Was ist neu

Stimmen in der Nacht

Mitglied
Beitritt
26.09.2002
Beiträge
139
Zuletzt bearbeitet:

Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht

"Psst, Lasse, bist du auch noch wach? Darf ich zu dir ins Bett?" Wortlos schlägt Lasse die Bettdecke für seine kleine Schwester zurück. Er kann auch nicht schlafen. Mit seinen elf Jahren ist er der große Beschützer für Lia.

"Ich habe Angst, hörst du das auch?" fragt Lia. "Ich glaube, die beiden streiten sich schon wieder!" Gedämpft dringen Stimmen durch die Wand und die Tür des Kinderzimmers. Man kann nicht verstehen, was gesagt wird, aber es klingt böse und gemein.

"Vielleicht ist das im Fernsehen?", fragt Lia mit Hoffnung in der Stimme. Doch nach einigen Augenblicken schüttelt Lasse den Kopf. Wenn der Fernseher an ist, können die Kinder das bläulich weiße Schimmern im matten Glasteil der Kinderzimmertür sehen. Doch heute Abend ist da keine Helligkeit. Nur eine dunkle Fläche, ein wenig aufgehellt durch die Stehlampe im Wohnzimmer.

"Meinst du, sie wissen nicht, dass wir sie hören können?" Lia zittert trotz der warmen Bettdecke und kuschelt sich enger an den großen Bruder. "Schließlich sind wir doch nicht taub ..." Lasse nickt im Dunkeln. "Ich weiß es auch nicht, Lia. Wahrscheinlich denken sie, wenn die Tür zu ist, dann sind wir sozusagen weg und sie denken nur noch an sich selbst und ihre Probleme. Und das Schlimmste ist, finde ich, wenn sie morgen früh wieder sagen: Alles in Ordnung, macht euch keine Gedanken – als ob wir Babys wären, die nichts mitkriegen!"

"Und wenn sie sich nun scheiden lassen?"
Da war es, das von beiden Kindern gefürchtetste Schreckens-Wort. Noch nie hat einer von beiden sich getraut, es wirklich auszusprechen. Lia flüstert es voller Angst, ihre Augen glitzern im wenigen Licht, das durch die Milchglasscheibe fällt. Lia und Lasse haben es immer nur leise für sich gedacht, das schlimme Wort, doch inzwischen ist es in der Wirklichkeit so nah gekommen, dass es eigentlich richtig gut tut, es endlich einmal laut zu sagen.

Lasse seufzt tief und steckt die Bettdecke ganz fest um sie beide. Das gibt so ein geborgenes Gefühl, denkt er. "Zuerst wollte ich ja gar nicht darüber nachdenken, der Gedanke war einfach zu schrecklich, aber diese Streiterei dauert nun schon so lange Monate. Fast jeden Abend, wenn Papa überhaupt mal nach Hause kommt ..." Er drückt Lia ganz fest an sich, um sie ein bisschen zu trösten. "Sie sprechen auch tagsüber gar nicht mehr richtig miteinander, bloß noch sowas wie ‚Die Telefonrechnung ist aber hoch‘ oder ‚Essen ist im Kühlschrank‘, hast du das nicht auch gemerkt?"
Lasses kleine Schwester zieht die Nase hoch und nickt mutlos im Dunkeln. "Ich wünschte ja auch, alles wäre wie früher, Lia", sagt Lasse leise. "aber das geht nun mal nicht! Vielleicht hört das Streiten ja auf, wenn sie nicht mehr zusammen wohnen? Vielleicht ist das doch besser, als so, wie es jetzt ist?"

"Ja – aber, und wir?", fragt Lia. Sie ist ein bisschen froh, dass Lasse schon so vernünftig darüber nachgedacht hat. "Haben wir dann keinen Papa mehr?", fragt sie noch. "Oder wohnen wir dann bei Papa und die Mama ist weg? Müssen wir dann in eine andere Schule und in einen anderen Kindergarten?" – "In meiner Klasse sind einige Kinder,", sagt Lasse beruhigend. "deren Väter woanders wohnen und die sie alle vierzehn Tage oder so besuchen. Ganz sicher gewöhnt man sich nach einer Weile daran. Also ich hätte jedenfalls lieber Mama und Papa einzeln, wenn sie dann nur nicht mehr streiten müssen!" Lia nickt, da hat Lasse mal wieder Recht, denkt sie ein bisschen getröstet.

Im Wohnzimmer ist jetzt Ruhe, aber Lasse hört, wie nebenan im Gästezimmer das Klappbett aufgeschlagen und bezogen wird. Das ist sicher auch kein gutes Zeichen, wenn die Eltern nicht mehr in einem Zimmer schlafen wollen.
"Wenn ich mal Kinder habe", sagt Lia plötzlich, "Dann heirate ich einfach gar nicht erst!" Über Lias Reihenfolge muss Lasse trotz aller Sorgen lächeln. Gut, dass wir uns gegenseitig haben, denkt er noch, bevor er endlich einschläft, vielleicht wird alles gar nicht so schlimm ...

 

Hi Susafee,

wie bei so vielen deiner Kindergeschichten kann ich nichts Negatives finden. Diesmal ist es ein sehr ernstes Thema, das trotzdem liebevoll aufbereitet ist - eine schwierige Mischung, die dir mM nach gelungen ist.
Schade, dass nicht jedes kleine Mädchen in dieser Lage einen Bruder wie Lasse hat.

Ginny

 

Hey Susafee!
Hat mir sehr gut gefallen. Wunderbar einfühlsam geschrieben. Ernstes Thema, das du aber mMn sehr gut verarbeitet hast.
Ich schließe mich ginny an: Schade, dass nicht alle einen Bruder wie Lasse haben.

Eine kleine Bemerkung habe ich:

DA war es, das von beiden Kindern gefürchteste Schreckens-Wort.
Ich mag es nicht so, wenn Wörter nur in Großbuchstaben geschrieben sind. Wirkt auf mich immer wie Hilflosigkeit, es nciht anders ausdrücken zu können.
Du könntest "Da" doch auch kursiv schreiben, oder? Wäre das nciht eine Möglichkeit?

schönen abend noch :)

 

Danke, gute Idee, gefällt mir kursiv auch besser!
LieGrü von Susafee

 

Hallo Susafee,

auch mir gefällt deine Geschichte gut. Ich beschäftige mich selbst gerade in einer (noch unfertigen) Kurzgeschichte mit dem Thema Trennung der Eltern, und daher weiß ich, dass es recht schwer ist, das kindgerecht darzustellen. Du hast das aber meiner Meinung nach sehr schön gelöst, vor allem auch die positive Komponente einer Trennung/Scheidung dargestellt, nämlich dass die ständigen Streitereien endlich vorbei sind. Die sind nämlich in vielen Fällen für die Kinder wirklich viel schlimmer als die Tatsache, dass sie einen Elternteil dann nur noch zum Umgangsrecht sehen.

Die Kritik von Jo kann ich nicht nachvollziehen. Ich finde, dass die Kinder nicht wie Teenager sprechen, insbesondere die Kleinere, Lia, nicht. Dass Lasse mit seinen Äußerungen reifer klingt als vielleicht andere neunjährige Jungen, hängt sicher damit zusammen, dass er gezwungen war, sich über die Situation viele Gedanken zu machen.

Also: eine wirklich gelungene Geschichte über ein ernstes Thema.

Liebe Grüße

Andrea

 

Hi Susafee,

es ist eine traurige Tatsache, dass viele Kinder sich mit der Scheidung der Eltern abfinden müssen.
Auch wenn du ein sehr gutes Bild geliefert hast, wie die Geschwister sich aneinander kuscheln, um die Sorge und Trauer nicht alleine erleben zu müssen, so bin ich doch mit Jo einer Meinung.

Während ich die Dialoge der Kinder las, dachte ich: Nein, so denkt und fühlt kein Kind mit neun Jahren und ein jüngeres, erst recht nicht.

Kinderseelen verzweifeln eher, in solch einer Situation, als dass sie rational denken, so wie es dein neunjähriger Prot tut.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass er den Weitblick haben kann, dass sich die Eltern, wenn sie getrennt sind, besser verstehen. Oder das er selber besser damit umgehen könnte.
Vielmehr glaube ich, dass Ängste aufkommen. Verlustängste, Liebesentzug, Schuldgefühle. Vielleicht auch der Gedanke: Was kann ich tun, damit sie wieder nett zueinander sind.

Du hast deine Geschichte gut und flüssig geschrieben.
Wirklich rund wäre sie, mMn, wenn in dem Bett ein fünfzehnjähriger liegen würde.

lieben Gruß, coleratio

 

Hallo Susanne,

Du hast ja neulich schon im Engeline-Thread geschrieben, daß diese Geschichte für Dich eher eine Aufarbeitung darstellt, deshalb hier auch gar nicht viel Kritik von mir, vielleicht nur soviel: Ich stimme im wesentlichen mit Jo und coleratio überein. Du solltest überlegen, ob Du Dich mit dieser Geschichte wirklich an Kinder wenden willst (was für jüngere Protagonisten spricht) oder ob Du es nicht einfach zu einer kurzen Erzählung für ältere Leser machen kannst. Im letzteren Fall würde ich ebenfalls einen älteren Lasse befürworten.

Berührt hat mich die Geschichte auf jeden Fall, und ein- oder zweimal habe ich mich ertappt gefühlt, z.B. hier:

als ob wir Babys wären, die nichts mitkriegen
Ich glaube, diesen Fehler machen alle Eltern manchmal, oder?

Schöne Grüße
Roy

 

hallo susafee!

also mir hat die Geschichte gut gefallen. Etwas zu jung erschienen mir die Kinder für die doch recht rationalen Überlegungen. Allerdings 15, wie coleratio vorschlägt, würde ich Lasse nicht machen! Vielleicht 12 ...
Am besten gefällt mir, dass aus Sicht der Kinder selbst erzählt wird. In diesem einen einzigen kleinen Moment, vielleicht eine halbe Stunde, im Kinderzimmer wird dem Leser klar, wieviel Angst die Kinder um ihre Eltern haben - meiner Meinung nach kommt das schon gut raus!
Und wenn cih darüber nachdenke, wer die Leser sein könnten: ich kann mir Grundschulkinder, 3 oder 4 Klasse gut vorstellen.
Meiner Meinung nach gelungen.

liebe Grüße
Anne

 

Hallo ihr Lieben,
ich denke, ihr dürft bei der "Sprache", in der sich beide unterhalten, nicht vergessen, dass es sich bei den Zuhörern (!), an die die Geschichte ja gerichtet ist, um Kinder im Alter meiner Protagonisten handelt! Das hört sich vielleicht zunächst wie ein Widerspruch an ... aber überlegt doch mal: die können sich (vielleicht) selbst noch nicht so ausdrücken, aber sie können es doch verstehen und haben ein Recht auf konkrete Sprache ohne "Verkindlichung", finde ich. Und das war mir dabei eigentlich am wichtigsten. Wären Lasse und Lia in meiner Geschichte älter, könnten sich gerade die jüngeren Kinder, deren Ängste noch diffuser und damit schlimmer sind, nicht mit der Geschichte identifizieren.
Freue mich immer über spannende Diskussionen mit euch!!
Liebe Grüße von der Susafee!

 

Liebe Susafee,

natürlich hat mich Deine Geschichte berührt. Ich erinnere mich nur zu gut an die angstvollen Fragen meiner Söhne, nachdem sie einen Streit zwischen meinem Mann und mir miterlebt hatten, ob wir uns auch scheiden lassen werden ...

Allerdings hatte auch ich beim Lesen die ganze Zeit das Gefühl, dass Lasse zu vernünftig und erwachsen für einen Neunjährigen ist. Das "Normale" ist doch, dass Kinder in diesem Alter nicht so rational über das "Trennungsproblem" nachdenken, sondern die Schuld für die Misere eher bei sich selber suchen, oder?

Auf der anderen Seite verstehe ich, dass Du den lesenden oder zuhörenden Kindern durch Lasses Worte Mut machen willst ...

Du siehst, für absolut gelungen halte ich Deine Geschichte nicht ...

Aber ich bin unentschlossen und kann kein endgültiges Urteil fällen :)

Liebe Grüße
al-dente

 

Gut, ihr Lieben,
Lasse befördere ich also zu "elf", bin ja nicht überzeugungsresistent ... *lächel*
Liebe Grüße von der Susafee

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom