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Serie Van Helsings Abenteuer - Van Helsings Reiseunterbrechung

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21.01.2003
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Van Helsings Abenteuer - Van Helsings Reiseunterbrechung

Ein schmutzigbrauner Kasten, der nicht in den Wald gehörte. Er holperte, torkelte und schlingerte auf seinen Rädern, von vier Pferden gezogen, von unablässigen Bäumen umgeben. Sie verdunkelten den Weg, auf dem die Abenddämmerung mit der Kutsche um die Wette lief.
Van Helsing, der berühmte Vampirologe und Erforscher übernatürlicher Phänomene, sah müßig zum Fenster hinaus. Er befand sich auf dem Weg nach Tilovo, um an der dortigen Universität einen Vortrag über Vampirismus zu halten. Seine scharfen, hageren Gesichtszüge erweckten den Anschein, er sei in Gedanken vertieft. Doch dachte er an nichts, hörte bisweilen das Rufen, den Peitschenknall des Kutschers, und er wunderte sich nicht, als die Kutsche plötzlich anhielt. Es war ein weiter Weg. Vermutlich musste der Kutscher sich erleichtern. Als der Wagen wieder anfuhr, rumpelte es auf dem Kutschendach. Durch das rückwärtige Fenster sah Van Helsing, ein Mann lag auf dem Weg und blieb hinter ihnen zurück. Es war der Kutscher. Van Helsing sah zur Seite. Ein Gesicht hing vom Dach herab. Wenn man von einem Kopf sprechen konnte; er schien Teil des Rumpfes. Das Gesicht bestand aus Brauen, unter denen Augen, die ihn fixierten, kaum zu sehen waren. Ein grauer Zahn ragte aus einem grinsenden Mund, der sich von Ohr zu Ohr erstreckte und über dem eine breite Nase sattelte.
Van Helsing lehnte sich zurück, als das Gesicht verschwand und dachte nach. Was war das für ein Wesen? Er würde es heraus bekommen. Blätter und Äste schlugen gegen die Fenster der Kutsche. Sie waren vom Weg abgekommen. Die Zeit schien endlos, dann veränderte sich die Landschaft. Nebelbänke umfingen Birken und Krüppelkiefern. Weiden ragten wie einsame Soldaten aus dem Dunst. Wasser breitete sich zwischen den Bäumen aus, und als ein großes Backsteinhaus aus dem Nebel hervorkam, fuhr die Kutsche vor den Eingang. Die Tür wurde aufgerissen.
Sie waren klein und pelzbewachsen. Etwas Hartes schlug gegen seinen Schädel. Noch einmal sah er ein grinsendes Gesicht, dann wurde es dunkel um ihn.

Van Helsing schlug seine Augen auf und betastete stöhnend seinen Kopf. Er fand sich in einem Bett. Es war Tag und Regen trommelte gegen das Dach. Äste und Zweige tanzten wild vor dem Fenster. Sein Blick fiel auf eine junge Frau in einem weißen Kleid. Die dunklen Haare schienen Van Helsing ein ovaler Rahmen, in dem das Glas des Spiegels den müden Abglanz eines Gesichts hervorbrachte. Es bewegte seine Lippen, während blassblaue Augen durch ihn hindurch zu sehen schienen.
"Helfen Sie", hörte er, bevor er wieder einschlief. "Helfen Sie mir."

Der Sturm hat sich gelegt. Das Feuer der Abendsonne ließ die Blätter der Bäume aufglühen. Van Helsing wandte sich vom Fenster ab, zog sich an und öffnete die Tür. Aus den Wänden kam das Ächzen eines Menschen. Van Helsing blieb im Flur stehen. Das Jammern verklang, und Van Helsing ging weiter. Ahnenbilder hingen an der Wand. An einem Ende des Ganges wartete ein mannshoher Spiegel. Am anderen Ende fiel Licht durch eine halb offen stehende Tür. Dahinter war ein Salon. Feuer loderte im Kamin, vor dem zwei hohe Sessel standen. Van Helsing ging auf diese zu und stockte, als er den Troll sah. Ein braun behaarter Bauch spannte sich unter einer offenen Livree, aus der das grinsende Gesicht ragte. Er kam aus seinem Sessel und wurde doch nicht größer. Der Troll stand auf kurzen dicken Beinen und bot Van Helsing mit einer Handbewegung den Sessel an. In dem anderen saß die bleiche junge Frau und blickte ins Feuer. In dem großen Sessel wirkte sie zart und zerbrechlich.
"Warum bin ich hier?"
"Helfen Sie mir, meine Mutter zu finden."
Van Helsing beugte sich vor. "Was ist mir ihr?"
"Sie ist vor einer Woche verschwunden." Das Feuer rötete ihr Gesicht.
"Sie haben die Bilder meiner Vorfahren im Flur gesehen. Das Geschlecht der Clairmonts." Ihr Mund verzog sich. "Sehen Sie, was daraus geworden ist." Sie sprang hoch, baute sich vor ihm auf. Ihre Stimme klang weinerlich: "Ich, Rosanna, die Herrin des Hauses Clairmont. Allein mit diesen, diesen…" Ihr Blick ging über Van Helsing hinweg. Geschirr klapperte. Van Helsing drehte sich und sah an der hohen Rückenlehne vorbei in den Raum hinein. Es waren noch einige Trolle hinzugekommen. Sie trugen Speisen auf.
"Wer sind sie?"
"Trolle, meiner Familie seit vielen hundert Jahren verbunden."
Am Tisch achtete Van Helsing nicht auf das, was er aß. Je länger er fragte, desto faszinierter lauschte er ihren Antworten. Doch halfen sie ihm nicht die Frage zu klären: Die Mutter, was war mit ihr? Van Helsings Neugier wuchs. Die ätherische Zartheit der Frau, die ihm gegenüber saß, ihre mädchenhafte Stimme brachte in Van Helsing Emotionen hervor, die ihn verwirrten. Er stellte sich vor, wie Rosanna unter einem geöffneten Regenschirm spazieren ging und vom Wind in die nächste Ortschaft getragen wurde.
"Der nächste Ort. Wie heißt der?"
"Prilep."
Van Helsing zog sich zurück um nachzudenken. Auf dem Weg zu seinem Zimmer hörte er das Ächzen erneut. Van Helsing blieb stehen und lauschte. Eine Petroleumlampe hing von der Decke. Er sah sich im Spiegel am Ende des Ganges und erschrak, als er im schwachen Schein der Lampe nur das Weiße seiner Augen sah.
Das Stöhnen kam aus der Richtung des Spiegels, und er ging darauf zu. Van Helsing streckte eine Hand aus. Sie ging durch das Glas hindurch. Er zögerte einen Augenblick, dann beugte er sich vor und drückte seine Stirn gegen den Spiegel. Er schien wie Wasser. Sein Kopf ragte in ein Zimmer hinein. Ein Mann lag auf einer Ottomane. Er war alt, und sein Gesicht war eingefallen.
"Bleiben Sie, wo sie sind!" Seine Stimme klang schwach. "Kommen Sie nicht näher!"
"Warum? Wer sind Sie?", fragte Van Helsing.
"Ich bin Justus Clairmont. Kämen Sie in diesen Raum, erginge es Ihnen wie mir."
Es war ein zweiter Salon, ähnlich dem am anderen Ende des Ganges. Van Helsing sah, der Raum hatte weder Türen noch Fenster. An den gegenüber liegenden Wänden hingen burgunderfarbene Teppiche. Dann sah er ein Regal, in dem ein einziges Buch lag. In der Mitte des Raumes standen Ledersessel um einen Kaffeetisch. In der Ecke neben dem Bücherregal lagen Knochen, Brustkörbe, Schädel von Menschen. Van Helsing fröstelte. Auf dem hölzernenBoden zogen sich verblichene Linien eines Pentagramms entlang.
"Was meinen Sie damit?"
"Es gibt keine Tür. Ich bin hier gefangen."
"Sagen Sie mir, was ist passiert?" Der Mann sprach stockend. Er hustete. Blut quoll ihm aus dem Mund und tropfte auf seinen Hals.
"Es ist der Fluch, der von einem Clairmont auf den anderen übergeht, wenn der Vater stirbt. Ich lebe nicht mehr lange, dann wird es meine Tochter treffen." Für eine Weile blieb er stumm, dann sagte er: "Gehen Sie jetzt" und drehte Van Helsing den Rücken zu.
Van Helsing zog seinen Kopf zurück und ging auf sein Zimmer. Er stellte sich vor das Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Die Stämme der Weiden glänzten unter dem Mond. Silberne Lichter tanzten um sie herum. Van Helsing holte Schreibzeug aus der Reisetasche, setzte sich aufs Bett und fasste seine Eindrücke zusammen: Als sich die Clairmonts vor mehreren Jahrhunderten mit schwarzer Magie befassten, hatten sie sich in dieses Gebiet zurückgezogen. Fernab von der Zivilisation und den Wegen dorthin. Jetzt lebte Rosanna allein, so sagte sie. Ihre Mutter war vor vierzehn Tagen zu Besuch gekommen und nach einer Woche verschwunden. Ihr Vater? Rosanna wollte nicht über ihn sprechen. Ihr Vater? Er war der Mann hinter dem Spiegel.
Einer ihrer Vorfahren hatte mit den Trollen einen Pakt geschlossen, in dem er zusagte, Fremde, die sich längere Zeit in dieser Gegend aufhielten, verschwinden zu lassen. Als Gegenleistung konnten die Clairmonts ihre Experimente schwarzer Magie fortsetzen. Ihre Bedürfnisse wurden von den Trollen gedeckt. Dieses Abkommen war anscheinend noch immer in Kraft.

Am nächsten Morgen ging Van Helsing zu den Ställen und ließ von den Trollen, die dort arbeiteten, die Pferde vor die Kutsche spannen. Mit ihr fuhr er nach Prilep. Die Sonne stand blass am Himmel. Die Gasse, der er folgte, war tief in die Häuser eingeschnitten und verdunkelte sich zur Kirche hin, die am Ende des Weges auf ihn wartete. Auf deren oberster Stufe empfing ihn ein Mensch, den die Jahre zu einem kleinen, alten, gebrechlichen Mann abgeschliffen hatten.
"Die Clairmonts sagten Sie?" Der Pfarrer ging mit Van Helsing in das Gebäude neben der Kirche.

Ins Haus der Clairmonts zurückgekehrt, vervollständigte Van Helsing seine Notizen. Der Pfarrer hatte ihm das Kirchenbuch gezeigt. Die ersten Eintragungen über die Clairmonts stammten aus dem sechzehnten Jahrhundert, die letzten aus dem danach. Es war die Zeit, in der Josef Clairmont seinen Pakt mit den Trollen gemacht und die Kirche ihn wegen Hexerei ausgestossen hatte. Der Priester erzählte ihm von dem Hexenbuch, dass im Haus der Clairmonts aufbewahrt werden würde.

"Wo ist das Hexenbuch?" Es war früh am Morgen.
"In diesem Zimmer." Clairmont sah erschrocken auf Van Helsings Kopf.
"Hüten Sie sich vor den Trollen! Sie wollen keine Fremden. Gehen Sie von hier fort, bevor es zu spät ist!" Van Helsing schob eine Hand durch den Spiegel.
"Geben Sie es mir, schnell!" Jemand umfasste seine Schultern, riss ihn in den Gang zurück und warf ihn zu Boden. Benommen sah Van Helsing den drei Trollen nach, die im Salon verschwanden.

Nichts deutete auf ihr brutales Verhalten hin, als Van Helsing mit Rosanna zu Mittag aß. Beflissen trugen Trolle die Speisen auf. Sie grinsten. Van Helsing wusste es nicht zu deuten.

Am Abend sah er sich das Haus von außen an. Er wusste, der Salon Clairmonts lag dort, wo keine Fenster vorhanden waren, durch die man hätte eindringen können. Van Helsing fühlte sich beobachtet. Ein Troll fegte den Hof, ein anderer stutzte die Hecken, während ein dritter Blumen pflanzte. Vermutlich würden die Trolle hinter dem Haus die Ställe ausmisteten. Er sah, wie Rosanna aus dem Gebäude kam und lud sie zu einem Spaziergang ein. Sie trug einen bordeauxfarbenen Rock, der die Zartheit ihrer Knöchel erahnen ließ. Eine hochgeschlossene Bluse verbarg ihren schlanken weißen Hals, während ihre dunklen Haare kunstvoll aufgesteckt waren.
Sie gingen durch Heidekraut und ließen die Trolle hinter sich. Es lag eine feierliche Stimmung über dem Ort, als ob alle Geräusche der Natur aus weiter Ferne zu ihnen kämen und dort ihren Zauber entfalteten. Van Helsing ergriff Rosannas Arm. Stumm verharrten sie in der Schönheit des Augenblicks. Sümpfe. Das Froschkonzert, das Summen von Mücken, das Flattern von Fledermäusen vereinigten sich mit dem Geräusch der Gasblasen, die an die Oberfläche des Wassers stiegen, in dem sich zu beiden Seiten des Pfades die Strahlen des aufkommenden Mondes spiegelten. Der schmale Weg schlängelte sich zwischen Kiefern und Birken hindurch. Dann sah Van Helsing wieder die Lichter zwischen den Bäumen.
"Irrlichter," meinte Rosanna. "Es gibt sie, soweit ich zurückdenken kann."
"Ich möchte sie mir ansehen." Van Helsing machte einige Schritte nach vorn.
"Nicht!", rief die Frau. Sie lief ihm nach und versuchte ihn zurück zu ziehen. "Die Trolle. Sie wollen das nicht!"
"Warum?" Sanft löste sich Van Helsing von ihr und ging weiter.
"Ich weiß es nicht."
"Dann lasst es uns herausfinden."
"Wir werden im Moor versinken."
"Bleiben Sie hier. Ich gehe allein."
Vorsichtig setzte Van Helsing einen Fuß vor den anderen.

Es waren keine Irrlichter, keine trügerischen, mörderischen Phänomene, die ihn in den Sumpf hätten locken wollen. Als sich Van Helsing näherte, nahmen sie die Form von Gesichtern an. Eine Kakophonie von Stimmen füllte seinen Kopf. Sie schrien, stöhnten, lamentierten, beschworen ihn, den Fluch zu bannen, der auf ihnen lastete. Waren es die Seelen der Menschen, die über Jahrhunderte hinweg in diesem Gebiet verschwunden waren? Schreie der Verzweiflung überlagerten Van Helsings Gedanken. Er konzentrierte sich auf einen einzigen.
"Ist Rosannas Mutter unter euch?"
Etwas kam hinter den Sträuchern hervor.
"Was ist mit meinem Kind? Geht es ihm gut?" Es hatte die fülligen Formen einer erwachsenen Frau. Geblendet hielt sich Van Helsing eine Hand vor Augen, dann riskierte er einen Blick zwischen die Finger hindurch: Lange, bis auf die Hüften fallende leuchtende Haare umrahmten ein ovales Gesicht, in dem Augen, Nase und Mund in einem grell weißen Fleck verschwammen. Dann fielen die Strahlen in sich zusammen und von der Erscheinung blieb nur ein Gesicht.
"Retten Sie meine Tochter." Ihre Stimme klang wie aus weiter Ferne. "Wenn ihr Vater stirbt, ist sie verloren."
Van Helsing machte kehrt und ging in die Richtung des Hauses.
"Hüten Sie sich vor den Trollen", hörte er noch, und da sah er sie. Es waren mehr als drei, mehr als zehn, mehr als zwanzig. Sie hatten eine Kette gebildet und kamen grinsend aus der Richtung des Hauses auf ihn zu. Als Van Helsing in den Sumpf zurück rannte, verlor er plötzlich den Boden unter den Füßen und rutschte bis zu den Hüften ins Wasser. Die Trolle bildeten einen Ring und zogen ihn enger. Van Helsing spürte, wie er im Morast versank. Behaarte Pranken griffen nach seinen Armen, zogen ihn aus dem Sumpf. Die Trolle sagten nichts, sie grinsten, als sie ihn packten, ins Haus zurück trugen und sie blieben auch stumm, als sie ihn durch den Gang schoben und in den Spiegel stießen.

"Sie Narr! Was haben Sie getan!" Nichts, dachte Van Helsing. Ich habe nur einen Spaziergang gemacht. Nun stand er als Gefangener in Clairmonts Salon. Er drehte sich zu dem Spiegel, der dem auf der anderen Seite der Wand in Form und Größe glich. Nur gab er nicht nach, als er seine Hand darauf legte. Van Helsing griff nach einem schweren Sessel und schleuderten ihn gegen das Glas. Es ließ sich nicht zerstören. Van Helsing atmete ein paar Mal tief durch und wanderte an den Wänden des Raumes entlang.
"Das Hexenbuch. Wo ist es?"
Clairmont deutete mit einer matten Handbewegung auf das Bücherregal, in dem ein schmales Buch lag. Als Van Helsing es aufschlug, tanzten die Buchstaben vor seinen Augen. Erst jetzt spürte er, wie müde und nervös er war. Eine Situation wie diese war ihm noch nicht begegnet. Erschöpft ließ er sich mit dem Buch in einen Sessel fallen und rückte die Lampe auf dem Tisch zurecht.
Er fing an zu lesen.
Beschwörungen! Er fand keine! Was er las, waren Vorbereitungen darauf. Das Buch enthielt Beschreibungen des Pentagrammes, an welchen Seiten sich Personen aufzustellen hatten, wenn es weniger als fünf waren. Es enthielt Warnungen wie die, während der Beschwörung nicht in das Pentagramm zu treten. Nervös blätterte Van Helsing durch die Seiten, dann sah er, wie der Text am Schluß mitten im Satz abbrach, und er rief: "Clairmont, wo ist der restliche Text?"
"Es gibt keinen weiteren."
"Clairmont. Das ist ein Hexenbuch, und Hexenbücher enthalten Invokationen, Beschwörungen."
"Sie sind in dem Buch." Clairmonts Stimme war kaum noch zu hören.
Van Helsing spürte, wie sich die Wut in ihm ausbreitete, und er hatte Mühe, einen klaren Kopf zu bewahren. Und Clairmont lag im Sterben. Van Helsing setzte sich zu ihm.
"Clairmont, ich habe den Text überflogen und finde keine Beschwörungen in ihm."
Clairmont bewegte seine Lippen und Van Helsing beugte sich zu ihm hinab.
"Lesen Sie ihn... laut." Dann brach Clairmonts Blick.
Van Helsing tastete nach dessen Halsschlagader. Der Mann war tot. Van Helsing sah auf die Knochen von Clairmonts Vorvätern. Ihm wurde schwindlig, als ihm klar wurde, dass er mit dem Toten allein in dem Raum war. Er setzte sich wieder mit dem Buch vor die Lampe und las, die letzten Worte Clairmonts im Ohr, laut vor sich hin. Ein gellender Schrei unterbrach seine Lektüre. Er kam aus der Wand. Dann stürzte Rosanna durch den Spiegel und fiel auf den Boden. Zum ersten Mal schienen ihre Augen voller Leben. Doch was heißt Leben, dachte Van Helsing, wenn es nur Schmerz und Schrecken hervorbringt? Es schien, als hätten Rosanna diese Empfindungen wieder unter die normal Sterblichen gebracht. Sie warf sich über ihren toten Vater und weinte hemmungslos. Benommen vor Bestürzung sah Van Helsing auf sie hinab und wartete. Als sie ihre Tränen vergossen hatte, zog er sie zu sich hoch und hielt sie in seinen Armen.
"Die Trolle", weinte sie, "sie haben mich durch den Spiegel gestoßen. Und Sie, Van Helsing, Sie können mir jetzt auch nicht mehr helfen."
"Dies Buch", und er zeigte ihr den schmalen Band, "dies Buch wird unsere Rettung sein." An diese Worte hätte er selbst gern geglaubt. Van Helsing setzte sich mit ihr auf eine Ottomane. Eine Hand umfaßte ihre Taille, als suche er Stärke bei der Frau. In der anderen hielt der das Buch, aus dem er weiter las.
Ihm ging das Zeitgefühl verloren. Van Helsing las von dem Pentagramm, er las über Dämonen, er las über gefallene Engel, er las über Hexen, er las laut und hörte auf der letzten Seite mit dem abgebrochenen Satz auf.
Was nun, dachte er. Clairmont hilf!, und er sah auf den Toten. Nervös zog er Rosanna an sich, blickte auf ihr zartes bleiches Gesicht, auf ihren Mund, der sich erwartungsvoll öffnete. Sein Blick wanderte zum Buch zurück. Er schlug die erste Seite auf und stutzte. Dort wurde der Satz fortgesetzt. Hastig überflog Van Helsing die Seiten. Invokationen! Beschwörungen! Anrufungen! Die Fortsetzung des Textes begann auf der ersten Seite. Es war ein Hexenbuch.
"Wir haben es!" rief er und küsste Rosanna auf die Wange. Dieser emotionelle Ausbruch überraschte und verwirrte ihn, und er nahm sich vor, zur gegebenen Zeit über den Grund seines Verhaltens nachzudenken.

Als sie an zwei Seiten des Pentagrammes standen und gemeinsam die Beschwörungsformel sprachen, begann der Boden unter ihren Füßen zu schwanken. Van Helsing beobachtete, wie Rosanna ängstlich zu ihm herüber sah und nickte ihr aufmunternd zu.
..."nimm die Last des Fluches vom Haus Clairmont und erlöse die verdammten Seelen...". Das Beben wurde stärker. Flammen schossen aus dem Pentagramm. Ein Troll flog durch den Spiegel in den Raum hinein und blickte wild um sich, dann versuchte er sich auf Van Helsing zu stürzen. Der wich ihm aus und der Troll lief in das Feuer. Van Helsing sah durch die Flammen hindurch, wie eine rote, knochige Klaue aus dem Boden hervor kam und den Troll in die Tiefe zog.
Erste Risse zeigten sich in den Mauern, und als der Spiegel zerbarst, ergriff Van Helsing Rosannas Hand und sprang mit ihr durch das freigewordene Loch, rannte mit ihr über den Gang in sein Zimmer. Sie flüchteten durch das Fenster in die Morgendämmerung und drehten sich erst um, als das Haus mit lautem Getöse in sich zusammen fiel. Van Helsing sah Rosannas fassungslosen Blick, dann wandte sie sich den Trollen zu. Sie waren im Sumpf, hatten ihnen die Rücken zugekehrt und blickten bewegungslos auf die Lichter, die sich in die Lüfte erhoben und zwischen den Wolken verschwanden.
"Mutter!" Schreiend versuchte sich Rosanna loszureißen.
"Sie ist erlöst, geht mit den anderen dort hin, wo auch wir später sein werden." Ohnmächtig sank Rosanna in Van Helsings Arme. Er warf sich ihren Körper über die Schulter, lief mit ihm zu den Ställen. Pferde rannten aufgeregt in den Boxen herum, die Kutsche war unversehrt. Van Helsing hob Rosanna auf den Kutschbock. Dann zog er die Pferde aus den Ställen. Nur unter großen Mühen war er in der Lage, sie anzuspannen.
Als er los fuhr, warf er noch einen letzten Blick auf die Ruine der Clairmonts, auf die Trolle, die den befreiten Seelen hinterher sahen. Dann machte er sich mit Rosanna auf den Weg nach Prilep.
Er sah sie von der Seite an. Mit einer Hand hielt er die Zügel. Seine andere hielt Rosanna auf dem Kutschbock. Sie hatte alles verloren. Ihren Vater, ihre Mutter, ihr Heim. Warum liefen seine Emotionen Amok, wenn sie in seiner Nähe war? Dies herauszufinden würde seine nächste Aufgabe sein. Er konnte sie nicht allein lassen und er wollte es nicht. Er hatte das Gefühl, das was er dies letzten Tage erlebt hatte sei nichts im Vergleich zu dem, was auf ihn zukommen würde.

 

Ich war mir anfangs nicht ganz sicher, wo ich den Text einzuordnen habe. Scheint aber eine Horrorsatire zu sein.

>Seine scharfen, hageren Gesichtszüge erweckten den
>Anschein, er sei in Gedanken vertieft. Doch dachte er
>an nichts,
:D

>Van Helsing lehnte sich zurück, als das Gesicht
>verschwand
...
>Niemand antwortete, und Van Helsing fügte sich ins
>Unabänderliche
...
>Das Jammern verklang, und Van Helsing ging weiter.
LOOL! Der hat ja die Ruhe weg...

>Die Tür wurde aufgerissen. Sie waren klein und
>pelzbewachsen
Dazwischen vielleicht ein Absatz...

>Die dunklen Haare schienen Van Helsing ein ovaler
>Rahmen, in dem das Glas des Spiegels den müden
>Abglanz eines Gesichts hervorbrachte
Starker Satz!

>"Wo ist das Hexenbuch?" Es war früh am Morgen.
LOL!

>"In diesem Zimmer." Clairmont sah erschrocken auf Van
>Helsings Kopf.
LOOL!

>Das Froschkonzert, das Summen von Mücken, das
>Flattern von Fledermäusen vereinigten sich mit dem
>Geräusch der Gasblasen, die an die Oberfläche des
>Wassers stiegen, in dem sich zu beiden Seiten des
>Pfades die Strahlen des aufkommenden Mondes
>spiegelten.
Immer wieder interessant, wie zwischendurch richtige Kleinode der Prosa eingestreut werden.

Danach ließ es leider stark nach und wurde mehr und mehr zu einer konventionellen Märchenstory. Van Helsing, der Anfangs als herrlich vertrottelt und verkalkt dargestellt wurde und wie Mr Magoo von 1000 Schutzengeln beschützt durch die Kulisse wandelte, wurde immer wacher und aktiver. Aber der Text dadurch auch immer langweilger. Konkrete textuelle Anmerkungen habe ich dazu verständlicherweise nicht, und sprachliche Patzer fand ich auch keine Wesentlichen (letzteres ist ein Lob).

Na ja, vielleicht überarbeitest du die Story mal.

r

 

Danke,

>Na ja, vielleicht überarbeitest du die Story mal.

Habe sie gerade geschrieben. Lasse sie erst mal abhaengen. Ich nehme jedoch an, dass sie so bleibt. Der Plot ist wohl stimmig. An dem moechte ich nichts mehr aendern. - Nachdem ich Jorge Luis Borges gelesen habe, nahm ich mir vor, Prosa zu ueben. Macht Spass.

Dass das Thema langweilig rueberkommt: Mit Horror habe ich meine Probleme. Ist im Grunde auch keiner, nur wo haette ich sie sonst unterbringen koennen?

Gruss,
Claudio

 

Die Frage ist falsch. Die Geschichte steht schon richtig in dieser Rubrik, und darum geht es sicher nicht.

Die Langeweile ergibt sich vielleicht aus der falschen Erwartungshaltung, die sich zu Beginn aus dem zunächst höchst satirischen Stil ergibt. Das Witzige, auf das man sich eingestellt hat, endet, und für die eigentliche Handlung hatte zumindest ich dann kein rechtes Auge mehr.

Kennst du "Die nackte Kanone?" Denk dir die Gags daraus weg, und du hast einen langweiligen Krimi.

r

 

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