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Unter der Hand

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Beitritt
02.01.2002
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Unter der Hand

Es war eine Gewitternacht in einem schwülen Sommer. Wie so oft übernachtete ich bei Stefanie. Ihre Eltern besaßen ein großes Haus mit einem noch größeren Garten, während wir in einer kleinen Mietwohnung lebten. In jenen Tagen verbrachte ich ganze Wochenenden bei meiner Freundin.

Schon früh am Abend hatte sich ein Unwetter angekündigt. Der Wind blies Stunde um Stunde stärker ums Haus, rüttelte an Fensterläden und pfiff zwischen die Dachschindeln. Gegen dreiundzwanzig Uhr setzte der Regen ein. Wir löschten das Licht in Stefanies Zimmer und zündeten Kerzen an. Ihre Mutter brachte uns ein Tablett mit Milch und Keksen. Im Hintergrund lief eine Cd. Wir kuschelten uns auf unsere Betten und sprachen über all die Dinge, über die beste Freundinnen in solchen Nächten miteinander sprechen. Es war eine dieser Nächte, wie man sie nie vergisst. Es können Jahre vergehen, man wird sich immer daran erinnern, wie man dort saß und den Sorgen, Wünschen und Träumen der Anderen lauschte, während die Zeit für ein paar Stunden stillzustehen schien.

Auf dem Höhepunkt des Gewitters musste ich zur Toilette. Ich schlich auf Zehenspitzen durch den Flur, um niemanden zu wecken. Ich wusste, dass Stefanies jüngere Schwester Sarah sich vor Gewittern fürchtete. In solchen Nächten war ihr Schlaf besonders leicht. Einmal hatte ich Sarah bei einem Unwetter erlebt. Ihr sonst so hübsches Gesicht war vor Angst verzerrt gewesen und bei jedem neuen Donnerschlag war sie zusammengezuckt. Auch ich kannte das mulmige Gefühl bei heftigen Gewittern, aber Sarahs Reaktion mit anzusehen war eine weit größere Qual gewesen. Als ich an ihrem Zimmer vorbeikam, bemerkte ich, dass die Tür offen stand. Ich hätte weitergehen können, ohne mich darum zu kümmern. Doch in diesem Moment kam mir wieder ihr Gesicht in den Sinn, der Ausdruck darin, wenn es donnerte. Ich beschloss nach ihr zu sehen, nur einen kurzen Blick in ihr Zimmer zu werfen, um mich zu vergewissern, dass sie schlief. Geräuschlos trat ich vor und spähte durch den Spalt.

Sarahs Bett stand in einer Ecke. Ich erkannte ihre langen Haare, die über das Kopfkissen fielen. Ein großer Schatten versperrte die Sicht auf den Rest ihres Körpers. Ich kniff die Augen zusammen. Ich kannte diesen Schatten, kannte seine Umrisse und kannte seine Bewegungen. Sarahs Vater streckte seine Hand aus und berührte ihr Haar. Sie hat Angst gehabt und ihn gerufen, schoss es mir durch den Kopf. Es donnerte. Ich verspürte einen heftigen Anflug von Mitleid für das Mädchen. Hoffentlich würde sie den Rest der Nacht gut schlafen können. Hoffentlich würde sie Ruhe finden und hoffentlich ... Ich stockte. Die linke Hand ihres Vaters lag unverändert auf ihrem Haar. Seine Rechte jedoch lag tiefer. Ich kniff die Augen zusammen. Mein Herz schlug schneller. Sarahs T-Shirt war hochgerutscht und gab eine Stelle unterhalb ihrer winzigen Brüste frei. Unterhalb ihrer Brüste, wo seine Hand ruhte.

Ein erneutes Donnern ließ mich zusammenfahren. Erschrocken taumelte ich zwei Schritte zurück. Mit einem Mal hatte ich furchtbare Angst, entdeckt zu werden. Ohne mich noch einmal umzudrehen, rannte ich den Flur entlang und schlug die Badezimmertür hinter mir zu. Minutenlang saß ich auf dem Badewannenrand und starrte vor mich hin. Erst als mir einfiel, dass Stefanie unruhig werden könnte, wenn ich zu lange fortblieb, stand ich auf und ging zurück zu ihrem Zimmer. Als ich an Sarahs Tür vorbeikam, versuchte ich keinen Blick darauf zu werfen. Ich tat es dennoch. Sie war geschlossen.

Die Gespräche, die ich in jener Nacht mit Stefanie geführt hatte, blieben mir bis heute unvergesslich; nicht so sehr, weil sie von besonderes Art gewesen wären, sondern weil es die letzten bleiben sollten, die wir in dieser Vertraulichkeit führten. Bald nach der Gewitternacht gerieten wir in Streit über irgendeine Kleinigkeit. Stefanie war zu stur, um auf mich zuzutreten und ich konnte es nicht, selbst wenn ich gewollt hätte.

Manchmal verspüre ich den Drang, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen und ihre Nummer zu wählen, um mit ihr zu reden und ihr von der Nacht zu erzählen. Doch ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Wer kann schon sagen, was ich in jener Nacht tatsächlich gesehen habe. Vielleicht war es das, was ich befüchte. Aber vielleicht war es nichts von dieser Art. Vielleicht war es ja nichts. Ich hoffe es.

 

Hallo, Ginny Rose,
sehr "schöne" Geschichte, sehr gefühlvoll, sehr nachdenklich machend.
Man weiß zwar, dass man die Erzählerin verurteilen sollte, weil sie nichts tut, aber man kann es nicht, weil man fühlt, dass man sich vielleicht genauso verhalten würden. Du schilderst sehr glaubwürdig das Dilemma der Protagonistin, den Drang, Probleme tot zu schweigen, um des lieben Friedens Willen, damit alles so bleibt, wie es ist, und gleichzeitig zeigst du, dass das nicht funktioniert.
Hat mir wirklich gefallen.

 

Hallo Ginny Rose,

gut hat mir an der Episode vor allem gefallen, dass du sie heruntergeschrieben hast, ohne irgendetwas zu verurteilen oder über die handelnden Personen philosophisch zu werden, wie man es bei einem so brisanten Thema öfters liest.

 

Hi Ginny!

eine Cd
eine CD, oder?

über die beste Freundinnen in solchen Nächten miteinander sprechen
Das würde mich wirklich interessieren. Schreib doch mal eine Geschichte über einen Dialog, den Freundinnen so typischerweise führen. Das wäre wirklich interessant.

Unterhalb ihrer Brüste, wo seine Hand ruhte.
Uhh, das wird ein sehr ernstes Thema.

Und du hast es sehr gut zu Ende gebracht. Echt gut.
Eine sehr bewegende Geschichte, finde ich.
Obwohl du das Thema nur streifst, geht die Geschichte sehr nahe. Was wieder mal beweist, dass die Phantasie des Lesers noch immer die besten Geschichten schreibt.

Hut ab, sehr gut!
:thumbsup:

In diesem Sinne
c

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi ihr drei,

danke für's Lesen und Kommentieren. Freut mich, wenn Euch der Text gefallen hat.

ohne irgendetwas zu verurteilen oder über die handelnden Personen philosophisch zu werden
Yeah, rumphilosophieren liegt mir in Geschichten nicht und moralisieren kann ich nicht leiden (auch wenn's mir manchmal passieren mag), also hab ich mich um genau das bemüht. :-)

@chazar:

eine CD, oder?
Wird verbessert. :dozey:
Schreib doch mal eine Geschichte über einen Dialog, den Freundinnen so typischerweise führen. Das wäre wirklich interessant.
Das wäre es ganz sicher. <g>
Mal schauen, vielleicht mach ich das sogar mal. Irgendwo im Hinterstübchen beginn sich eine Idee zu formen ... aber da ich kein Talent für "Auftragsarbeiten" habe, kann das noch dauern. ;-)

Ginny

 

Hi Ginny!

Hehe, Auftragsarbeit? Gibt aber kein Geld dafür. Wäre aber wirklich interessant. Falls du es machst, informier mich bitte.

c

 

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