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Vergeltung eines Massenmörders

jbk

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17.06.2003
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Vergeltung eines Massenmörders

Vergeltung eines Massenmörders

„Schnee“, sagt Alfred. „Den Geschmack von Schnee auf der Zunge, das wüsche ich mir. Ich erinnere mich nicht, welche Jahreszeit wir haben oder welchen Monat. Auch verwechsle ich oft Tag und Nacht. Zeit ist wie Sand. Weht umher, nicht zu greifen. Aber dann denke ich an tanzende, weiße Flocken. Kühl, angenehm. Meine Tochter rodelte gerne. Sie hatte immer einen roten Schal um. Und nach dem Rodeln, da sah ihre Nase genauso aus…“

Ein dumpfes Geräusch ist zu hören. Wie Holz, das fernab auf Metall geschlagen wird.

„Sprich weiter! Alfred, wie war das damals? Nicht einschlafen. Erzählen, Alfred, komm schon.“ Helena, ehemals Präsidentin eines großen Autokonzerns, attraktiv, da blond und schlank und zugleich auch üppig, intelligent und charismatisch, streicht mit knochiger Hand über Alfreds Haar.

„…wie ein Engel. Früher war ich nicht gläubig. Dann kam sie. Wie ein Engel. Nicht an den Papst glaube ich. An Wunder. Gesund war sie und quicklebendig. Nächtelang schlief ich nicht. Ob sie jetzt schläft? Oder rodelt? Im Schwimmbad döst? Wasser… - Wenn der Durst nicht wäre. Hunger ist schlimm. Aber Durst. Ich glaube trotzdem….“

„Keine Chance! Verdammt! Diese Hurensöhne!“ Paul tritt wütend gegen die Tür. Ein dumpfes Geräusch. „Warum ich? Warum jetzt?“

„Beherrschen Sie sich! Wut bringt uns nicht weiter! Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren.“ Der Mann klopft sich den Staub von der Brust, der stets von der niedrigen Decke rieselt.

Pauls Stimme überschlägt sich: „Was bilden Sie sich ein? Für wen halten Sie sich? Bastard! Mir sagt keiner, was ich tun oder lassen soll! Niemand! Auch Sie nicht. Dreckiger Sack!“

„General Wolf mein Name. Und Sie?“

„Militär? Ich wusste es! Verschwörung! Wenn schon Leute wie sie in die Sache verwickelt sind, ist Dreck am stecken. Schmutzige Wäsche, die nicht rein gewachsen werden kann, hä? Auf meine Kosten! Was habe ich verbrochen? Hä! Was?“

Paul läuft wie ein Tiger im Käfig hin und her. Nervös. Gereizt. Die Stimmung ist gespannt. Der kleine Raum ist stickig und stinkt nach Urin.

„Alfred, nicht einschlafen!“ Stumpfe Strähnen streicht die knochige Hand aus dem Gesicht.

Der General geht zu Paul, packt ihn am Hemd, das in Fetzen an seinem Körper hängt.

„Ein Wort noch, dann vergesse ich meinen kühlen Kopf, Sie Hitzkopf!“

Der Griff war fest, kraftvoll und eindringlich. Pauls Herz setzte einen Schlag aus. Gegen diesen Mann hätte er keine Chance. „Schon gut, Alter. Schon gut. Ich bin ruhig, Mann. Die Nerven, Sie wissen schon. Die Hitze. Der Staub in meinen Augen. Verdammt! Ich habe Familie. Kennen Sie die Angst, die bittere Unwissenheit? Verstehen Sie?“

„… Wasser. Glauben Sie? Engel. Himmel – Licht. Nein, Lichter. Lichte Lichter. Keine Schmerzen mehr. Eine Rodelbahn. Roter Schal…“

Schon lange sind keine Geräusche mehr von außen zu hören. Beunruhigende Stille.
„Er ist tot“, sagt Helena.

„Der arme Teufel hat es geschafft. Verschwindet hier einfach. So würde ich es auch machen, wenn ich könnte. Uns hier im Dreck sitzen lassen und zum Licht hin, zum roten Schal. Pah!“

„Beherrschen Sie sich, Paul! Sprechen Sie gefälligst mit ein wenig mehr Respekt von den Toten! Werden wir nun gänzlich zu Tieren? Verlieren wir jedweden Glauben, Anstand und Moral?“ Hauptmann Wolf beruhigt sich langsam wieder. Den letzten Satz sprach er leise, fast nicht zu hören. Fast nicht.

Helena: „Oh Gott! Warum? Wir werden sterben. Alle werden wir sterben. Seit Stunden oder Tagen – wie lange? Wie lange! – kommt keine Menschenseele. Krepiert ist er, verreckt! Warum? Wegen eines gebrochenen Beines! Wundkrampf, Todeskampf, vorbei!“

„Jetzt sind wir nur noch zu dritt. Fünfundzwanzig Prozent ihres Zieles haben sie erreicht. Wir aber dürfen sie nicht gewinnen lassen! Bewahren sie Fassung! Schonen sie ihre Reserven! Wir werden Kraft brauchen, Ausdauer, starke Nerven. Ein Zusammenbruch und alles eskaliert! Kühlen Kopf bewahren! Das ist wichtig, überlebenswichtig!“

„Er war der Techniker! Was nützt uns alles kämpfen noch? Auch wenn wir hier raus kommen, wenn wir die Stahltür aufbrechen und zum Computer gelangen können – was dann? Wir stünden vor einer Maschine, von der wir nichts verstehen!“
Paul verzweifelt. Er denkt an die Tage in Freiheit, an seine Frau, an seine Wohnung, sein Auto. An den Geschmack von Filetsteak. Und daran, dass er all das wohl nicht wieder sehen wird. „Wir sind verloren…“

Die Zeit verstreicht.

„Wir stimmen ab. Ganz demokratisch.“, sagt der General.

„Das können wir nicht tun. Das ist barbarisch! Wo ist ihre Hemmschwelle? Niemals, niemals werde ich’s tun!“

„Wollen Sie verrecken? Schauen Sie sich an: Haut und Knochen! Sie können kaum noch stehen, so schwach sind Sie!“ Auch der General fühlte seine Kräfte in letzter Zeit mehr und mehr schwinden.

„Nein!“, schrie Helena.

„Was meinen Sie, Paul?“

Paul schaute zu Boden. Er musste an den roten Schal denken. An Schnee. An Engel und Gott.
„Wir haben keine Wahl…“

Nach dem Essen fallen alle in einen tiefen Schlaf.

„Gott wird uns vergeben.“, versprach der General mit zittriger Stimme.

„Wie können Sie sich da so sicher sein?“, fragte Helena.

„Ich… ich weiß nicht. Aber ich spüre es.“ Er schaut ihr in die Augen, die nun trotz Müdigkeit ein wenig kräftiger aussahen.

„Was machen Sie eigentlich hier unten? Zum Vergnügen scheinen Sie nicht hier eingesperrt geworden zu sein.“ Paul hatte vor, sich ein Bild vom Ausmaß der Sache zu machen.

„Ich leitete einen großen Autokonzern und…“

„Was für einen? Sprechen Sie schon!“

„General Chryslers. Gleichzeitig forschten wir an diesem neuen Netzwerk. Minisonden, gesteuert durch kleine Computer, so klein wie Sandkörner, aber leistungsfähiger als die meisten Großrechner zusammen. Eine Revolution. Wir wollten Gutes damit bezwecken, weil wir…“

„Gutes? Na klar! Immer wollen alle nur Gutes bezwecken. Selbst Einstein wollte mit seinen Forschungen nur Gutes bezwecken! Krawooom! Hiroshima war hinüber. Ich fass es nicht. Wissenschaftliche Arroganz, purer Egoismus. Kleiner, schneller, leistungsstärker! Ihr habt doch alle einen an der Waffel!“

„Es war für medizinische Forschung gedacht. Denken Sie an die Möglichkeiten: Krebs hätte geheilt, AIDS besiegt werden können. Eine Menschheit ohne Krankheit…“

„Sie meine wohl, eine Menschheit, die reich genug ist, ohne Krankheit…“

„Hört jetzt auf! Das bringt uns nicht weiter.“ Der General holte tief Luft.

„Hier rumsitzen und auf den Tod warten etwa? Ich habe es satt!“ Paul ging zur Wand, an der ein kleiner Rinnsal hinunter lief und leckte daran. „Es wird immer weniger.“

Plötzlich erschüttert eine gewaltige Explosion den Raum, der sogleich in Staub gehüllt ist. Alle husten, ringen nach Luft, legen sich auf den Boden, die Hände über dem Kopf gefaltet. Nach einiger Zeit, als sich der Staub gelegt hat, stehen sie auf. Die Tür hängt schief.

„Seht! Ich glaube es kaum! Seht, die Tür…“ Helena rannte zur Tür. „Helft mir, vielleicht kriegen wir sie auf…“

Mit geeinter Kraft schaffen es die drei, die Tür aus den Angeln zu biegen.
Dahinter liegt ein Korridor. Balken liegen quer darin. Es ist schwierig, sich an ihnen vorbei zu drücken.

„Wir müssen die Zentrale finden. General …“

„Ich weiß den Weg. Hier lang. Schnell!“
Sie kämpfen sich durch den Korridor. Nach einer Biege befinden sie sich in einem anderen Korridor.

„Und Sie sind sich sicher, wohin wir müssen?“, fragt Paul.

„Ja, folgt mir.“

Nach einiger Zeit erreichen sie eine große Höhle.

„Da oben!“ Wolf zeigt nach oben. „Das ist die Zentrale“

Sie laufen einige Treppen hinauf. Keine Menschenseele ist zu sehen.

„Wo sind bloß alle?“, fragt Wolf.

„Es muss etwas Schreckliches passiert sein.“, bemerkt Helena.

„Kommt, wir müssen die Tür aufbrechen!“ Sie holen einen Balken und stoßen ihn gegen die Tür. Nach fünf Stößen gibt sie nach.

„Da ist er, der Computer! General, wir sind die einzigen, die überlebt haben. Wir müssen…“

Wolf erstarrt. „Aber das bedeutet eine Katastrophe…“

„General! Die Codes!“ Helena sieht ängstlich aus. Ihre Stimme aber klingt bestimmt.

„32kh5486h384 und lw8cc6j2b4k“

„Danke, General. Haben Sie besten Dank…“

Paul und Helena sind verschwunden, wie in Luft aufgelöst.

*

Ein Mann im schwarzen Anzug klopft dem leitenden Wissenschaftler neben ihm auf die Schulter. „Sie haben ganze Arbeit geleistet.“

„Blieb mir eine Wahl?“

„Natürlich nicht.“ Der Mann verließ den Raum. Er hatte, was er wollte. Die Mastercodes für die Raketen.
Deutschland würde erzittern und büßen!
„Wie ironisch manchmal die Geschichte ist“, denkt der Mann im schwarzen Anzug.
„Vor 100 Jahren tötete ein Mann Millionen Juden. Wie sich das Blatt doch wenden kann…“

 

Hallo jbk

die Idee, einer wichtigen person eine Situation vorzugauklen, in der sie dann informationen Preisgibt, ist an sich ja anicht neu, aber die sprachliche Umsetzung finde ich gelungen, obwohl die Geschichte relativ minimalistisch ausgeführt ist. Vielleicht solltest du überlegen ein paar mehr Details einzubauen, damit man erfährt wie der General denn in diese Lage gekommen ist.

ein Fehler der mir auffiel:

Hauptmann Wolf beruhigt sich langsam wieder.

darin ist erstens ein Zeitenfehler und zweitens hast du General Wolf degradiert ;)

grüße

porcupine

 

Hallo jbk,

dein Stil mag zwar minimalistisch sein, passt aber m. M. nach gut zur Handlung. Ich würde nur am Anfang gerne eine Beschreibung der Situation haben. So lässt du den Leser ganz allein, und man benötigt mindestens ein Viertel des Textes, um sich zurechtzufinden.

Das Ende habe ich nicht verstanden. Vor 100 Jahren tötete... Damit ist ja wohl Hitler gemeint. Und jetzt wendet sich das Blatt?! :silly:

Ein paar Kleinigkeiten noch:

Dreck am stecken
...am Stecken
Nach dem Essen fallen alle in einen tiefen Schlaf.
...fielen...
Selbst Einstein wollte mit seinen Forschungen nur Gutes bezwecken! Krawooom! Hiroshima war hinüber.
Ich bin zwar kein Physiker aber ich glaube zu wissen, dass Einstein ja nun wirklich nichts zur Entwicklung der Atombombe beigetragen hat. Er war reiner Theoretiker, noch dazu auf einem ganz anderen Gebiet (Nobelpreis für Photoeffekt).

Beste Grüße
knagorny

 

Hallo porcupine,

da haste aber im Archiev gestöbert, was?
Finde ich gut ;)

Wenn ich den Hauptmann gefunden habe, dann blase ich ihm erst einmal den Marsch! Sich einfach statt des Generals in die Geschichte zu schmuggeln - nene! Dem droht das Kriegsgericht, versprochen!

Führe gerade einige Stilexperimente durch, deshalb freue ich mich, dass die sprachliche Form überzeugt hat. Das Thema an sich kennt man ja aus vielen Agentenfilmen.
Muss auch zugeben, dass mir die Geschichte in der vorliegenden Rohfassung auch noch nicht so richtig gefällt. Kann sein, dass es an mangelnder Beschreibung des Ortes oder auch an der fehlenden Vorgeschichte liegt. Werde, wenn ich mal wieder mehr Zeit habe (nach dem Abi), mich auch mit dieser Geschichte eingehender auseinandersetzen.


Hi knagorny,

stell dir einfach vor, ein Mann macht Deutschland, in dem Hitler gemordet hat, für den Tod seiner Landsleute verantwortlich (weil er etwa ein rachsüchtiger Jude/ Sinti und Roma/ Amerikaner etc an der Macht ist).
Weil er jetzt die Codes hat, vernichtet er seinerseits Millionen von Menschen: deutschen Menschen.

Mit Einstein bin ich momentan leider auch überfragt. War eine, wie sagt man, spontane Assoziation. Vielleicht zuviel "Die Physiker" gelesen. :sicko:
Schau es aber nochmal nach.

Gruß Jan

 

Hi JBK,
hier servierst du uns aber eine feine Geschichte!
Der Stil gefällt mir – Ist mal was anderes und lässt sich trotzdem gut lesen. Man spürt trotz der detailarmen Beschreibungen die Ängste der Personen. Aber diese sind es auch, die den Schwachpunkt der Geschichte darstellen. Es sind blasse Karikaturen, die nur durch ihre Namen an Existenz gewinnen. Hätte man sie ein wenig mehr charakterisiert, dann wäre der Punkt mit dem Essen wesentlich grausiger rübergekommen und das Beklemmungsgefühl wäre auch drastischer ausgefallen.
Was die Pointe betrifft...darf man so was überhaupt. Ich mein – Wir leben hier in Deutschland; muss man da nicht über jedes Wort, was in diese Richtung geht, dreimal nachdenken...;)
Ich finde die deine Geschichte, wie Anfangs schon erwähnt, richtig gut und es macht eigentlich immer wieder Spaß etwas von dir zu lesen.

Liebe Grüße...
morti

 

Hi jbk

Ich hätte mir auch ein bisschen mehr Hintergrund gewünscht, ansonsten gefiel mir deine Geschichte gut.

Kleiner Kritikpunkt:

Alle husten, ringen nach Luft, legen sich auf den Boden, die Hände über dem Kopf gefaltet.
Das "auf den Boden legen" finde ich nicht so passend. Klingt, als ob sie sich gemütlich ins Bett legen würden oder so.
Mein Vorschlag: "Alle husten, ringen nach Luft, werfen sich auf den Boden, die Hände über dem Kopf gefaltet."
Oder: "Alle husten, ringen nach Luft, kauern sich auf den Boden, die Hände über dem Kopf gefaltet."


lg, Sabberbacke

 

Hi sabberbacke,

auch hier eine verspätete Antwort, ich weiß.
Jetzt, da Abi vorbei und einige Tage bis zum Studium noch verstreichen werden, führe ich mir auch diese Geschichte nochmal zu Gemüte.
Bin gespannt, ob noch etwas Hintergrundwissen auffindbar ist ;)

Lg
Jan

 

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