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Tränen
Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal geweint hatte, aber es musste ewig her sein. Weder Wut, Trauer noch Verzweiflung hatten ihren dunklen Augen in den letzten Jahren Tränen entlocken können, und es war niemandem aufgefallen. Lange Zeit nicht mal ihr selbst.
Aber jetzt weinte sie, die Tränen schossen in Sturzbächen aus ihr heraus, ihr Oberkörper zuckte heftig, sie bekam kaum Luft, und dennoch schrie sie dabei, das Kissen in ihrem Arm fest umklammert, beinahe vollkommen mit dem Körper verdeckend, als wäre es ein kleines Kind, das geschützt werden müsse.
Niemand war da, um das Weinen zu hören. Niemand legte den Arm um sie, um sie zu trösten.
Auf der Beerdigung hatte sie nicht geweint. Mit starrer Miene hatte sie das Geschehen verfolgt, als würde es sie nichts angehen. Die teils verwunderten, teils empörten Blicke der Anderen waren an ihr abgeprallt, während sie überlegte, was sie empfand. In der Tasche hatte sie den Brief umklammert, den sie ihm schon vor langer Zeit geschrieben, aber niemals abgeschickt hatte. Jetzt lag dieser Brief vor ihr. Erst jetzt, beim betrachten des Umschlages waren die so lange ersehnten Tränen gekommen, vielleicht aufgrund des Bewusstseins, dass er ihn nun niemals lesen würde.
Als sie sich endlich etwas beruhigt hatte, nahm sie den schon vor vielen Jahren verschlossenen Umschlag und öffnete ihn. Langsam las sie den Brief, Zeile für Zeile, ließ dabei alles noch mal innerlich Revue passieren, las die Anklage, die zu schreiben alleine nicht ausgereicht hatte, und die abzuschicken sie niemals gewagt hatte. Jetzt war es zu spät.
„Lange ist es her, dass wir uns zuletzt sahen. Zu lange? Nicht lange genug? Ich bin noch immer verwirrt, kann bis heute nicht verstehen, was passiert ist.
So lange kannten wir uns schon. Ich habe mit deinen Söhnen gespielt, seit ich 8 Jahre alt war, jedes Wochenende, jede Ferien. Jede freie Minute unserer Kurzurlaube in unserem Ferienhaus verbrachte ich auf deinem Hof, auf dem Heuboden, im Stall, auf den Feldern... es war eine so schöne Zeit.
Warum?
Du warst mit meinen Eltern befreundet, hast uns beigestanden, als meine Mutter krank wurde, hast meine Tränen getrocknet, die doch niemand sehen sollte. Ich war eure Tochter, die ihr nie hattet, und ich war glücklich. Ich konnte dir alles anvertrauen, meine Ängste, meine Gefühle, meine Freude. Dinge, die ich niemals mit meinen Eltern teilen konnte. Du warst so wichtig für mich!
Warum?
Ich war zu Hause alleine, allein gelassen mit meinen Ängsten um meine Mutter, alleine gelassen mit der Trauer um ihren bevorstehenden Tod. Ich konnte die Kraft nur aus der Zeit bei euch schöpfen, in dieser Zeit lebte ich nur für die Wochenenden und die Ferien, um bei euch, bei dir frei zu sein. Ich war deine Tochter, die du nie hattest...
Warum?
Meine Mutter starb, ich war inzwischen 15, und auch damit allein gelassen. Mein Vater hatte nicht die Kraft, seine Trauer mit mir zu teilen, seine Ängste, seine Gefühle. Die Beerdigung war der schlimmste Moment in meinem Leben, aber ihr wart da, DU warst da, und du gabst mir die notwendige Kraft.
Warum?
Es war nur wenige Wochen nach der Beerdigung, das erste mal, das wir seitdem wieder zu Besuch waren, ich weiß es noch wie heute, werde es wohl auch nie vergessen.
Wir fuhren hinaus auf den Jagdstand, du wolltest mir etwas zeigen. Ich habe dir vertraut.
Du hast mich seltsam angesehen da oben, nahmst mich in den Arm, um mich zu trösten. Ich habe dir vertraut. Du warst der Vater für mich, den der meinige mir nicht sein konnte.
Warum?
Du hast mich angefasst, anders als sonst. Du hast mich berührt, und ich war verwirrt. Ich wollte das nicht, habe versucht, mich von dir zu lösen, aber du hast mich festgehalten. Der Mensch, dem ich so viele Jahre in meinem jungen Leben vertraut hatte, war verschwunden, übriggeblieben war ein Fremder, der mir Angst machte.
Warum?
Ich schrie, aber es war niemand da, der es hätte hören können. Ich versuchte dir zu entkommen, aber du warst stärker, und irgendwann ließ ich es nur noch willenlos geschehen, tat, was du verlangtest, widerwillig, voller Ekel, aber ich tat es.
WARUM?
Du weintest, hast dich entschuldigt, du wolltest es nicht. Ich schwieg, konnte nicht mehr weinen, hatte keine Tränen mehr. Habe sie auch heute nicht mehr.
Wir fuhren zurück, schweigend. Ich habe bis heute geschwiegen.
Warum?
Niemand wusste es, niemand wird es je erfahren, mein Vater ist noch heute ein guter Freund und Nachbar von dir. Wir fuhren noch oft in unser Ferienhaus, und ich konnte nicht sagen, warum ich nicht mitwollte, also fuhr ich mit. Und du hast mir immer in die Augen sehen können, als wäre niemals etwas passiert.
Oh ja, ich war vorsichtig, ich war niemals wieder irgendwo mit dir alleine. Und sobald ich alt genug war, schränkte ich die Besuche in unserem Haus immer weiter ein, bis ich schließlich gar nicht mehr mitfuhr.
Aber ich kann niemals vergessen.
Warum?
Warum schwieg ich? Warum schweige ich auch heute?“
Langsam griff sie zu einem Stift, schrieb etwas auf den Umschlag. Dann zog sie ihren Mantel an und fuhr erneut zum Friedhof. Es war bereits 2 Uhr morgens, doch darüber machte sie sich keinerlei Gedanken. Der kleine Dorffriedhof hatte keinen Zaun, und sie konnte sich sicher sein, dass niemand sie stören würde. Langsam näherte sie sich dem Grab und betrachtete teils voller Ekel, teils voller Zuneigung die vielen Blumenkränze, die es bedeckten. Behutsam nahm sie einige davon beiseite, grub ein kleines Loch in die Erde und steckte den Umschlag hinein. Nachdem sie alles wieder in Ordnung gebracht hatte, verharrte sie noch einen Moment, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Dann kehrte sie zurück zum Haus, packte ihre Sachen und fuhr für immer davon.
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„Du bist tot, aber ich kann endlich wieder anfangen zu leben“