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Stöckchen im Sack

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25.10.2004
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Stöckchen im Sack

Frühling. Einer von meinen Zweiundzwanzig und doch scheint es der Erste zu sein. Ich renne wie ein übermütiges Kind durch die Straßen. Ich hopse, klettere über Baustellenschutt und kaufe mir Waffeln mit heißen Kirschen und Vanilleeis. Alle lächeln mich an und ich lächle zurück, mit Kirschsoße im Mundwinkel. Kleine weiße Blüten tanzen durch die Luft, landen auf meiner Waffel und ich kriege Lust ein Liedchen aus meiner Kindheit zu singen, ein furchtbar Kitschiges.
Georg Batzer ist unser Chorleiter, der mit erhobenem Taktstöckchen und gerecktem Kinn unsere Stimmen überwacht. Viel cooler ist natürlich Franz Hundrig, unser pensionierter Pianist, der uns an einem, wie er meint, für seine Verhältnisse schäbigem Klavier zur Seite steht. Er schimpft jedes Mal, obwohl er diesen Kasten liebt, denn warum sollte er sonst ohne Lohn und Lob dreimal die Woche darauf spielen. Außerdem munkelt man, dass er zu Hause zwei richtige Flügel hat, die er aber nie erwähnt. Böse Zungen behaupten, er verheimliche seinen Besitz, damit man ihn nicht um eine Leihgabe bittet.
Mit den Jahren rutschte ich von ganz vorn nach ganz hinten, zu den dunklen, starken Stimmen. Mir ist schon klar, dass das notwendig ist, aber was ist aus den Zeiten geworden, wo man mich in erster Reihe bewunderte, meine Kleider, die mühevoll dressierten Locken, meinen Knicks, den ich in Perfektion beherrschte. Heute sieht man nicht mal mehr die Hälfte meines Gesichts. Es ist völlig gleich, was ich da hinten mache. Die Lieder sind immer dieselben, möglichst einfach und voll Emotionen. Ehrlich, ich finde sie scheiße. Das war nicht immer so. Egal. Es ist Frühling. Zeit der Veränderung.
Letzte Reihe, Mitte. Da steh ich mit meinem halben Gesicht. Die übliche Aufstellung. Batzer schwingt sein Stöckchen und aus unseren Mündern quillt unglaublich langweilige Musik. Es ist ein bisschen wie einschlafen. Vor mir setzt Athena ein und dann sind wir dran. Wir rollen uns langsam von hinten in die Melodie und da bleiben wir, bewegungslos, dunkel, wie das monotone Schlagzeug in einer Ballade, dumm tschaka, dumm tschaka. Die Augen sinnlich schwelgend ins Auditorium. Den Mund schön weit auf und vielleicht ein bisschen vor und zurück schaukeln. Das ist alles. Und das ist der Tag, an dem ich einfach aufhöre.
Ich habe mir das ein bisschen anders vorgestellt. Nichts rührt sich. Kein Abbruch. Keine Unterredung mit Batzer. Alle machen weiter, wie gehabt. Hey, ich habe aufgehört! Ach, eigentlich ich bin auch froh. Ich war nicht scharf auf einen Zwischenfall. Es ist schon gut so, nur könnte wenigstens jemand aus meiner Gruppe aufhorchen, mir ans Schienenbein stoßen, von mir aus auch in die Rippen. Aber das Lied ist zu alt, zu oft gehört. Keiner von den Älteren hört noch hin. Keiner merkt, dass ich nicht mehr singe. Die Lippen bewegen und dazu die Augenlider auf Halbmast. Ich habe schon immer geahnt, dass es niemand merken würde, wenn ich aufhöre und jetzt habe ich eben den Beweis. Ich sollte ganz aussteigen.

Singen wollte ich, wie Sade oder auch wie Tina Turner. Es war ziemlich schwierig, meine Mutter dafür zu begeistern. Glücklicherweise gab es dieses Buch Erziehung heute. Wenn alles geschlafen hat, bin ich ins Wohnzimmer geschlichen und habe mir den Wälzer geschnappt. Es war eine ziemliche Arbeit, rauszufinden, welche Symptome ich zeigen musste, um eine musikalische Ausbildung zu bekommen. Aber ich habe sie gefunden. Nebenbei machte ich auch ein paar andere wichtige Entdeckungen, die mir das Leben enorm erleichterten. Meine Mutter empfahl das Buch all ihren Freundinnen und schrieb sogar einen Dankesbrief an die Autorin.
Herr Hundrig schlägt die letzten Tasten an. Die Musik klingt aus. „Komm doch mal kurz zu mir.“, sagt Batzer, sein Stöckchen zeigt auf mich. Er hat es bemerkt. Mir wird ein bisschen schlecht. Ich werde mich entschuldigen, denke ich, ein Aussetzer in 12 Jahren, das wird er doch verzeihen und wer weiß, vielleicht erreiche ich damit sogar, dass wir mal wieder ein neues Programm bekommen. Ich steige die Treppen runter und stelle mich neben sein Notenpult. Demut in den Augen.
„Du warst ein bisschen zu schnell an manchen Stellen. Hast du das gemerkt?“
Ich stocke und nur mit Mühe kann ich das Lachen, das sich in meiner Kehle sammelt, stoppen.
„Du musst hier auf den Schwung von der einen Zeile in die andere achten.“
Ich nicke.
„Gut. Dann bis Montag.“
Montag tat ich es wieder. Ich sang nicht, bewegte nur die Lippen. Mittwoch dasselbe, dann Freitag. Batzer fand, dass ich jetzt viel besser wäre. Das fasste ich als Beleidigung auf. Die Wochen vergingen, meine Kehle blieb stumm. Batzer wurde zu einen Vortrag zum Thema „Musikalische Ausbildung bei Kindern“ eingeladen. Er sollte erklären, wie wichtig es war, jungen Menschen die Musik näher zu bringen und wie man es anstellte. Ich fuhr mit ein paar anderen der Gruppe mit, als lebendiges Beispiel für musikalische Erziehungsmethoden. Ich sang wieder nicht mit. Keiner merkte es. An diesem Tag war der Bogen überspannt. Mehr heimlichen Sarkasmus konnte ich nicht ertragen. Ich könnte einfach von der Bühne gehen und sehen, ob Batzer auch ohne meine physische Anwesenheit eine Verbesserung meines Gesangs feststellen würde. Doch ich unternahm nichts. Ich tat weiter so, als würde ich singen. Auf dem Rückweg saß ich hinten im Bus und beobachtete, wie die anderen einschliefen. Eingelullt in dem monotonen Geräusch des Motors sackten ihre Körper zusammen und gleichmäßiger Atem hob und senkte die Brüste. Zwischen meine Beine rutschte das kleine Kästchen, in dem sich Batzers Stöckchen befand und ohne dass ich in dem Moment wusste, was ich tat, stopfte ich es in meinen Rucksack.

 

Eine überraschend gute Geschichte, deren Verständnis durch eine durchgängig synthetische Syntax stark vereinfacht wird. Genau an dieser Stelle darf ich meine Kritik anbringen. Es wäre als zusätzliches, stilistisches Mittel nicht gerade ungeeignet hinundwieder Passagen einzubauen, die durch einen asynthetische Satzbau, d.h. eine Syntax, die sich durch den Verzicht auf Konjunktionen auszeichnet, ersetzt wird. Das durchaus schwere Thema deiner Kurzgeschichte könnte so unterstrichen werden.

Was mir auffällt ist, dass du auf zwei Ebenen arbeitest. Die eine, das erzählte Jetzt, wird geprägt durch Fröhlichkeit, Lebensmut und Ausgelassenheit. Du verwendest hier kurze, prosaähnliche Sätze um die Leichtigkeit zu unterstreichen. Wie wäre es, wenn du aus mehreren Sätzen einen formst, der lediglich durch Kommata nicht jedoch durch Konjunktionen verbunden ist. Die erzählte Leichtigkeit, das Gleiten durch die Frühlingswelt, die deine Hauptperson lebt und erlebt, könnte so verdeutlicht werden.

Im direkten Kontrast hierzu sollte die thematisch schwere Passage, in der deine Figur über die Chorstunden nachdenkt, auch stilistisch kontextualisiert werden: Lange Sätze voller sperriger Worte, verschnörkelte Satzstrukturen und eine Fixierung auf morphologisch vielsilbige Einheiten würden dem schwermütigen Tenor dieser Passage dienen.

Trotz dieses kleinen Verbesserungsvorschlags, der sich ausschließlich auf mein subjektives Verständnis von Textästhetik bezieht, möchte ich dir zu deiner Geschichte gratulieren, da die Figuren authentisch wirken und das Thema stets aktuell ist - vor allem zur Herbstzeit.

 

Ich freue mich natürlich, daß dir die Geschichte gefallen hat
und danke dir tausendfach für deine Kritik.
Allerdings verstehe ich deine Kritikpunkte nicht. Ich habe keine Ahnung, wie du dir das vorstellst, wie es dann aussehen soll.
Wie kann ich einem jungen, fröhlichen Mädchen eine Schwermütigkeit andichten, die ihm garnicht zusteht? Es gibt sicher junge Menschen, die eine solche Schwermütigkeit im Herzen tragen, aber so ein Mensch ist der Prot. nicht. Dass das Thema schwer ist, glaube ich auch nicht, es ist ein geläufiges Thema, das der eine so auffasst und der andere eben etwas tragischer: das hat dann aber nichts mehr mit dem Thema zu tun, sondern mit der Psyche des Prot. Die Psyche meines P. ist jedenfalls gerade mal 21 Jahre alt und ziemlich ausgelassen: kann seinen Unmut garnicht anders ausdrücken, als in heimlich-sarkastischer Rebellion.
Aber ich denke, dir ging es vor allem um die Ästhetik. Die muss meiner Meinung nach in einer Ich-Erzählung immer dem Protagonisten folgen. Also brauche ich Konjunktionen statt Komas, die den Text zu ernst machen würden und ich brauche einfache, hüpfende Sätze, die jede aufkommende Schwermut sofort in Rebellion umwandeln.
Jede Veränderung in deinem Sinne würde die Geschichte entfremden und das Mädchen unglaubwürdig machen- und das mochtest du doch, oder: die Glaubwürdigkeit!?

In einer weiteren Geschichte will ich dir gern auch mal die nackte Tragik in langen, verschnörkelten Sätzen liefern. Ich verstehe gut, daß du dich danach sehnst, wo es kaum noch junge Literatur gibt, die sich aus dem einfachen gleichmütigen Stil herauswagt.

Bis dahin,
Liebe Grüße,
Simone

 

Hallo Simone

Mir hat deine Geschichte so gefallen wie ist dasteht. Verbesserungsvorschläge, oder gar Kritik, kann ich fast keine äußern.
Fast keine ;)
Der Schluss. Mir erschien es, als würde die Geschichte vorzeitig enden. Die Frage, warum die Protagonistin den Taktstock einsteckt, ist mir Rätsel. Was hat sie davon?
Selbst wenn sie es tut um Batzer ein wenig zu ärgern, macht es für mich keine großen Sinn. Interessanter wäre für mich, ob sie den Chor anschließend doch noch verlässt, oder genau so weitermacht wie bisher.

Wenn sie singen will wie Tina Turner, warum bleibt sie dann beim Chor und hat sich nicht schon längst anderweitig umgesehen?

Meine Mutter empfahl das Buch all ihren Freundinnen und schrieb sogar einen Dankesbrief an die Autorin.
Finde ich überflüssig zu erwähnen. Für mich zeigt der folgende Satz eigentlich schon deutlich, dass die Mutter dieses Buch als sehr Hilfreich ansieht:
...welche Symptome ich zeigen musste, um eine musikalische Ausbildung zu bekommen.

Die Lebensfreude, und den heimlichen Sarkasmus, hast du sehr gut rübergebracht. Ich konnte mich gut in die Prot. hineinversetzen.

Gruß
LoC

 

Hallo Simone,

manchmal braucht es eben keine Tragik, um eine unterhaltsame lockere Geschichte zu erzählen. Kurz und knapp: Mir hat die Geschichte gefallen und als ehemaliger Kirchchorsänger kann ich sie gut nachfühlen. :)

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Simone,

Frühling. Einer von meinen Zweiundzwanzig und doch scheint es der Erste zu sein. Ich renne wie ein übermütiges Kind durch die Straßen. Ich hopse, klettere über Baustellenschutt und kaufe mir Waffeln mit heißen Kirschen und Vanilleeis. Alle lächeln mich an und ich lächle zurück, mit Kirschsoße im Mundwinkel. Kleine weiße Blüten tanzen durch die Luft, landen auf meiner Waffel und ich kriege Lust ein Liedchen aus meiner Kindheit zu singen, ein furchtbar Kitschiges.

Sehr schöner Einstieg! Weckt wirkliche Frühlingserinnerungen.

Glücklicherweise gab es dieses Buch Erziehung heute.

Erziehung heute würde ich in Anführungszeichen Sätzen. Dann wird klarer, dass es sich um ein Buch handelt.

Die Geschichte hat mir ausgesprochen gut gefallen. Ich konnte die Gefühle deiner Prot. sehr gut nachvollziehen.
Das Ende ist mir auch nicht ganz klar geworden. Ich hab auch nicht verstanden, warum das Mädchen den Taktstock einsteckt - ist es ein weiterer Akt ihrer Rebbellion? Hm, keine Ahnung!

LG
Bella

 

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