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Tausend Leben

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22.03.2003
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Tausend Leben

Unvermutet trifft sie ihn wieder. Sie erkennt ihn sofort, ihren Gefährten. Immer wieder trafen sie sich zwischen den Zeiten, um tausend Leben miteinander zu teilen. Und nun betritt er den Hörsaal.

Er grüßt sie. Zögert vielleicht. Zu kurz, um zu zeigen, dass auch er um ihre Vergangenheit weiß.

Während des Seminars nimmt sie ihn ganz in sich auf. Sie ruft seine Seele und erneuert das Band. Sie sieht ihre gemeinsamen Erlebnisse in fernen Ländern zu fernen Zeiten. Die Erinnerungen ziehen vorbei. Das Mosaik ihrer Liebe.

Sie verabreden sich.

Sie sprechen über das Studium, über ihre ersten Jobs. Wie begierig er ist nach ihren Erzählungen, nach ihrer Meinung, nach ihrem Rat. Er beugt sich über den Tisch, räumt ihn leer, macht alles frei. Schafft ihnen Raum.

"Und? Privat?" Seine liebste Frage. Oder seine Angstfrage. Was will er wissen? Ob sie noch frei ist? Ob sie ganz ihm gehört, während er sich bedeckt hält? Er richtet sich auf, seine Augen werden ein wenig blauer, er erwartet ihre Antwort. "Ach, alles beim alten ... ich bin immer noch allein." Er atmet auf.

Jedesmal, wenn sie sich treffen, strahlt er sie an. Unbekümmert, arglos, wie ein Kind. Zeigt ihr seine Freude.

Damals, als sie in alten Zeiten gemeinsam am Schlossteich spielten, war er genauso. Der junge Prinz, ein Wildfang. Und sie hatte Mühe, mit ihren langen Röcken mitzuhalten. Dann hielt er in seinem ungestümen Tollen inne und kam zu ihr. Sie bauten kleine Schiffchen aus Blättern und Holz, die sie durch die Seerosen schickten.

Doch jetzt scheint ihn etwas zurückzuhalten. Er ist wie ein scheues Pferd, das sich langsam heranwagt, schnuppert, leise wiehert und plötzlich wie aufgeschreckt flieht. Immer wieder. Und sie weiß nicht wieso. Aber sie ahnt es.

"Ich kann morgen leider nicht." Seine Stimme klingt wie immer, als er vom Geburtstag seiner Freundin erzählt. Also doch. Natürlich ist er gebunden, natürlich ist er jemandem verpflichtet, natürlich steht jemand zwischen ihnen. "Ach so ... ja, klar, dann viel Spaß morgen ..."

Sie kennt das bereits. Auch damals, vor vielen Zeiten, war sie frei und er gebunden. An eine gewöhnliche Adelige. Sie trafen sich bei einem Empfang des Königs. Damals entschied er sich für sie. Vielleicht auch diesmal?

Sie sitzen sich gegenüber. "Und? Privat? Alles beim alten?" Nein, diesmal nicht. "Ich habe mich in dich verliebt."

Er ist ganz ruhig. "Das seltsame ist ja", beginnt er, "dass ich auch immer wieder mal in dich verliebt war ..." Was soll das? Immer wieder mal verliebt? Will er ihre zeitlose Liebe verspotten? "Du weißt aber schon, dass ich nicht frei bin ... ?" Natürlich weiß sie das mittlerweile. Nach langem Schweigen hat er es beiläufig erwähnt, wie eine unwichtige Tatsache.

Das Lokal ist stickig. Sie erinnert sich an die dunklen Zeiten. Sie hatten alte Frauen, Hexen, vor ihren Verfolgern versteckt. In einer Höhle in den Bergen. Bis sie ausgeräuchert wurden. Dunkler Rauch, der ihnen den Atem und das Leben nahm.

Und jetzt nimmt er ihr das Leben. Er spielt mit ihr. Er nimmt sie nicht ernst. Zuerst belügt er sie und wirft ihr dann kleine Bröckchen seiner Zuneigung hin.

Nach einigen Tagen schickt sie ihm eine Nachricht: "Freunde?"

Er meldet sich. Sie vereinbaren, dass sie sich weiterhin treffen. Ganz harmlos, ohne Hintergedanken. Sie lügen.

Alles ist wie immer. Die Gespräche, die Fragen, das Band. Sie wartet. Wartet darauf, dass er es endlich erkennt. Ihr Band endlich fühlt. Aufwacht.

Sie wartet und welkt. Wie damals. Als er in den Krieg zog. Als viele Sommer und viele Winter ohne ihn vergingen. Als sie allein und schutzlos war. Und auf ihren Tod hoffte.

"Und? Privat?" – "Alles beim alten ..." Er fühlt sich unbehaglich. "Halte ich dich etwa von einer Beziehung ab?" Ja. Ja. Ja. "Du? Nein, natürlich nicht ..." Sie denkt an Schachfiguren. War das jetzt ein falscher Zug gewesen?

"Wenn wir uns treffen, rauche ich immer mehr als sonst ..." Er steht auf und holt sich Zigaretten von der Theke. "Ich verstehe nicht, warum du immer noch allein bist. Du bist doch die perfekte Frau!" Er mustert sie, umfängt sie warm mit seinem Blick. Bemerkt ihre Irritation. "Stimmt, wir dürfen ja nicht schäkern." Er raucht schneller und schaut sie an.

Er hat ihr den Ball zugeworfen. Den Ball eines Mannes, der feig ist. Der taub und blind ist. Der dieses Leben ohne sie leben wird.

 

Hallo Dododo,

eine schöne Geschichte hast du geschrieben, sehr knapp, sehr stimmungsvoll und etwas mystisch. Bei den Zeitangaben habe ich mich manchmal gefragt, im wievielten Leben die beiden jetzt sind. Es müssen einige Tode dazwischen gekommen sein.
Einige Detailbemerkungen erspare ich dir trotzdem nicht. ;)

Zu kurz, um zu zeigen, dass auch er um ihre Vergangenheit weiß.
Auch, wenn im Grund ezu begreifen ist, dass mit "ihre" die gemeinsame Vergangenheit gemeint ist, merke ich, dass ich es zunächst immer automatisch allein auf die Vergangenheit des weiblichen Prot beziehe.
Sie bauten kleine Schiffchen aus Blättern und Holz, die sie dann durch die Seerosen schickten
Das "dann" erfüllt keinen Zweck

Deine Geschichte hat mir gut gefallen.
Einen lieben Gruß, sim

 

Hallo sim, hallo Jo,

zunächst mal: schön, dass euch die Geschichte grundsätzlich gefallen hat - freut mich!

Dann: Dass die Rückblenden aus dem Lesefluss reißen, damit habt ihr absolut recht. Ich glaube, das hängt auch mit meinem reduzierten Erzählstil zusammen, ein Stil, mit dem ich selber nicht glücklich bin. Aber ich habe einfach Hemmungen, breit zu erzählen, Stimmung und Atmosphäre aufzubauen. Vielleicht hängt das mit meinem Job als Journalistin zusammen - da arbeite ich nach dem Motto "Jeder Satz ein Treffer", hier muss jeder Satz eine (relevante) Information enthalten. Und dieses Denken übertrage ich dann auch auf meine Kurzgeschichten ... ich glaube, ich muss mir erst "erlauben", zu "erzählen" und nicht nur zu "berichten" - und dann könnte ich auch das Problem mit den teilweise schwer verständlichen Rückblenden besser lösen, indem ich mir für die jeweiligen Übergänge mehr Zeit lasse und die vergangenen Zeiten durch mehr Details etc. greifbarer mache.

Sobald ich Zeit habe, werde ich die Geschichte noch einmal gründlich überarbeiten ...

Danke noch mal für eure Kritik und liebe Grüße aus Tirol
dododo

 

Hallo Sue,

danke für dein wohlwollendes Feedback.

"Melancholisch" - das war genau die Wirkung, die ich beabsichtigt hatte ...

Und Tirol ist - zumindest heute - kein Urlaub, sondern Regen und harte Arbeit :)

liebe Grüße
dododo

 

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