ... der Revolver ... die Rechnungen ... er müßte den Laden dicht machen, wenn er erst mal tot war ... von einem - vielleicht weißen - VW Käfer ausgeraubt ... und mit einem Strammen Max niedergestreckt ... war das Todesangst?
Plötzlich stand die Kasse offen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie er sie geöffnet hatte – die letzten Sekunden waren in einem Gedankenmeer versunken, ohne daß er es bemerkt hätte.
Der Revolvermann warf einen schnellen Blick in die Kasse, dann starrte er sein Gegenüber an. Hinter seiner Stirn arbeitete es fieberhaft, das war ihm anzusehen.
"Du willst mich doch verarschen, du ...", brachte er noch heraus, dann wurde die Hand, die den Revolver hielt, plötzlich zur Seite gerissen. Der Mann mit dem Strammen Max hatte sich herangeschlichen und in das Geschehen eingeschaltet. Es gab ein kurzes Gerangel, dann lösten sich die beiden Männer wieder voneinander. Der Revolvermann taumelte zwei Schritte in Richtung Ausgang, ehe er sich an einem der herumstehenden Tische abfangen konnte. Der Stramme Max dagegen stolperte zur Seite und wäre um ein Haar gestürzt. Nur eine Sekunde später standen drei Männer stocksteif in der Wirtsstube - der erste zitterte hinter seiner Kasse, der zweite machte mit seinem Revolver eine gefährliche Figur, der dritte befand sich unmittelbar zwischen beiden und wirkte zwar leicht angeschlagen, aber kein bißchen erschrocken.
Eine kurze Stille. Nur das Keuchen zweier Männer und das Brutzeln von Spiegeleiern aus der Küche. Jeder der Anwesenden war jedoch der festen Überzeugung, daß die anderen beiden auch das Herzklopfen hören mußten, das durch den Raum zu dröhnen schien.
"Das ... war ... sehr ... sehr ... dumm", brachte der Revolvermann hervor und es gelang ihm, jedes einzelne Wort zu betonen.
Der Stramme Max machte einen Schritt nach vorne, auf die Waffe zu. In seiner Stimme lag feste Überzeugung, als er sprach:
"Du kannst mich nicht töten."
"Was soll die Scheiße, ich hab' 'ne Waffe."
Ein weiterer Schritt, nicht zu groß, eher das Setzen eines Fußes vor den anderen.
"Du kannst mich nicht töten."
"Bist du so ein Psychofuzzi?"
Der Stramme Max ging unbeeindruckt weiter.
"Nein, bin ich nicht. Ich bin nur ganz sicher, daß du mich nicht töten wirst."
"Woher willst du das wissen, Mann?" Der Revolvermann ging einen Schritt zurück. "Ich habe schon einmal auf einen Menschen geschossen. Ich bin ein verdammt guter Schütze, Mann ..."
"Das kann schon sein. Aber ich bin ganz sicher, daß du mich nicht tötest. Ich weiß es hundertprozentig."
Die Stimme des Revolvermannes wurde noch nervöser, als er weiter zurückwich. Seine Worte hallten laut durch den Raum, als er rief:
"Du ... das kannst du nicht wissen ..."
"Ich ..."
Weiter kam der Stramme Max nicht, denn in diesem Augenblick löste sich aus dem Revolver ein Schuß. Absicht oder nicht - die Kugel bahnte sich ihren Weg durch die Wirtsstube. Sie bohrte sich unmittelbar über der Kasse in splitterndes Holz. Für einen kurzen Augenblick schienen die drei Männer erstarrt. Dann trat der Stramme Max erneut einen Schritt nach vorne, während der Revolvermann nervös um einen Tisch herumlief und sich wieder der Kasse näherte. Dabei ließ er den Mann mit der Hornbrille keinen Augenblick aus den Augen.
"Du ... ich muß dich doch getroffen haben ... du warst doch nicht ... du ..."
Er gab sich keine Mühe mehr, seine Nervosität zu verbergen. Auf seinen Wangen hoben sich hektische rote Flecken von der blassen Haut deutlich ab. Er machte zwei weitere Schritte zurück, als der Stramme Max wieder auf ihn zukam.
"Bleib stehen, du ... bleib ... bleib stehen!"
Mit den letzten Worten riß der Kerl erneut den Revolver hoch und zielte auf den Mann mit der Hornbrille.
Plötzlich war ein dumpfer Schlag zu hören. Der Körper des Revolvermannes verzog sich auf groteske Weise und erinnerte an eine Marionette, der man die Fäden gekappt hatte. Dann sackte er auf dem Boden zusammen.
Durch seine Hornbrille erkannte der Stramme Max den Wirt, der eine dunkle Flasche in der zitternden Hand hielt.
"Wie können Sie nur jetzt was essen?"
"Ich habe Hunger, ganz einfach", meinte der Mann und kaute munter weiter.
Der Wirt ließ seinen Blick über den bewegungslosen Körper des Revolvermannes gleiten, der noch immer auf dem Boden lag. Die Waffe lag allerdings nicht mehr in seiner Reichweite. Der Mann mit der Hornbrille hatte sich danach gebückt und sie in Verwahrung genommen. Nun befand sie sich auf dem kleinen Tisch, zwischen einem Teller, auf dem ein bereits arg in Mitleidenschaft gezogener Strammer Max lag, und einem halb gefüllten Bierglas auf der einen und einer Schnapsflasche und einem leeren Wasserglas auf der anderen Seite.
"Sind Sie sicher, daß ...? Ich meine, in den Western ..."
"In diesen Filmen sind die Flaschen meistens aus Zucker oder sonst einem leicht zerbrechlichen Material gefertigt. Der da drüben" - der Mann mit der Hornbrille deutete mit dem Kinn in die Richtung, in der der Revolvermann lag - "hat eine echte, gefüllte Flasche mit voller Wucht abbekommen. Vermutlich Schädelbruch, Aussetzen der Atmung, das war’s ..."
"Sind Sie Arzt?"
Der Mann mit der Hornbrille setzte sein Bier ab und wandte sich wieder dem Strammen Max zu.
"Nein, Physiker."
"Mein Gott ..." Der Wirt stützte sein Gesicht mit den Händen ab und ertappte sich dabei, wie ihm zum vierten Mal an diesem Tag "So eine Scheiße!" durch den Kopf ging. Er hatte einen Menschen umgebracht. Es war noch nicht mal schwer gewesen. Das erschütterte ihn am meisten. Nein, das war falsch. Am meisten erschütterte ihn, daß dieser Bursche auf der anderen Seite des Tisches seelenruhig kaute, als ginge ihn die ganze Sache gar nichts an.
"Die Scheiße hier macht Ihnen wohl gar nichts aus, hm?"
Der Physiker schluckte einen Bissen herunter und zuckte die Achseln.
"Erstens kann ich's nicht ändern und zweitens habe ich seit einigen Tagen gute Laune - die macht so schnell keiner kaputt. Auch ein Penner wie der da drüben nicht."
"Warum? Haben Sie im Lotto gewonnen?"
"Ach, so ein Blödsinn", meinte der Physiker und griff erneut zu seinem Bier, "es gibt bei 6 aus 49 fast 14 Millionen Kombinationsmöglichkeiten ... da spare ich mir lieber mein Geld ... oder lege es gewinnbringend an ..." Er zwinkerte seinem Gegenüber zu und nahm einen Schluck.
Der Wirt griff sich die Schnapsflasche, goß das Glas vor sich halb voll und setzte es ebenfalls an die Lippen. Das scharfe Naß brannte in seiner Kehle und weckte die Lebensgeister wieder. Genau das, was er jetzt brauchte. Dabei fiel ihm die Frage wieder ein, die er schon vor einigen Minuten stellen wollte:
"Sollten wir nicht die Polizei oder den Krankenwagen rufen?"
"Machen wir, machen wir, lassen Sie mich nur gerade zu Ende essen. Wenn die Polizei kommt, haben wir unsere Gedanken sortiert und machen einen gestärkten Eindruck."
"Sie haben Nerven", grunzte der Wirt und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. "Auch vorhin schon - da gehen Sie einfach auf den Kerl zu und sagen ihm ‚Du kannst mich nicht töten'. Ich hinter meiner Kasse fix und fertig und Sie spielen noch den Helden. Und das, obwohl er mit der Waffe auf Sie gezielt hat. Er hätte Sie treffen können, mit dem Schuß. Nee, hätt' ich nicht gemacht."
"Ich wußte, daß er mich nicht töten konnte", sagte der Physiker, während er geschickt mit einem Messer das Eiweiß vom Dotter trennte.
"Wieso denn?" fragte der Wirt, "hat er an Ihnen vorbei gezielt? Ist heute Ihr Glückstag? Sind Sie unsterblich? Warum hätte Ihnen nichts passieren können?"
"Das ist etwas schwer zu beschreiben", meinte der Physiker zwischen zwei Bissen, "wie gut kennen Sie sich in Physik aus?"
Der Wirt grunzte: "In Mathe war ich ganz gut, aber Physik ... nee."
"Also, dann machen wir es einfach. Albert Einstein ist Ihnen ein Begriff?"
"Klar - Relativitätstheorie."
Der Physiker lächelte leicht: "Schon mal ein guter Anfang. Und genau auf den Punkt. Wissen Sie, was diese Relativitätstheorie besagt?"
"Irgendwas mit Masse und Raum ... ich hab' nicht besonders gut aufgepaßt", meinte der Wirt.
"Ja, irgendwas in diese Richtung", meinte der Physiker trocken und kaute weiter.
"Ich will jetzt keine Physikvorlesung halten - nur so viel: die spezielle Relativitätstheorie besagt, daß die Zeit nicht immer und überall gleich schnell vergeht. Laut Einstein ist es so, daß die Geschwindigkeit, mit der sich Materie bewegt, auch Einfluß auf die auf ihr vergehende Zeit hat, wenn Sie verstehen, was ich meine. Je schneller sich ein Körper bewegt, umso mehr dehnt sich auch die Zeit ..."
"Ja?" Der Wirt runzelte die Stirn, während er sich fragte, was das alles mit dem zu tun habe, was sich gerade hier ereignet hatte, doch er schwieg. Der Physiker sprach weiter:
"Von der speziellen Relativitätstheorie wird das sogenannte ‚Zwillings-Paradoxon' hergeleitet: Wenn man einen Zwilling in eine Rakete setzt und diese 15 Jahre lang mit Lichtgeschwindigkeit um die Erde jagt, wäre der Zwilling in der Rakete 15 Jahre älter geworden. Der auf der Erde dagegen wäre um 80 Jahre gealtert. Einstein ging davon aus, daß die Lichtgeschwindigkeit die größtmögliche Geschwindigkeit ist, die man erreichen könne. Sie merken - Zeit ist dehnbar."
"Und weiter?" fragte der Wirt.
"Das ist mein Gebiet, wissen Sie? Ich beschäftige mich schon lange mit der Zeit ... und mit den Romanen und Utopien, die von Zeitreisen handeln. Ich wollte selbst gerne einmal ein Zeitreisender werden. Vor allem die Vergangenheit hat es mir angetan."
"Und was hat das mit Ihrem ‚Du kannst mich nicht töten' zu tun?" erkundigte sich der Wirt endlich.
"Alles. Einfach alles", sagte der Physiker, schob den letzten Dotter auf seine Gabel und führte sie zum Mund, ehe er kauend weitersprach.
"Wissen Sie, ich hatte bereits früh einige Theorien entwickelt, die über Einsteins Ideen hinausgingen. Und über die meiner Kollegen sowieso. Da war diese Frage, was passiert, wenn der Mensch es doch schaffen würde, die einfache Lichtgeschwindigkeit zu übertreten. Würde dann die Zeit praktisch rückwärts gedehnt werden? Oder ... na ja, ich will Sie nicht langweilen, jedenfalls gab es noch andere Theorien, die mir durch den Kopf gingen. Und sogar - darauf bin ich besonders stolz - Gedanken zur Umsetzung der Theorie in die Praxis!"
"Ich weiß nicht, was Sie sagen wollen", gestand der Wirt.
"Zeitreise, es geht um Zeitreise. Das ist alles. Ich hatte nach einiger Zeit Ideen, wie man eine Zeitreise unternehmen könnte!" sagte der Physiker, legte sein Besteck ordentlich auf dem Teller ab und griff zu seinem Bierglas.
"Augenblick mal", sagte der Wirt und ereiferte sich nach einer kurzen Pause, "Soll das heißen, daß Sie durch die Zeit gereist sind? Sie haben sich in der Zukunft gesehen und wußten, daß Ihnen hier nichts passieren würde?"
"Nein, nein, davon bin ich noch weit entfernt", antwortete der Physiker.
"Dann stehe ich auf dem Schlauch", gestand der Wirt und leerte sein Schnapsglas.
"Es ist eigentlich ganz einfach. Ich stand vor einigen Wochen noch vollkommen mittellos da, weil keiner meine Zeitforschungen unterstützen wollte. Ich habe argumentiert und gebettelt - alles ohne Erfolg. Ich war als Spinner verschrien - keiner wollte mit mir etwas zu tun haben. Doch dann kam mir ein Gedanke, der mir sehr kühn vorkam. Wie wäre es, wenn ich mir selbst zu Hilfe eilen würde ..."
"Was meinen Sie?" murmelte der Wirt verwirrt. Der Schnaps wärmte ihn von innen und war ihm bereits leicht zu Kopf gestiegen, trotzdem versuchte er, der Unterhaltung noch zu folgen.
"Verstehen Sie nicht? Ich meine - ich selbst ... oder vielmehr: mein zukünftiges Ich würde doch genau wissen, wie arm mein jetziges Ich am Anfang seiner Forschungen gewesen war, oder? Das ist bei Ihnen vermutlich auch der Fall - Sie wissen heute noch relativ gut, wie es bei Ihnen finanziell aussah, als Sie dieses Gasthaus gekauft haben."
‚Oh ja', dachte der Wirt.
"Oh ja", sagte er daher, "natürlich. Ich verstehe."
"Schön. Also überlegte ich - was wäre, wenn es mir tatsächlich gelingen würde, eine Zeitmaschine zu bauen und damit in die Vergangenheit zu reisen? Könnte ich vielleicht aus der Zukunft einige Jahre zurückreisen, mir hier ein Konto einrichten und darauf für mich selbst Geld hinterlegen, mit dem ich meine Forschungen fortsetzen konnte?" führte der Physiker aus.
"Äh ... ja?" sagte der Wirt.
"Ich ging also zu einer Bank und fragte nach - und ich war sehr erstaunt, als ich tatsächlich ein Konto fand, das auf meinen Namen lief. Ich hatte mir selbst aus der Zukunft Geld geschickt, auf einem Umweg über die Vergangenheit. Ist das nicht fantastisch?" Das Gesicht des Physikers strahlte vor Begeisterung. "Ich weiß also heute, daß es mir gelingen wird, in einiger Zukunft eine Zeitmaschine zu bauen, mit der man in die Vergangenheit reisen kann."
"Ich verstehe immer noch nicht, was dieser Blödsinn mit dem zu tun hat, was Sie dem Arschloch da drüben gesagt haben", brummte der Wirt.
"Na, hören Sie mal, das ist doch klar", sagte der Physiker mit gereiztem Unterton. "Ich weiß genau, daß mir nichts passieren kann, denn wenn mir hier etwas geschehen wäre, dann hätte ich gar nicht mehr die Möglichkeit, die Zeitmaschine zu entwickeln und in die Vergangenheit zu reisen, um mich selbst zu unterstützen. Das ist doch klar. Das Konto auf meinen Namen ist der Beweis dafür, daß mir eine Zeitreise gelungen ist. Wenn mir hier etwas passiert wäre, würde das ein Zeitparadoxon auslösen."
"Ein - was?"
"Ein Zeitparadoxon. Das bedeutet, daß etwas geschehen ist, das eigentlich gar nicht geschehen dürfte, wissen Sie? Das wäre ungefähr so, als ob ich bei meiner Reise in die Vergangenheit meinen eigenen Vater getötet hätte, bevor ich gezeugt wurde. Nur - ohne meinen Vater kann ich nicht sein, verstehen Sie ... und wenn ich eigentlich gar nicht existieren dürfte, dann hätte ich auch nicht in die Vergangenheit reisen dürfen und ... ach, das ist wahrscheinlich ein unlösbares Rätsel des Zeitreisens. Wer weiß, vielleicht finde ich eines Tages die Antwort ..."
Der Wirt kratzte sich über das Kinn:
"Hat es sich wenigstens gelohnt? Ich meine, haben Sie sich selbst ... oder werden Sie sich selbst großzügig unterstützen?"
"Was meinen Sie?" fragte der Physiker.
"Haben Sie genug Geld auf Ihrem Konto gehabt?"
"Geld nicht." Der Physiker schüttelte den Kopf und hob ein letztes Mal das Glas und trank es aus.
"Ich weiß nicht, warum und weshalb - ich vermute, das hat mit der Gestaltung des Geldes zu tun -, aber ich habe ein Schließfach vorgefunden; im Tresorraum der Bank lagen einige Goldbarren. Die sind ein schönes Sümmchen wert. Ich hab' sie draußen im Auto ..."
"Goldbarren ...", murmelte der Wirt, "Interessant."
"Finden Sie?" fragte der Physiker und stellte das Glas ab. "Mich interessiert viel mehr, ob mich dieser Bursche da mit seinem Schuß eigentlich tatsächlich getroffen hat oder nicht. Ich meine, vielleicht hat er schlecht gezielt ... vielleicht hat aber auch die Zeit die Kugel umgelenkt, um ein Zeitparadoxon zu vermeiden ..."
"Das könnte man vielleicht herausfinden", meinte der Wirt. Dann griff er nach dem Revolver, der auf dem Tisch lag, entsicherte ihn und zielte auf den Physiker.
"Wenn ich um Ihre Autoschlüssel bitten dürfte?"
Ein kurzes Stutzen. Dann - Lachen.
"Netter Scherz, Herr Wirt, fast wäre ich darauf hereingefallen ..."
"Das ist kein Scherz, Herr Physiker, das ist ein Revolver. Ihre Autoschlüssel, bitte."
"Aber Sie haben doch gehört, was ich Ihnen gesagt habe. Sie können mich nicht töten, sonst lösen Sie ein Zeitparadoxon aus ... höchstwahrscheinlich jedenfalls."
Der Wirt lächelte leicht.
"Das habe ich gehört. Und auch verstanden. Aber wissen Sie - ich will Sie ja gar nicht töten. Aber ich könnte Sie verletzen. Eine Kugel in die Schulter oder in die Seite ... das würde Sie nicht umbringen. Ihr weiteres Leben wäre aber etwas ... unangenehmer."
Der Physiker schluckte. Er wurde noch blasser als er ohnehin bereits war.
"Das ... das ist Diebstahl ... und ... Sie nehmen mir die Chance meines Lebens ..."
"Wenn ich richtig zugehört habe, wissen Sie doch nicht mal, ob diese Goldbarren, die Sie draußen in Ihrem Wagen haben, überhaupt schon existieren dürften. Vielleicht werden sie erst in einigen Jahren gegossen? Wie kann man etwas stehlen, das es noch gar nicht gibt? Und ich nehme Ihnen gar nichts, schon gar nicht die Chance Ihres Lebens. Ich bin ganz sicher, daß Sie es trotzdem schaffen werden, Ihre Zeitmaschine zu bauen. Immerhin werden Sie eines Tages in die Vergangenheit reisen, um dort das Gold für sich selbst zu deponieren. Das werden Sie schaffen, ob ich Sie hier ausraube oder nicht - wie sehen Sie das?"
Der Physiker zögerte. Kurz. Dann lächelte er. Breit.
"Sie sind ein aufmerksamer Schüler."
"Nur ein guter Zuhörer. Wissen Sie, als Wirt ..."
"Was haben Sie vor?" fragte der Physiker, als er in seine Tasche griff und die Autoschlüssel hervor holte.
"Ich habe hier einen Kühlraum. Da schließe ich Sie ein. Bevor ich abhaue, rufe ich die Polizei an, damit sie den Toten abholt und Ihnen helfen kann. In einer halben Stunde sind Sie sicher wieder frei. Sie werden es überleben, aber das wissen Sie ja.“
Der Physiker deutete auf den Teller.
"Der Stramme Max war übrigens sehr gut."
Der Wirt zuckte die Schultern.
"Geht auf's Haus. Gehen wir?"